GEFANGEN IM NETZ
Da kann der RTL 2-Zuschauer nur müde gähnen: Schon vor mehr als 10 Jahren schickte der Schmuddelsender Ex-Bundesverteidigungsministergattin Stephanie zu Guttenberg auf die Jagd nach Kinderschändern: „Tatort Internet – Schützt endlich unsere Kinder“ hieß das trashige Reality-TV-Format.
Im Gegensatz zur reißerischen Schnappatmigkeit des deutschen Fernsehversuchs nähert sich der tschechische Dokumentarfilm „Gefangen im Netz“ dem schwierigen Thema Cybergrooming um einiges behutsamer an. Wie bei einer aufwändigen Spielfilmproduktion findet zunächst ein Casting statt. Drei mädchenhaft aussehende, aber volljährige Frauen sollen sich im Internet als 12-jährige Kinder ausgeben. Schon diese Szene zu Beginn des Films hat es in sich: da erzählen die jungen Schauspielerinnen, wie sie selbst als Jugendliche belästigt und im Netz gemobbt wurden. Die Grenze zwischen Inszenierung und Realität verwischt von Anfang an.
Aus im Studio nachgebauten Zimmern, von Kameras und einem Team Seelsorger begleitet, chatten die “Mädchen” dann mehrere Wochen mit Männern aller Altersgruppen. Dabei gilt es, die zuvor festgelegten Regeln zu beachten: So muss gleich zu Beginn auf das Alter hingewiesen werden, es darf nicht selbst angerufen werden und es darf nicht geflirtet, verführt oder provoziert werden.
Trotzdem fordern fast alle Männer die Mädchen früher oder später dazu auf, sich nackt vor der Kamera zu präsentieren oder zumindest explizite Fotos hochzuladen. Einige der Männer versuchen nach Erhalt, die Mädchen zu erpressen (die versendeten Nacktbilder sind im Photoshop entstanden).
Um das Aussehen der Täter zu verfremden, wurde ihnen in der Postproduktion eine runde, milchige Maske über das Gesicht gelegt, nur Augen- und Mundpartie bleiben klar zu erkennen. Ein gespenstischer Effekt, der die Täter noch bedrohlicher wirken lässt.
FAZIT
Finsteres, gut gemachtes Dokuexperiment. Mit über einer halben Millionen Zuschauern war “Gefangen im Netz” in Tschechien die erfolgreichste Kinoproduktion des Jahres 2020.
INFOS ZUM FILM
Originaltitel „V síti – caught in the net“
CR 2020
100 min
Regie Barbora Chalupová & Vít Klusák
Kinostart 24. Juni 2021
alle Bilder © Filmwelt