TÁR

TÁR

Kinostart 02. März 2023

Dass Cate Blanchett unlängst Filmpreisverleihungen als „Pferderennen“ kritisierte, ist alles andere als Neid einer Besitzlosen. Für ihre Titelrolle in dem Musikdrama TÁR bereits bei den Golden Globes und der Biennale als beste Darstellerin ausgezeichnet, ist die 53-Jährige erneut vielversprechende Anwärterin auf den Oscar.

Aufstieg und Fall einer Diva

Das Werk erzählt die fiktive Geschichte von Lydia Tár, die als erste Chefdirigentin der Berliner Philharmoniker das Vorspielen weiblicher Talente mit ihren privaten Interessen vermischt. Dieser Machtmissbrauch schadet auf Dauer sowohl ihrer ehelichen Beziehung zu Violinistin Sharon als auch ihrer einmaligen Karriere.

Die anspruchsvolle Rolle ist Cate Blanchett auf den Leib geschrieben, sie dominiert den Film. Ganze 158 Minuten lang. TÁR ist in vielerlei Hinsicht anzumerken, dass Todd Field in seiner dritten Regiearbeit nach 16-jähriger Schaffenspause ein immenses Mitteilungsbedürfnis hat: Künstlerporträt, #MeToo-Thematik, konzertantes Making-of, Selbstmord, Schulhofmobbing, Altersarmut – um nur einige Themen zu nennen. Das Ganze inszeniert in vermeintlich originalem Berliner Lokalkolorit zwischen vermülltem Neuköllner Hinterhof und stylish komponiertem Waschbeton-Refugium. Dazu Gustav Mahlers fünfte Symphonie und zeitgenössische Kompositionen von Hildur Guðnadóttir sowie eine Riege von Co-Darstellern, die das Universum der Lydia Tár bevölkern: Noémie Merlant, Julian Glover, Nina Hoss als erste Geige und vor allem viele echte Orchestermusiker.

Ein intellektuell anspruchsvoller Film, der beachtlichen Erfolg bei der Kritik, mutmaßlich weniger beim unterhaltungsaffinen Publikum haben dürfte. Dafür bietet TÁR buchstäblich zu viel des Guten.

Text: Anja Besch

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „TÁR“
USA 2022
158 min
Regie Todd Field

alle Bilder © Universal Pictures International Germany

WANN WIRD ES ENDLICH WIEDER SO SEIN, WIE ES NIE WAR

WANN WIRD ES ENDLICH WIEDER SO SEIN, WIE ES NIE WAR

seit 23. Februar 2023 im Kino

Eine etwas andere Kindheit: Josse wächst auf dem Gelände einer psychiatrischen Klinik auf. Für den jüngsten Sohn von Direktor Meyerhoff (Devid Striesow) gehören die körperlich und geistig Behinderten quasi zur Familie. Am besten schläft er, wenn er nachts die Schreie der Patienten hört. Vielleicht weil er selbst immer wieder Tobsuchtsanfälle bekommt. Dann setzen ihn die Eltern auf die Waschmaschine. Das Schleudern beruhigt den hypersensiblen Jungen.

Ergreifend und voll absurder Momente

Kann man die mittlerweile fünf autobiografischen Romane Joachim Meyerhoffs überhaupt verfilmen? Ja, man kann. Komisch, ergreifend und voll absurder Momente: Sonja Heiss hat die 70er-Jahre Stimmung des zweiten Bands der Lebenserinnerungen des Schauspielers punktgenau eingefangen. Dabei sind die Figuren nicht einmal so besetzt, wie man sich das vielleicht beim Lesen vorstellt. Aber dank der stimmigen Inszenierung und dem hervorragenden Spiel taucht man schnell in die Welt der schrägen Familie ein.

Joachim Meyerhoff erzählt in seinen Büchern keine klassisch aufgebaute Geschichte, sondern reiht Erinnerungen und Begebenheiten lose aneinander. Kleiner Wermutstropfen: Der Stoff hätte locker für eine Fernsehserie gereicht. Ganze viermal wechselt der Schauspieler des Josse: vom Kind zum Teenager bis zum jungen Mann. Das geht dann doch ein bisschen zu schnell. Trotzdem: WANN WIRD ES ENDLICH WIEDER SO, WIE ES NIE WAR ist die gelungene Verfilmung eines unverfilmbaren Buchs, hoffentlich mit Fortsetzung.

INFOS ZUM FILM

Deutschland 2023
116 min
Regie Sonja Heiss

alle Bilder © Warner Bros. Pictures Germany

BERLINALE 2023 – FINALE

BERLINALE 2023 – FINALE

Zeit für ein Fazit:
Frauen rauchen im Kino wie die Schlote (Golda, Ingeborg, etc.).
THE PLAYCE ist abscheulich.
Die S-Bahn fährt wieder.
Statt Schnee war Regen.
Baustellen sind kein Ersatz für Glamour.
Der diesjährige Wettbewerb hatte so viel anstrengendes Arthousekino wie noch nie.
Framerate hätte TÓTEM oder ROTER HIMMEL den goldenen Bären gegönnt.
Und tatsächlich gewonnen haben:

Goldener Bär FILM

Nicolas Philibert - SUR L'ADAMANT

Auch ein Dokumentarfilm unterliegt gewissen dramaturgischen Gesetzen und steht und fällt mit seinem Cast. Und der ist auf der Adamant leider nicht besonders interessant. Philiberts schlicht gemachter Film über das Narrenschiff bietet wenig Erhellendes für den Zuschauer. Der viel bessere Film mit (echten) Verrückten lief in der Sektion Generation: WANN WIRD ES ENDLICH WIEDER SO SEIN, WIE ES NIE WAR

roter himmel

Silberner Bär GROSSER JURYPREIS

Christian Petzold - ROTER HIMMEL

Im extra trüben Wettbewerb leuchtet ROTER HIMMEL besonders hell. Wie schon in UNDINE platziert Petzold moderne Charaktere in ein märchenhaftes Setting. Leichte Komödie mit Tiefgang.

Silberner Bär JURYPREIS

João Canijo - MAL VIVER

In dem 127 Minuten langen Filmjuwel aus Portugal giften sich fünf unsympathische Frauen in einem leer stehenden Hotel an. Am Ende sind alle tot. Leider ganz ohne Witz oder wenigstens Camp erzählt.

Silberner Bär REGIE

Philippe Garrel - LE GRAND CHARIOT

Schon interessant, wie man nach ein paar Tagen Berlinale einen Film über ein Puppentheater als beinahe mainstreamig wahrnimmt. Geballtes Arthouse in all seinen Schattierungen hinterlässt eben seine Spuren im Hirn.

Silberner Bär HAUPTROLLE

Sofía Oter - 20.000 SPECIES OF BEES

Das Featuredebüt der Spanierin Estibaliz Urresola Solaguren ist ein netter Kinderfilm mit reizender Besetzung und lobenswertem Anliegen. Die Nichthandlung vom Jungen, der ein Mädchen sein möchte, hätte sich locker in einem Drittel der Zeit wegerzählen lassen.

Silberner Bär NEBENROLLE

Thea Ehre - BIS ANS ENDE DER NACHT

Die bemühte Liebesgeschichte zwischen schwulem Cop und Transfrau bleibt von der ersten bis zur letzten Minute unglaubwürdig. Thea Ehres laienhaftes Spiel wurde mit dem Silbernen Bären ausgezeichnet.

Silberner Bär DREHBUCH

Angela Schanelec - MUSIC

Echtes Kopfkino. Im Sinne von: total verkopft. Der silberne Bär für das beste Drehbuch. Ausgerechnet für einen Film, den wirklich niemand versteht.

Silberner Bär KAMERA

Hélène Louvart - DISCO BOY

DISCO BOY ist ein verfilmter Fiebertraum. Es ist alles seltsam im Langfilmdebüt des italienischen Regisseurs Giacomo Abbruzzese. Aber seltsam heißt in diesem Fall gut.

BERLINALE 2023 – TAG 9

BERLINALE 2023 – TAG 9

Frei nach Heribert Faßbender: „Sie sollten die Berlinale nicht zu früh abschalten. Es kann noch schlimmer werden.“ Machen wir uns nicht länger was vor, Carlo Chatrian verfolgt als künstlerischer Leiter einen perfiden Plan: Er will aus dem ehemalige A-Festival ein Autorenfilmfestival machen. Wie er das anstellt? Ganz einfach: Filme, die bisher in der unschaubaren Sektion Forum liefen, werden jetzt im Wettbewerb gezeigt. Man kann nur hoffen, dass der allgemeine Frustaufschrei über die fortschreitende Verkopfung nicht ungehört bleibt. Rettet die Unterhaltung!

WETTBEWERB

BIS ANS ENDE DER NACHT

Der Pressetext macht Angst: „Ein gewiefter Plot, der pures Oszillieren ist. Ein geistreiches Vexierbild des Emo-Intellekts. Ein Film wie eine Möbiusschleife aus Genre- und Autorenkino.“
Komplizierte Worte für eine einfache Geschichte: Robert ist verdeckter Ermittler. Über die fingierte Beziehung mit der Transfrau Leni soll er das Vertrauen eines Internet-Drogenhändlers gewinnen.

BIS ANS ENDE DER NACHT enttäuscht auf mehreren Ebenen. Die bemühte Liebesgeschichte zwischen dem schwulen Cop und Leni bleibt von der ersten bis zur letzten Minute unglaubwürdig. Es mag an der mangelnden Chemie oder dem laienhaften Spiel von Thea Ehre liegen. Auch als Krimi ist es nur durchschnittliche Tatortware. Ein paar witzige Dialoge gehen in peinlichen, tiefsinnig gemeinten Beziehungsgesprächen unter. Positiv zu vermerken an Christoph Hochhäuslers oszillierender Möbius-Emo-Schleife: Sie hat mehr Handlung als alle anderen Wettbewerbsfilme zusammen und Timocin Ziegler ist sehr überzeugend als harter Bulle mit weichem Kern.

Deutschland 2023
123 min
Regie Christoph Hochhäusler 
Bild © Heimatfilm

WETTBEWERB

ART COLLEGE 1994

Die Kraft der Suggestion: Wenn alle, die ihn schon gesehen haben, behaupten, ART COLLEGE 1994 sei der schlechteste Film im Wettbewerb, dann sind die Erwartungen in den Keller geschraubt. Aber Überraschung: Liu Jians 2D-Zeichentrickfilm über ein paar Slacker im China der frühen 90er-Jahre ist besser als gedacht.

Es ist der zweite Zeichentrickfilm in diesem Wettbewerb. Während SUZUME ein echter crowd pleaser mit bunten Bildern und überwältigender Tonspur ist, erinnert ART COLLEGE 1994 eher an eine Fingerübung des Slackerspezialisten Richard Linklater, nur eben auf Chinesisch.

Der Filmemacher und Maler Liu Jian erzählt von seiner eigenen Jugend zu einer Zeit, als sich das Reich der Mitte langsam dem Westen öffnet. Ein Film von einem ehemaligen Kunststudenten über Kunststudenten? Klar, das ist schon sehr selbstreferenziell. Und nach einer Stunde beginnt sich die ereignislose Handlung mit Dialogen über Existenzialismus, das Leben und Mädchen zu ziehen. Zum Glück wurde ART COLLEGE 1994 im ungemütlichen Berlinale Palast gezeigt und nicht im herrlich bequemen CinemaxX. Sonst wäre man vielleicht doch noch weggeratzt.

China 2023
118 min
Regie Liu Jian
Bild © Nezha Bros. Pictures Company Limited, Beijing Modern Sky Culture Development Co., Ltd

WETTBEWERB

SUR L’ADAMANT

Dokumentarfilme haben im Wettbewerbsprogramm Tradition, 2018 gewann TOUCH ME NOT sogar den Goldenen Bären. Im besten Fall entlässt eine gut gemachte Doku den Zuschauer ein bisschen schlauer in die Welt. Dass seit 2010 mitten in Paris ein Schiff auf der Seine ankert, auf dem psychisch Kranke behandelt werden – wer hätte es gewusst? In seiner Langzeitbeobachtung lässt Regisseur Nicolas Philibert die Patienten der Tagesklinik zu Wort kommen.

Auch ein Dokumentarfilm unterliegt gewissen dramaturgischen Gesetzen und steht und fällt mit seinem Cast. Und der ist auf der Adamant leider nicht besonders interessant. Philiberts schlicht gemachter Film über das Narrenschiff bietet wenig Erhellendes für den Zuschauer. Wem der Sinn nach echtem Wahnsinn steht, dem sei ein Spaziergang durch Berlins Straßen an jedem x-beliebigen Tag empfohlen.

Frankreich / Japan 2022
109 min
Regie Nicolas Philibert
Bild © TS Production / Longride

BERLINALE 2023 – TAG 8

BERLINALE 2023 – TAG 8

Vorletzter Tag! Ist es nur Einbildung, oder dauert die Berlinale in diesem Jahr länger als irgendeine Berlinale jemals zuvor. Vielleicht liegt es auch an der Wettbewerbsauswahl. Wenigstens hat ROTER HIMMEL gestern etwas Hoffnung gemacht. Heute gibts drei Filme mit drei Sternen. Ein durchschnittlicher Tag auf einer durchschnittlichen Berlinale.

WETTBEWERB

LIMBO

Nein, das ist keine Fortsetzung von BREAKING BAD und das ist auch nicht Walter White, der da in den australischen Outbacks an seinem Wagen lehnt. Travis Hurley heißt der Doppelgänger und macht sich daran, den Fall einer vor 20 Jahren ermordeten Aborigines-Frau neu aufzurollen. Er stößt auf eine Mauer des Schweigens, denn Hurley ist weiß und die Wahrheit kompliziert.

 Zum Einschlafen braucht er abends eine Spritze Heroin. Simon Baker spielt den stoischen Cop als gebrochene Figur. Knochentrocken, wie die Landschaft, in der er ermittelt. Regisseur Ivan Sen hat die karge, von Opal-Minen zerklüftete Wüste in strengen Schwarz-Weiß-Bildern wirkungsvoll in Szene gesetzt. LIMBO funktioniert als humorbefreite Version eines Coen-Brothers-Films, als Cop-Movie und als Porträt einer verlorenen Gesellschaft.

Australien 2023
95 min
Regie Ivan Sen
Bild © Bunya Productions

WETTBEWERB

PAST LIVES

Das kennt man aus der Kindheit: Eltern ziehen um, und schwupps verschwindet der beste Freund oder die beste Freundin aus dem Leben. So geht es auch Hae Sung und Nora, als deren Familie aus Südkorea emigriert. 20 Jahre später treffen sich die Kindheitsfreunde in New York wieder, wo Nora mit ihrem amerikanischen Mann lebt.

Das Publikum liebt PAST LIVES – in Berlin wie in Sundance. Und tatsächlich, beim Thema verpasste Chancen kann sich wohl jeder wiederfinden… wäre der Jugendfreund vielleicht doch der bessere Ehepartner gewesen? Aber niemand ist umsonst da, wo er ist und hat den Menschen geheiratet, den er geheiratet hat – so das lapidare Fazit des Films. Für einige Tränen reichte es am Ende. Sowohl auf der Leinwand – als auch im Publikum.

USA 2022
105 min
Regie Celine Song
Bild © Jon Pack

SPECIAL GALA

TÁR

#MeToo andersrum: TÁR erzählt die fiktive Geschichte von Lydia Tár (Cate Blanchett), die als erste Chefdirigentin der Berliner Philharmoniker das Vorspielen weiblicher Talente mit ihren privaten Interessen vermischt. Dieser Machtmissbrauch schadet auf Dauer sowohl ihrer Ehe als auch ihrer Karriere.

Die anspruchsvolle Rolle ist Cate Blanchett auf den Leib geschrieben, sie dominiert den Film. Ganze 158 Minuten lang. TÁR ist in vielerlei Hinsicht anzumerken, dass Todd Field in seiner dritten Regiearbeit nach 16-jähriger Schaffenspause ein immenses Mitteilungsbedürfnis hat: Künstlerporträt, #MeToo, konzertantes Making-of, Selbstmord, Schulhofmobbing, Altersarmut – um nur einige Themen zu nennen. Ein intellektuell anspruchsvoller Film, der beachtlichen Erfolg bei der Kritik, mutmaßlich weniger beim unterhaltungsaffinen Publikum haben dürfte.

USA 2022
158 min
Regie Todd Field
Bild © Universal Pictures International Germany

WETTBEWERB

SUZUME

Ein junges Mädchen, eine sprechende Katze und ein gelber Hocker sind die Stars von Makoto Shinkais Wettbewerbsfilm. Die 17-jährige Suzume öffnet versehentlich die Tür zu einer anderen Welt. Überall in Japan öffnen sich daraufhin weitere Türen, hinter denen sich ein todbringender Riesenwurm verbirgt.

Nach Tagen des Gemeckers über zu intellektuelles Kunstkino im Wettbewerb nun dieser animierte Actionkracher aus Japan. Mit Schauspielern aus Fleisch und Blut könnte das auch die neueste Produktion der Marvel-Studios sein. Animefans werden begeistert sein, für normale Zuschauer erschließt sich der Reiz der riesenäugigen, nasenlosen Zeichentrickfiguren nur bedingt. SUZUME ist großer Kitsch, schön bunt, hat Humor und beeindruckt mit epischen Bildern. Was das alles mit der Suse zu tun hat, bleibt ein Rätsel.

Suse

Japan 2022
121 min
Regie Makoto Shinkai
Bild © 2022 „Suzume“ Film Partners

BERLINALE 2023 – TAG 7

BERLINALE 2023 – TAG 7

Morgens auf dem Weg zum Potsdamer Platz benglisht die Tramfahrerin die Fahrgäste an: „Wir kriejen die Tür nich zu, wennse am Haltepush klebn!“ Haltepush für Stop-Knopf! Das hat sich bestimmt die BVG-Marketingabteilung ausgedacht. Nie war Berlin internationaler!

WETTBEWERB

roter himmel

ROTER HIMMEL

Christian Petzold sei Dank – endlich ein Film, der mehr als nur okay ist. Im extra trüben Wettbewerb leuchtet ROTER HIMMEL besonders hell. Ein Top-Favorit für den Goldenen Bären.

Zwei Freunde, der eine Fotograf, der andere Schriftsteller, machen ein paar Tage Urlaub an der Ostsee. In ihrem Ferienhaus treffen sie Nadja, die sich nachts mit Devid (im Osten gab es nicht nur Maiks), dem örtlichen Rettungsschwimmer vergnügt. Vier junge Menschen, von denen drei Spaß haben, nur Leon, der Schriftsteller quält sich. Die gute Laune der anderen lässt ihn immer mürrischer werden. Es ist Sommer, um das Haus herum brennt der Wald, der Himmel färbt sich rot, bald regnet es Asche.

ROTER HIMMEL ist der zweite Teil einer Trilogie. Wie schon in UNDINE platziert Petzold moderne Charaktere in ein märchenhaftes Setting. Diesmal ins deutscheste aller deutschen Märchensettings: den Wald. Die Symbolik des alles verschlingenden Feuers für die Qualen des Autors erdrückt dabei nicht, der Ton bleibt leicht. Dazu eine ausgezeichnete Besetzung, vor allem Paula Beer als lebensfrohe Nadja und Thomas Schubert als miesepetriger Leon.

Deutschland 2023
102 min
Regie Christian Petzold
Bild © Christian Schulz / Schramm Film

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20.000 SPECIES OF BEES

Der achtjährige Aitor ist genervt. Ständig wird es mit seinem Namen angeredet. Viel lieber hätte er einen Mädchennamen. Im Sommerurlaub auf dem Land vertraut sich das Kind seiner bienenzüchtenden Tante an.

Die Berlinale neigt sich langsam ihrem Ende entgegen und es gab bisher noch keinen genderfluiden Film im Wettbewerb! Auftritt der 20.000 Bienen. Das Featuredebüt der Spanierin Estibaliz Urresola Solaguren ist ein netter Kinderfilm mit reizender Besetzung und lobenswertem Anliegen. Die Nichthandlung vom Jungen, der ein Mädchen sein möchte, hätte sich locker in einem Drittel der Zeit wegerzählen lassen.

Originaltitel „20.000 especies de abejas“
Spanien 2023
125 min
Regie Estibaliz Urresola Solaguren
Bild © Gariza Films, Inicia Films

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MAL VIVER

MAL VIVER heißt auf Deutsch übersetzt „Kaum Leben“. Das ist es auch, was der Zuschauer schon nach wenigen Minuten empfindet, der diesen Wettbewerbsbeitrag sehen darf. Worum gehts? Um Mütter, die nicht fähig sind, ihre Töchter zu lieben, die wiederum nicht fähig sind, Mütter zu sein.

In dem 127 Minuten langen Filmjuwel aus Portugal giften sich fünf unsympathische Frauen in einem leer stehenden Hotel an. Am Ende sind alle tot. Leider ganz ohne Witz oder wenigstens Camp erzählt.

Portugal / Frankreich 2023
127 min
Regie João Canijo
Bild © Midas Filmes

BERLINALE SPECIAL

GOLDA

Kippen und Kaffee. Die notorische Kettenraucherin Golda Meir war die erste Frau im israelischen Ministerpräsidialamt. GOLDA erzählt vom Jom-Kippur-Krieg 1973. Unter Meirs Führung gewann Israel zwar gegen Ägypten und Syrien, doch Tausende bezahlten dafür mit ihrem Leben.

Ein ordentlich gemachtes Geschichtsdrama, wie es sie dutzendfach gibt. GOLDA ist ein klassischer Faktenfilm, ohne allzu viel Experimentierfreude inszeniert. Die größte Kritik: Regisseur Guy Nattiv vertraut nicht auf Helen Mirrens Schauspielkunst und vergräbt ihr Gesicht unter einer dicken Latexschicht. Als ob sich die Zuschauer auf Golda Meirs Kampf um Israel nur dann einlassen könnten, wenn die Schauspielerin das Aussehen des Originals bis in die letzte Falte imitiert. Höhepunkt des Mummenschanzes ist eine FORREST GUMP-artige Szene, in der die verkleidete Helen Mirren mit echten Archivaufnahmen verschmilzt. Gumminase und technische Spielereien lenken von der eigentlich spannenden Geschichte ab.

GB 2022
100 min
Regie Guy Nattiv
Bild © Jasper Wolf

BERLINALE 2023 – TAG 6

BERLINALE 2023 – TAG 6

Seltsam: Seit Tagen verschickt die Presseabteilung der Berlinale Mails, in denen dezidiert die Ankunftszeiten diverser Berlinale-VIPs aufgelistet sind. Der und der Schauspieler landet mit Flug soundso um 10.10 Uhr am BER. Der und der Regisseur kommt um 16.50 Uhr mit dem Zug am Hauptbahnhof an. Fehlen nur das Gleis und die Wagennummer. Ist es eine Aufforderung, die VIPs abzuholen, damit sie sich nicht in der S- und U-Bahn-gestörten Stadt verlieren? Bei der Qualität des diesjährigen Wettbewerbs wäre Promis durch Berlin fahren wahrscheinlich unterhaltsamer.

WETTBEWERB

LE GRAND CHARIOT

Der Große Wagen ist nicht nur ein Sternbild, er ist auch ein kleines Theater. Philippe Garrel erzählt die Geschichte einer Familie von Puppenspielern: die erwachsenen Geschwister Louis, Martha und Lena, ihr Vater, der die Truppe leitet, und die Großmutter, die die Puppenkostüme näht. Eines Tages stirbt der Vater während einer Aufführung. Seine Kinder müssen entscheiden, ob und wie es mit dem Puppentheater weitergeht.

Schon interessant, wie man nach ein paar Tagen Berlinale einen Film über ein Puppentheater als beinahe mainstreamig wahrnimmt. Geballtes Arthouse in all seinen Schattierungen hinterlässt eben seine Spuren im Hirn. Regisseur Philippe Garrel steht nicht nur selbst vor der Kamera, er hat auch gleich seine eigenen drei Kinder als eben diese besetzt. Eine Familiengeschichte von einer echten Familie gespielt. LE GRAND CHARIOT erfindet das Rad nicht neu, ist aber ein liebenswerter Blick auf Kunst und Künstlerseelen.

Frankreich / Schweiz 2022
95 min
Regie Philippe Garrel
Bild © Benjamin Baltimore / 2022 Rectangle Productions – Close Up Films – Arte France Cinéma – RTS Radio Télévision Suisse – Tournon Films

WETTBEWERB

MUSIC

Echtes Kopfkino. Im Sinne von: total verkopft. Achtung, jetzt wirds anspruchsvoll: Angela Schanelecs Film rätselt sich elliptisch durch den verpuzzelten Mythos des Ödipus (steht jedenfalls so im Presseheft). Es geht von den 1980er-Jahren bis ins Heute, von den Stränden Griechenlands bis an die Seen um Berlin. Dazu spielt der Kassettenrekorder Barockmusik.

Bitte jemand anderen nach seiner/ihrer Meinung fragen. Framerate muss sich wegen erwiesener Ignoranz enthalten. 2019 wurde hier Angela Schanelecs letzter Berlinale-Film ICH WAR ZUHAUSE, ABER… komplett verrissen und gewann anschließend den Silbernen Bären für die beste Regie.

Deutschland / Frankreich / Serbien 2023
108 min
Regie Angela Schanelec
Bild © faktura film / Shellac

HOMMAGE

DIE FABELMANS

Cecil B. DeMilles THE GREATEST SHOW ON EARTH öffnet dem kleinen Sam die Augen, besonders eine Kollisionsszene mit zwei Zügen und einem Auto. Zu Hause stellt er das Unglück mit Spielzeug nach. Seine Mutter bringt ihn auf die Idee, das Ganze zu filmen, damit er es sich so oft ansehen kann, wie er will. Voilà. Das erste Werk des Jungregisseurs ist fertig.

Steven Spielberg erzählt seine eigene Kindheit und Jugend, inklusive gescheiterter Ehe seiner Eltern. Im Januar diesen Jahres gewann THE FABELMANS den Golden Globe als bestes Drama. Er habe sich lange nicht getraut, so eine persönliche Geschichte zu erzählen, sagt der Regisseur bei der Preisverleihung. Quatsch, denn den viel persönlicheren Film über die Ängste seiner Kindheit hat er schon vor 40 Jahren gedreht: ET.

DIE FABELMANS wurde gestern als Deutschlandpremiere im Rahmen der Hommage zu Ehren Steven Spielbergs gezeigt. Die ausführliche Framerate-Kritik erscheint zum Kinostart am 8. März.

Originaltitel „The Fabelmans“
USA 2022
151 min
Regie Steven Spielberg
Bild © Universal Pictures International Germany

PANORAMA

SAGES FEMMES

Es ist fast, als hätte es zu SAGES FEMMES mehrere Drehbücher gegeben. Zum einen zeigt das Drama den hyperrealistisch inszenierten Alltag auf einer Entbindungsstation in Frankreich. Zwischen überfüllten Fluren, Kreißsälen und Monitoren haben die beiden Neuen, Sofia und Louise einen holprigen Start. In der zweiten Hälfte des Films erzählt Regisseurin Léa Fehner dann die recht konventionelle Geschichte einer obdachlosen jungen Mutter, die von den Hebammen in ihre WG aufgenommen wird. Dieser Teil ist weitaus weniger interessant als die Arbeitshölle im Kreißsaal.

Nichts für schwache Nerven: Zwischen echter Geburt, Kaiserschnitt und Tod fließen nicht nur auf der Leinwand die Tränen. Am Ende dann reale Aufnahmen von Hebammen, die für bessere Arbeitsbedingungen und mehr Lohn demonstrieren. Vor allem in der starken ersten Hälfte zeigt SAGES FEMMES die Auswüchse eines völlig unterfinanzierten Gesundheitssystems – unbeschönigt und mitreißend.

Frankreich 2023
99 min
Regie Léa Fehner
Bild © Geko Films

PANORAMA

ALL THE COLOURS OF THE WORLD ARE BETWEEN BLACK AND WHITE

Eine der vielen Farben zwischen Schwarz und Weiss ist Grau. Und davon gibt es ja bekanntermaßen viele Schattierungen. Grau in allen Abstufungen kann es dem Gemüt auch bei diesem gut gemeinten, aber freudlosen Panorama-Beitrag werden.

Halb zog es ihn, halb sank er hin. Bambino lassen die Avancen seiner Nachbarin kalt, denn sein Herz schlägt für den charismatischen Bawa. Gefährlich, denn in Nigeria ist Homosexualität ein Tabu. ALL THE COLOURS… ist ein wichtiger Film mit Anliegen, doch leider ist die Geschichte von der verbotenen Männerliebe unbeholfen inszeniert und auch nicht besonders gut gespielt. Eher quälend.

Nigeria 2023
93 min
Regie Babatunde Apalowo
Bild © Polymath Pictures

PANORAMA

PERPETRATOR

Die Zutaten für ein echtes C-Movie sind alle da: 80er-Jahre Synthie-Musik à la John Carpenter, Overacting plus abstruse Story: Die toughe Jonny bekommt von ihrer Tante zum 18. Geburtstag einen Kuchen nach magischem Familienrezept und macht nach Verzehr eine radikale Metamorphose durch.

Hätte man das alles nicht gefühlt schon hundert Mal in besser gesehen, wäre man vielleicht geschockt. So aber ist Jennifer Reeders Film nur ein müder Aufguss von David Cronenbergs Body Horror gemischt mit soapigen CHILLING ADVENTURES OF SABRINA-Elementen.

USA 2023
100 min
Regie Jennifer Reeder
Bild © WTFilms

BERLINALE 2023 – TAG 5

BERLINALE 2023 – TAG 5

Am Potsdamer Platz hat nach vierhundertjähriger Umbauzeit THE PLAYCE eröffnet. Die Vorkriegsgeneration wird sich erinnern, da waren mal die Arkaden, eine Shoppingmall mit den üblichen Verdächtigen von H&M bis MediaMarkt, die so auch in Gelsenkirchen hätte stehen können. Nun also THE PLAYCE. Eine Wortschöpfung aus Play und Place: ein Spielplatz. Dazu passt, dass sich im 1. OG eine „Arcade“ befindet, eine lärmende Spielhalle, als hätte man sich direkt ins Amerika der 1980er-Jahre zurückgebeamt. Auch der Sinn des gigantischen NBA-Stores im Erdgeschoss erschließt sich wohl nur echten Basketball-Fans. Viele gibts davon scheinbar nicht – bisher überwiegt die Verkäuferzahl die der Kundschaft. Daneben eröffnet demnächst ein Barbie-Mattel-Store. Hinter der Amerikanisierung scheint System zu stecken. Hauptanziehungspunkt soll der gigantische Food-Hub sein, erdacht und umgesetzt von – richtig – einem Amerikaner, der mit dem gleichen Konzept in Prag angeblich Erfolg feiert. Man mag es kaum glauben. Wenn es in der Hölle eine Kantine gibt, dann sieht sie so aus. Ein riesiges, fensterloses Verlies mit 22 Restaurants und dem Charme einer Tiefgarage. Was das alles mit der Berlinale zu tun hat? Einiges, denn die Zeit zwischen den Filmen will gefüllt werden, am liebsten mit Nahrungsaufnahme. Nur kann einem bei all der neuen Trostlosigkeit der Appetit vergehen.

WETTBEWERB

TÓTEM

Tona hat Geburtstag, es wird wohl sein letzter sein. Der junge Vater ist todkrank. Familie und Freund treffen sich zu einem Abschiedsfest. Mittendrin: Tonas siebenjährige Tochter Sol.

Der mexikanischen Autorin und Regisseurin Lila Avilés gelingt das Kunststück, ihren Film und vor allem die junge Schauspielerin Naíma Sentíes absolut authentisch und mit großer Natürlichkeit in Szene zu setzen.

TÓTEM ist eine Liebeserklärung an die Familie, das Leben und den Tod. Keine ganz leichte Kost, aber wer sich darauf einlässt, wird mit einem spirituellen, berührenden und oft komischen Film belohnt. Bis jetzt der stärkste Wettbewerbsbeitrag.

Mexiko / Dänemark / Frankreich 2023
95 min
Regie Lila Avilés
Bild © Limerencia

PANORAMA

PASSAGES

Rainer Werner Fassbinder is back! In körperlich besserer Verfassung zwar, aber mit ähnlich unausstehlichem Verhalten hinter der Kamera. RWF heißt hier Tomas (Franz Rogowski) und ist ein deutscher Regisseur in Paris. Schwul. Eigentlich. Denn nach dem letzten Drehtag verbringt er die Nacht mit einer jungen Frau (Adèle Exarchopoulous). Er beichtet den Seitensprung am nächsten Morgen seinem Ehemann (Ben Whishaw). Doch dann wird aus der Affäre mehr. Nicht nur Tomas muss sich entscheiden, wie es weitergehen soll.

Famos, mit welchem Tempo Regisseur Ira Sachs durch die Geschichte saust. Es wird zwar genrebedingt viel geredet, aber nie zu viel. Kein Todlabern – wenn das Nötigste gesagt ist, prescht die Handlung weiter. Das macht PASSAGES extrem kurzweilig. Wo Ben Whishaw draufsteht, ist selten was Schlechtes drin. So auch hier. Der Brite ist ein Garant für gute Filme, von PADDINGTON bis BOND (er spielt in der Daniel Craig-Ära den Q). Glänzend auch, wie Franz Rogowski absolut glaubwürdig zwischen unsympathischem Kotzbrocken, sensiblem Mann und genervter Zicke wechselt.

Frankreich 2023
91 min
Regie Ira Sachs
Bild © SBS Poductions

PERSPEKTIVE DEUTSCHES KINO

GERANIEN

Schauspielerin Nina kehrt in ihre Heimatstadt zurück, um ihre geliebte Großmutter zu beerdigen. Trotz organisatorischer Probleme und emotionaler Schwierigkeiten mit ihrer entfremdeten Mutter findet die Familie in ihrer unterschiedlich ausgelebten Trauer (fast) zueinander. Und dann muss sich Nina noch entscheiden: Charakterschauspielerin bleiben oder doch eine gut bezahlte Rolle im TRAUMSCHIFF annehmen?

GERANIEN ist ein konventionell gemachter, aber durchaus liebenswerter Film. Regisseurin Tanja Eden hat die ehrliche Art der Ruhrpottler inklusive Trinkhallen und spießiger Reihenhauskultur glaubwürdig eingefangen. Durchweg gut gespieltes Drama mit komischen Elementen.

Deutschland 2023
84 min
Regie Tanja Eden
Bild © Claudia Schroeder

PANORAMA

HEROICO

Untergebene anschreien, nach oben buckeln und nach unten treten. Diese Verhaltensmuster kennt man sonst nur von der Unternehmenskultur eines großen Automobilkonzerns, in HEROICO ist es der Alltag in einer Kaserne. Der 18-jährige Luis verpflichtet sich als Soldat, hauptsächlich wegen der Krankenversicherung für sich und seine kranke Mutter. Sein neues Leben an der nationalen Militärakademie Mexikos wird zur Qual.

Regisseur David Zonanas Film beginnt als klassisches Soldaten-Ausbildungsdrama, wie man es seit FULL METAL JACKET schon oft gesehen hat. Doch nach und nach entwickelt sich die Geschichte zu einem Horrortrip. Was ist wahr, was ist Einbildung? Alptraum und Realität vermischen sich immer mehr. Guter Film und ein weiterer Beweis, dass am Soldatenleben rein gar nichts schön ist.

Mexiko / Schweden 2023
88 min
Regie David Zonana
Bild © Teorema

BERLINALE 2023 – TAG 4

BERLINALE 2023 – TAG 4

Echte Fans behaupten, nur im Berlinale-Palast käme wahres Festivalfeeling auf. Ihr Ahnungslosen. Im frisch renovierten CinemaxX gibt es neue, wunderbar weiche Ledersessel, die sich fast in Liegeposition fahren lassen. Herrlich! Fast wünscht man sich, der nächste Film möge schön langweilig sein, um sich einem erquickenden Schlummer hinzugeben.

WETTBEWERB

DISCO BOY

Gar nicht zum Einschlafen, aber trotzdem traumhaft: DISCO BOY.

Aleksei, ein junger Belarusse auf der Flucht, schließt sich der Fremdenlegion an, um die französische Staatsbürgerschaft zu bekommen. Irgendwo im Nigerdelta verteidigt Jomo als Aktivist im bewaffneten Kampf sein Dorf. Aleksei ist Soldat, Jomo Guerillakämpfer. In einem weiteren sinnlosen Krieg verflechten sich ihre Schicksale.

Wer zu den Glücklichen (oder Unglücklichen) zählt, die nachts lebhaft träumen, dürfte das kennen: Alles wirkt real, nichts macht Sinn und trotzdem ergibt alles einen Sinn. DISCO BOY ist ein verfilmter Fiebertraum. Es geht um Männlichkeit (wie so oft bei dieser Berlinale), Traumata, geistige Verschmelzung und Tanz. Die fragmentarisch erzählte Geschichte wird von einem großartigen Franz Rogowski getragen, schon sein zweiter beeindruckender Auftritt bei dieser Berlinale. Dazu ein ebenso befremdlicher wie grandios passender Elektroscore. Es ist alles seltsam im Langfilmdebüt des italienischen Regisseurs Giacomo Abbruzzese. Aber seltsam heißt in diesem Fall gut.

Frankreich / Italien / Belgien / Polen 2023
91 min
Regie Giacomo Abbruzzese
Bild © Films Grand Huit

PANORAMA

SISI UND ICH

Sisi hier, Sisi da, Sisi wo man hinschaut. Ihre kaiserliche Omnipräsenz gibt sich schon wieder die Ehre. Neben diversen Netflix- und RTL-Serien war zum Thema zuletzt der österreichische Oscarbeitrag CORSAGE im Kino zu sehen.

Irma Gräfin von Sztáray bewirbt sich als Hofdame von Kaiserin Elisabeth von Österreich-Ungarn. Doch das Casting ist nicht ohne: Erst schlägt ihr die gestrenge Mutter die Nase blutig, dann wird sie wie ein Stück Vieh untersucht und verhört. Endlich auserwählt, kommen sich die Gräfin und die Kaiserin auf Sisis Sommersitz auf Korfu schnell nah.

SISI UND ICH ist all das, was CORSAGE gerne gewesen wäre. Eine wilde Neuinterpretation des vielerzählten Mythos. Grotesk und sehr komisch. Susanne Wolff und Sandra Hüller sind schlichtweg grandios, Locations und Kostüme erlesen, und das Ganze wird von einem überraschend modernen Soundtrack zwischen Nico und Portishead begleitet. Sehr gelungen.

Deutschland / Schweiz / Österreich 2023
132 min
Regie Frauke Finsterwalder
Bild © Bernd Spauke

WETTBEWERB

INGEBORG BACHMANN - REISE IN DIE WÜSTE

Apropos CORSAGE, bzw. Vicky Krieps. Die spielt die Hauptrolle in Margarethe von Trottas Wettbewerbsbeitrag INGEBORG BACHMANN – REISE IN DIE WÜSTE.

Ingeborg Bachmann und Max Frisch. Die beiden weltberühmten Autoren begegnen sich 1958, verlieben sich, ziehen zusammen, ertragen sich bald nicht mehr. Er neidet ihr den Ruhm; Sie ist genervt von seinem Schreibmaschinengeratter und seiner Eifersucht sowieso. Bachmann zieht nach Rom, verfällt immer mehr ihrer Tabletten- und Alkoholsucht. Bei einer Reise mit ihrem Freund Adolf Opel in die Wüste reflektiert sie ihre gescheiterte Beziehung zu Frisch.

Der Tagesspiegel schreibt über den chinesischen Wettbewerbsbeitrag THE SHADOWLESS TOWER: „Die Kamera scheint eher zufällig dabei zu sein“. Bei INGEBORG BACHMANN – REISE IN DIE WÜSTE ist das genaue Gegenteil der Fall. Alles wirkt ausdrücklich für die Kamera inszeniert und ausgestattet. Den Statisten stehen die Regieanweisungen ins Gesicht geschrieben, die 50er-Jahre-Welt ist im Studio nachgebaut. Vicky Krieps spielt die draufgängerische Autorin mit gebremster Energie, dafür mit Kostümwechsel in jeder Szene. Ronald Zehrfeld ist nach anfänglicher Irritation als pfeifenrauchender Max Frisch eine erstaunlich überzeugende Besetzung. Margarethe von Trottas unmoderne Ingeborg-Bachmann-Hommage ist ein Film nur für Erwachsene, sehr ernst, sehr maniriert.

Schweiz / Österreich / Deutschland / Luxemburg 2023
110 min
Regie Margarethe von Trotta
Bild © Wolfgang Ennenbach

PERSPEKTIVE DEUTSCHES KINO

KNOCHEN UND NAMEN

Schauspieler Boris und Schriftsteller Jonathan sind seit vielen Jahren ein Paar. Die beiden leben mittlerweile ein wenig aneinander vorbei. Während der eine im Bett liegt und Drehbücher liest, arbeitet der andere im Nebenraum am Schreibtisch. Als Jonathan sich für seinen neuen Roman immer intensiver mit dem Tod auseinandersetzt und Boris bei Filmproben seinem jüngeren Kollegen Tim näher kommt, beginnen sie, ihre Liebe zu hinterfragen.

Regisseur Fabian Stumm erzählt in seinem Langfilmdebüt eine unterhaltsame Beziehungsgeschichte im Stil von Tom Tykwers DREI. Neben vielen gelungenen Szenen – Boris bei den Proben mit einer anstrengenden französischen Regisseurin – gibt es auch eine unnötige Seitengeschichte mit Jonathans 10-jähriger Nichte.

Deutschland 2023
104 min
Regie Fabian Stumm
Bild © Postofilm

GENERATION

L‘AMOUR DU MONDE

Margaux ist eine echte Transuse, euphemistisch könnte man sie auch als sanftmütig bezeichnen. Die 14-Jährige schleppt sich unbeteiligt durchs Leben, ein Praktikum in einem Kinderheim absolviert sie ohne Leidenschaft. Erst die Freundschaft zur kleinen Juliette (Esin Demircan, stiehlt den erwachsenen Darstellern die Schau) und dem stoischen Fischer Joël weckt sie (vorübergehend) aus ihrer Lethargie. 

Coming of Age Film aus der Schweiz, ungefähr so belebend wie das Gespräch mit einem mürrischen Teenager. Da können sogar 76 Minuten lang sein.

Schweiz 2023
76 min
Regie Jenna Hasse
Bild © Langfilm

BERLINALE 2023 – TAG 3

BERLINALE 2023 – TAG 3

Hair-Reinspaziert, Hairport, Vier Haareszeiten, Lockenvilla. Hat die deutsche Friseur-Innung eine großflächige Werbekampagne in Berlin gestartet? Nein, es ist das Plakat zur Berlinale 2023. Diesmal sollen die Zuschauer:innen im Mittelpunkt stehen, deshalb die eigenwilligen Zeichnungen von Menschen mit Frisuren. Im Kino trägt man Dauerwelle. Nächstes Jahr bitte wieder Plakate mit Bär.

WETTBEWERB

MANODROME

Ralphie wird demnächst Vater, aber sein Job als Uber-Fahrer (da freut sich der Berlinale-Sponsor) und seine persönliche Situation machen ihn nicht glücklich. Als er in einen seltsamen Männer-Club (oder sollte man sagen: Sekte?) aufgenommen wird, drängen unterdrückte Sehnsüchte an die Oberfläche und lassen Ralphie durchdrehen.

Aus der beliebten Berlinale-Sektion: What the Fuck? John Trengoves Film ist ein FIGHT CLUB für Arme. Oder ist das als Komödie gemeint? Immerhin sind die 95 Minuten über toxic masculinity at it’s best nicht langweilig und schön, Jesse Eisenberg mal außerhalb seiner Mark-Zuckerberg-Comfort-Zone spielen zu sehen.

GB / USA 2023
95 min
Regie John Trengove
Bild © Wyatt Garfield 

PANORAMA

DRIFTER

Der 22-jährige Moritz (Lorenz Hochhuth) zieht nach Berlin, der Liebe wegen. Kurz darauf macht sein Freund mit ihm Schluss und Moritz macht das, was schwule Männer in der Großstadt so machen – er geht ins Fitnessstudio. Zu seinen neuen Muskeln gesellen sich bald Tattoos, die Haare werden abrasiert, das Netzhemd übergeworfen und ab gehts ins Nachtleben. Mit viel Drogen und noch mehr wechselnden Sexualpartnern wird Moritz am Ende zu „einem richtig schwulen Mann“, wie es eine Freundin erfreut feststellt. Handlungsarmer, aber stimmungsvoller Debütfilm von Hannes Hirsch.

Deutschland 2023
79 min
Regie Hannes Hirsch
Bild © Salzgeber

BERLINALE SPECIAL

SONNE UND BETON

Berlin, Sommer 2003: Lukas, Julius, Gino und Sanchez – vier Jungs, die jede Menge Scheiß bauen und denen jede Menge Scheiß widerfährt. Muss das sein, diese vulgäre Sprache? Ja, denn in Gropiusstadt aufzuwachsen ist nichts für Weicheier. Hier gilt: Der Klügere tritt nach. An Drogen und Schlägereien kommt keiner vorbei. Die Sprache ist so rau wie die vier minderjährigen Kleingangster, die dringend 500 € klar machen müssen, sonst gibts Schläge von den Arabern.

Digger-ich-schwöre-ich-zerficke-dir-dein-Gesicht. Die interessanteste Frage zu SONNE UND BETON: Haben Jugendliche in den Nuller-Jahren wirklich schon derart penetrant gediggert wie heute? Dass mittlerweile 10-Jährige „Diggi“ schwafelnd durch die Straßen laufen, kennt man. Aber vor 20 Jahren? Man kann sich bei der Gelegenheit sowieso fragen, weshalb Regisseur Wnendt die Geschichte nicht in die Jetztzeit verlegt hat. Altmodische Handys und ein paar Nachrichtenbilder von Kanzler Schröder sind die einzigen Hinweise auf die Anfang-Tausender und haben keinen Mehrwert. Die massenkompatible Verfilmung von Felix Lobrechts Bestseller liegt irgendwo zwischen EIS AM STIEL und 4 BLOCKS für Jugendliche. Bisschen doof, bisschen nervig, trotzdem lustig und auf jeden Fall kurzweilig.

Deutschland 2023
119 min
Regie David Wnendt
Bild © Constantin Film Verleih

WETTBEWERB

THE SHADOWLESS TOWER

Der geschiedene Restaurantkritiker Gu Wentong erfährt, wo sein Vater lebt, zu dem er seit Jahren keinen Kontakt hat, und er beginnt eine Beziehung mit einer jüngeren Kollegin. Zwischendurch werden sehr viele Zigaretten geraucht und Handynachrichten verschickt.

Wo hört Meditation auf, wo fängt Langeweile an? THE SHADOWLESS TOWER ist ein klassischer Berlinale-Film aus China. Nichts, was man sich freiwillig im Kino ansehen würde. Aber natürlich trifft den Film keine Schuld, wenn im ausverkauften Berlinale-Palast ein Riese vor einem sitzt und man die Untertitel nicht mehr lesen kann. Vielleicht war es auch ein Feuerwerk der Unterhaltung. Wir werden es nie erfahren.

Originaltitel „Bai Ta Zhi Guang“
Volksrepublik China 2022
144 min
Regie Zhang Lu
Bild © Lu Films

PANORAMA

REALITY

Der Film schildert die im Jahr 2017 durchgeführte Hausdurchsuchung bei der Whistleblowerin Reality Winner im US-Bundesstaat Georgia. Das Besondere daran ist, dass sich kein Drehbuchautor die Dialoge ausgedacht hat. Regisseurin Tina Sattler lässt für ihren Debütfilm die Schauspieler ausschließlich die unveränderten Originalsätze aus einer FBI-Tonaufzeichnung sprechen.

Inhaltlich interessant und gut gespielt. Mit der Realität kann man es allerdings auch übertreiben. Der Mehrwert dieser stilistischen Spielerei erschließt sich nicht.

USA 2023
85 min
Regie Tina Sattler
Bild © Seaview

GENERATION

DANCING QUEEN

Mina ist ein dickes Mädchen. Trotzdem will sie unbedingt bei einem Hip-Hop-Tanzwettbewerb mitmachen, auch um in die Nähe des coolen Tänzers E. D. Win zu kommen. Mithilfe ihrer patenten Großmutter und gegen den Willen ihrer Eltern macht sie sich ans Training.

Vorhersehbare Komödie mit dem Herz am rechten Fleck. Für junge Zuschauer gibts positive Botschaften: Bodyshaming ist doof und wer will, der kann.

Norwegen 2023
85 min
Regie Aurora Gossé
Bild © Åsmund Hasli Amarcord

BERLINALE 2023 – TAG 2

BERLINALE 2023 – TAG 2

Zeit für Pressetextpoesie:
„Patric Chiha versetzt das Paar aus Henry James‘ Kurzgeschichte „The Beast in the Jungle“ in den Club und kontrastiert sein schicksalhaftes Warten mit dem ultimativen Im-Moment-Sein und dem hedonistischen Begehren der Tänzer*innen, in immerwährenden Choreografien die Zeit aufzulösen.“ Die weniger lyrische Framerate-Kritik zu LA BÊTE DANS LA JUNGLE gibts weiter unten.

GENERATION

WANN WIRD ES ENDLICH WIEDER SO SEIN, WIE ES NIE WAR

Eine etwas andere Kindheit: Josse wächst auf dem Gelände einer psychiatrischen Klinik auf.  Für den jüngsten Sohn von Direktor Meyerhoff (Devid Striesow) gehören die körperlich und geistig Behinderten quasi zur Familie. Am besten schläft er, wenn er nachts die Schreie der Patienten hört. Tagsüber schließt er Blutsbrüderschaft mit seinem Hund und kommt dem Doppelleben seines Vaters auf die Spur.

Kann man die mittlerweile fünf autobiografischen Romane Joachim Meyerhoffs überhaupt verfilmen? Ja, man kann. Komisch, ergreifend, voll absurder Momente und Begebenheiten: Sonja Heiss hat die 70er-Jahre Stimmung des zweiten Bands der Lebenserinnerungen des Schauspielers punktgenau eingefangen. Dabei sind die Figuren nicht einmal so besetzt, wie man sich das vielleicht beim Lesen vorstellt. Aber dank der stimmigen Inszenierung und dem hervorragenden Spiel taucht man schnell in die Welt der Familie Meyerhoff ein. Die sehr gelungene Romanverfilmung ist im Nebenprogramm Generation fast ein wenig verschenkt. Einziger Wermutstropfen: Der Stoff hätte locker für eine Fernsehserie gereicht. Ganze viermal wechselt der Schauspieler des Josse vom Kind zum Teenager bis zum jungen Mann. Das geht dann doch ein bisschen zu schnell.

Deutschland 2023
116 min
Regie Sonja Heiss
Bild © 2022 Komplizen Film GmbH / Warner Bros. Entertainment GmbH / Frédéric Batier

WETTBEWERB

BLACKBERRY

Wer die Zukunft verpennt, hat keine. Der ehemalige Vorstandsvorsitzende eines großen deutschen Automobilkonzerns pflegte seinen Managern den Telefonhersteller Nokia als warnendes Beispiel für wirtschaftliche Ignoranz vorzuhalten. Irgendwann kam das erste Smartphone in den Handel und fegte die Finnen vom Markt. Nicht das iPhone, sondern das BlackBerry revolutionierte 1999 die Art, wie die Welt arbeitet, spielt und kommuniziert. Wer konnte schon ahnen, dass die kanadische Herstellerfirma RIM nur acht Jahre später von Apple vaporisiert wird.

Matt Johnson erzählt die Geschichte vom Aufstieg und Fall des BlackBerrys mit viel Witz und waschechten Nerds. Der unerbittliche Kampf um den Platz an der Spitze, die Arroganz und das fehlende Gespür für sich rasant weiterentwickelnde Technik – der Wettbewerbsbeitrag BLACKBERRY ist nicht nur ein spannender Wirtschaftskrimi, sondern vor allem eine sehr komische Gesellschaftssatire. Toll besetzt und dank leicht matschigen 16-mm-Looks ein authentischer Blick in eine Vergangenheit, die noch gar nicht so lange her ist, technisch aber steinzeitlich anmutet.

Kanada 2023
121 min
Regie Matt Johnson
Bild © Budgie Films Inc.

WETTBEWERB

THE SURVIVAL OF KINDNESS

Wüste, sengende Sonne, eine schmutzige Frau in einem Käfig. Das simpel gestrickte Hirn assoziiert sofort MAD MAX. Sollte sich tatsächlich ein Actionfilm ins Wettbewerbsprogramm verirrt haben? Aber nein, das ist die Berlinale. Und je Berlinale, desto absurder. Die Frau bricht aus dem Käfig aus, läuft durch verschiedene Landschaften, wird von Gasmasken tragenden Weißen gejagt und endet schließlich in einem dystopischen Industriegebiet.

THE SURVIVAL OF KINDNESS ist eine Parabel auf Rassismus. Oder auf die Historie der Menschheit. Man versteht es auch nach 96 Minuten nicht so recht. Wenigstens erzählt Regisseur Rolf de Heer seine Geschichte konsequent, ohne auch nur in die Nähe von mainstreamiger Unterhaltung zu kommen. Selbst die Dialoge sind artifiziell, mehr Laute und Grunzen statt Sprache. Ganz falsch war der MAD-MAX-Gedanke nicht: THE SURVIVAL OF KINDNESS ist ebenfalls eine Produktion aus Down Under.

Australien 2022
96 min
Regie Rolf de Heer
Bild © Triptych Pictures 

WETTBEWERB

Irgendwann werden wir uns alles erzählen

IRGENDWANN WERDEN WIR UNS ALLES ERZÄHLEN

Sommer 1990. Ein Bauernhof an der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze. Johannes hat für seine Freundin Maria und sich den Dachboden bei seinen Eltern zum kleinen Idyll gemacht. Maria liest Dostojewski, streift durch die Wiesen und widmet sich auch sonst dem süßen Nichtstun. Ihre Begegnung mit Henner, dem um einiges älteren Nachbarn, macht der Beschaulichkeit ein Ende. Eine tragische Liebe nimmt ihren Lauf.

IRGENDWANN WERDEN WIR UNS ALLES ERZÄHLEN gehört in die Kategorie Filme, bei denen schon nach wenigen Minuten klar ist, dass man sich weder für die Figuren noch ihre deprimierenden Probleme interessiert. Das hölzern gespielte Drama von der verbotenen Liebe verläuft ereignislos und zieht sich über 129 Minuten wie Kaugummi. Sehenswert sind in diesem ersten deutschen Wettbewerbsbeitrag einzig die sommerlichen Landschaften Ostdeutschlands. Fazit: Es gibt ihn noch, den typisch deutschen Problemfilm.

Deutschland 2023
129 min
Regie Emily Atef
Bild © Pandora Film / Row Pictures

May (Anaïs Demoustier) und John (Tom Mercier aus dem 2019-Berlinale-Gewinner SYNONYMES) begegnen sich in einem Club. Immer wieder – von den späten 70ern bis in die 2000er-Jahre. Disco geht, Techno kommt. Erst fällt die Mauer, dann fallen die Zwillingstürme in New York. May und John altern nicht, sprechen über eine „geheimnisvolle Sache“, die kommen wird. Alles sehr rätselhaft und unverständlich. Sind die beiden Vampire? Reisende durch die Zeit? Ist John der Tod? Wer will es wissen? Kommentiert wird die Geschichte der Liebenden von  Béatrice „Betty Blue“ Dalle als ewige Türsteherin des Clubs. Kunst aus Frankreich.

Frankreich / Belgien / Österreich 2023
110 min
Regie Patric Chiha
Bild © Elsa Okazaki

GENERATION

ZEEVONK

Lena ist sauer. Denn ein riesiges Seemonster hat ihren Vater getötet. Dass der Fischer mit seinen Kollegen einfach so auf hoher See Schiffbruch erlitten hat – undenkbar für das Mädchen. Mit ihren Freunden Kaz und Vincent macht sie sich auf die Suche nach Beweisen für ihre Theorie.

Das Seemonster als Sinnbild für den Tod, der bekämpft werden muss. Wie Captain Ahab jagt Lena den Feind. Das ist in seiner Symbolik ein bisschen dick aufgetragen. Emotional bleibt der holländische Generation-Beitrag dabei eher unterkühlt. Am Ende fließen die Tränen, doch bis es so weit ist, zieht es sich.

Belgien / Niederlande 2023
98 min
Regie Domien Huyghe
Bild © A Private View

BERLINALE 2023 – TAG 1

BERLINALE 2023 – TAG 1

Es geht wieder los: neun Tage Berlinale! Und die Filmfestspiele sind in diesem Jahr noch nachhaltiger geworden: roter Teppich aus Recyclingmaterial, überall LED-Lampen und am Büffet keine Milchprodukte. Das freut die Kuh. Nur warum verkauft Geschäftsführerin Mariëtte Rissenbeek das alles bei einer Pressekonferenz mit zitronigem Gesichtsausdruck, als wäre es ein Strauß schlechter Nachrichten? Man wünscht ihr etwas mehr Freude am Job. Apropos: Was macht eigentlich Dieter Kosslick? Der plant ein Comeback und soll ab 2024 die Leitung des neuen Umweltfilmfestivals in Potsdam übernehmen. Wir starten heute klimaneutral und ganz bescheiden mit nur einem Film. Sensation. So wenig gab es noch nie. Aber keine Sorge, in den nächsten Tagen folgen wie gewohnt viel zu viele neue Berlinale-Kritiken. Und Bitte!

BERLINALE SPECIAL

SHE CAME TO ME

Was haben ein Opernkomponist in Schaffenskrise, eine ordnungsmanische Psychiaterin, eine lebenslustige Schlepperkapitänin, eine junge Liebe und ein erzkonservativer Gerichtsstenograf miteinander zu tun? Die Antwort gibt SHE CAME TO ME mit einer nicht ganz rund laufenden New-York-Geschichte. Oder plakativer: Romeo und Julia meets moderne Oper mit viel Woody-Allen-Vibe.

Der Plot klingt exzentrisch – der Film ist es nicht. Alles ganz nett, nicht laugh out loud lustig, aber charmant und manchmal sogar geistreich. Irritierend ist nur, dass das Bildformat ständig von fast Qudratisch zu Breitwand wechselt. Ein tieferer Sinn ist nicht erkennbar. Die hilfreiche Dame vom Verleih konnte es nach dem Screening auch nicht erklären, vermutete aber, es habe irgendwas mit dem Kommen und Gehen der Oper zu tun. Aha.

SHE CAME TO ME ist der Eröffnungsfilm der 73. Berlinale. Und in liebgewonnener Berlinaleeröffnungsfilmtradition ist er nur ganz okay. Die romantische Komödie von Rebecca Miller ist mit Anne Hathaway, Peter Dinklage und Marisa Tomei immerhin prominent besetzt.

USA 2023
102 min
Regie Rebecca Miller
Bild 
© Protagonist Pictures

ANT-MAN AND THE WASP: QUANTUMANIA

ANT-MAN AND THE WASP: QUANTUMANIA

Kinostart 15. Februar 2023

Neues von der Konditorenzunft: Es gibt Hochzeitstorten, mehrstöckig, reich verziert mit Zuckerguss und Marzipan, die sehen gut aus, schmecken aber nicht. Zu süß, zu mächtig, nach einem Stück ist man pappsatt. Und dann gibt es einen ehrlichen Apfelkuchen. Guter Boden, etwas Eiermasse, Äpfel. Fertig. Lecker. Noch ein Stück bitte. Backwerk und Marvel haben mehr gemeinsam, als man denkt.

Computergenerierte Märchenwelt

Thanos ist seit AVENGERS ENDGAME Geschichte. Zeit für einen neuen Bösewicht im MCU. Der heißt Kang der Eroberer und sitzt seit Jahren unfreiwillig im Quantenreich fest. Nun will er raus, um weiter zu „erobern“, was in seinem speziellen Fall bedeutet, Multiversen zu zerstören und Milliarden Leben zu vernichten. Scott Lang alias Ant-Man (Paul Rudd) macht mit Freundin Hope Van Dyne (Evangeline Lilly), Tochter Cassie und den Schwiegereltern (Michelle Pfeiffer und Michael Douglas) einen Familienausflug in die subatomare Welt, um das Schlimmste zu verhindern.

Agierten die Marvel-Superhelden in Phase I noch in halbwegs realen Settings, so ist davon in der mittlerweile fünften Phase nicht mehr viel übrig. Außer den ersten paar Minuten spielt der neue ANT-MAN in einer komplett computergenerierten Märchenwelt. Könnte auch irgendwo im Weltenraum sein. Erweitertes Crossover: STAR WARS und MARVEL gehören zum allmächtigen Disney-Konzern. Das merkt man spätestens daran, dass sich QUANTUMANIA schamlos im KRIEG DER STERNE-Universum bedienen darf. Die Fantasygeschöpfe erinnern mit ihren Kostümierungen an alte Kantinen-Bekannte vom Planeten Tatooine.

ANT-MAN AND THE WASP: QUANTUMANIA ist ein eher belangloser Beitrag zum immer weiter expandierenden MCU, der lärmt und blinkt und dabei – wie eine Hochzeitstorte – zwar ganz nett aussieht, aber von allem viel zu viel hat. Da sehnt man sich nach der vergleichsweise simplen Apfelkuchen-Welt der IRON-MAN-Anfänge zurück.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Ant-Man and the Wasp: Quantumania“
USA 2023
125 min
Regie Peyton Reed

alle Bilder © Walt Disney Studios Motion Pictures Germany

WHAT’S LOVE GOT TO DO WITH IT?

WHAT’S LOVE GOT TO DO WITH IT?

Kinostart 23. Februar 2023

Das Beste an WHAT’S LOVE GOT TO DO WITH IT?: Tina Turners gleichnamiger 80er-Jahre-Formatradio-Hit ist im ganzen Film nicht zu hören. Vielmehr bezieht sich der Titel auf die Frage, ob Liebe bei einer Heirat überhaupt eine Rolle spielen muss. Oder ist es nicht besser – so die Mutter des Hauptprotagonisten – Liebe erst durch langsames Köcheln zu entfachen?

Alles so schön bunt hier!

Zoe ist eine junge Filmemacherin. Auf der Suche nach dem Thema für ihr nächstes Projekt kommt ihr die Geschichte ihres besten Freundes Kazim gerade recht. Der in Großbritannien geborene Arzt mit pakistanischen Wurzeln will demnächst heiraten. Das Besondere daran: Er lässt die Braut von seinen Eltern aussuchen. Eine arrangierte Hochzeit scheint ihm vernünftig und allemal erfolgversprechender als das langwierige Tindern. Zoe beschließt, Kazim zur Hochzeit nach Pakistan zu begleiten.

Wenn man der angeblich preisgekrönten Filmemacherin Zoe dabei zusieht, wie sie mit der Handkamera unbeholfen verwackelte Bilder für ihre Dokumentation dreht, fragt man sich, ob sie bisher für den Offenen Kanal gearbeitet hat. Umso erstaunlicher, dass bei der Premiere ihres Films perfekt ausgeleuchtetes und eingerichtetes Material zu sehen ist. Das wirkt dann ungefähr so authentisch wie die Studiokulissen, in denen die Pakistanszenen von WHAT’S LOVE GOT TO DO WITH IT? gedreht wurden. Alles so schön bunt hier! Aber nicht nur die Sets, auch die Emotionen sind künstlich. Dazu eine penetrante Filmmusik, die Flöten und Geigen um die Wette jubilieren lässt. Es ist fürchterlich.

Malen nach Zahlen: WHAT’S LOVE GOT TO DO WITH IT? ist eine romantische Komödie nach Schema F. Die überraschungsfreie Geschichte würde sich noch so wegschauen, wenn wenigstens die Chemie zwischen den Hauptdarstellern Lily James und Shazad Latif stimmen würde. Doch der Funke springt nicht über. Obwohl die zuckersüße Romanze ihre Momente hat, verderben der oft platte Humor und die klischeehaften Figuren den Spaß. Das kann nicht mal Emma Thompson als liebenswerte Schrulle retten.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „What’s Love got to do with it?“
England 2022
108 min
Regie Shekhar Kapur

alle Bilder © STUDIOCANAL

KNOCK AT THE CABIN

KNOCK AT THE CABIN

Kinostart 09. Februar 2023

Das schwule Elternpaar Eric und Andrew (Jonathan Groff und Ben Aldridge) plant mit Töchterchen Wen eine Auszeit vom Alltag. In einer einsam gelegenen Holzhütte will die Kleinfamilie ein paar unbeschwerte Tage verbringen. Doch dann tauchen vier unheimliche Fremde auf und verlangen eine unmögliche Entscheidung: Eines der Familienmitglieder müsse durch ein anderes getötet werden. Sollten sie sich weigern, werde „die Welt enden“.

Shyamalan holt aus Schauspielern oft das Schlechteste heraus

Das Presseheft sagt: „Das Einzige, dessen man sich sicher sein kann, wenn man für einen neuen Film von M. Night Shyamalan ins Kino geht, ist, dass man nicht weiß, was einen erwartet“. Das ist so nicht richtig, denn meist erwartet einen etwas sehr, sehr Schlechtes. Deshalb ist das Erstaunlichste an KNOCK ON THE CABIN, dass er vergleichsweise gar nicht mal so übel ist.

Shyamalan ist seit THE SIXTH SENSE ein Regisseur der ewigen Hoffnung. Doch wieder und wieder hat der einstige „nächste Spielberg“ enttäuscht. Er holt aus Schauspielern oft das Schlechteste heraus (Marc Wahlberg kann davon ein Lied singen) und nervt mit an Haaren herbeigezogenen Handlungstwists. Wer sich durch die letzten Werke des Ed Woods der Neuzeit quälen musste (OLD, GLASS, THE HAPPENING, AFTER EARTH – die Liste des Grauens ist lang) und deshalb auf das Schlimmste gefasst ist, wird von KNOCK AT THE CABIN positiv überrascht.

Natürlich ist auch dieser Horror-Mystery-Film ein Schmarren in Reinstform. Vier apokalyptische Reiter in einer Waldhütte, die den Weltuntergang prophezeien – also bitte! Trotzdem punktet der Thriller mit Atmosphäre und einer überzeugend spielenden Besetzung (unter anderem David Bautista). Auch wenn es gegen Ende wieder höchst albern wird – die ersten zwei Drittel von KNOCK AT THE CABIN sind gut gemachtes, halbwegs spannendes Unterhaltungskino.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Knock at the Cabin“
USA 2021
100 min
Regie M. Night Shyamalan

alle Bilder © Universal Pictures International Germany

DIE AUSSPRACHE

DIE AUSSPRACHE

Kinostart 09. Februar 2023

Selten hat es ein Filmtitel so gut zusammengefasst: DIE AUSSPRACHE heißt im Original WOMEN TALKING. Und genau das tun sie. Schließlich geht es um lebenswichtige Entscheidungen. Wie spannend so ein Dialogfilm sein kann, weiß man spätestens seit DIE ZWÖLF GESCHWORENEN.

Oscarwürdiges Schauspielensemble

2010 – In einem kleinen Ort in den USA lebt eine Gruppe Mennoniten, die sich von der heutigen modernen Gesellschaft abschottet. Doch seit geraumer Zeit liegt ein Schatten über der Religionsgemeinschaft. Die Frauen werden nachts betäubt und vergewaltigt. Nun müssen sie entscheiden, wie es weitergehen soll: Nichts tun? Im Dorf bleiben und sich gegen die Männer wehren? Oder die Gemeinschaft mit den Kindern verlassen?

DIE AUSSPRACHE folgt weniger einer klassischen Handlung, ist mehr eine Anregung zum Nachdenken, ein Abwägen des Für und Wider von Rache und Vergebung. In langen Gesprächen diskutieren die Frauen die möglichen Konsequenzen ihrer Entscheidung. Regisseurin Sarah Polley vermeidet dabei jeden Voyeurismus: Die Geschichte hinter den Ereignissen mag zwar gewalttätig sein, doch der Film zeigt nie die Gewalt, die die Frauen erfahren. Nur kurze Ausschnitte des Danach sind zu sehen.

Das Schauspielensemble ist oscarwürdig, allen voran Rooney Mara und Claire Foy. Bis in die kleinste Nebenrolle ausgezeichnet besetzt, sorgen unter anderem Ben Whishaw und Frances McDormand für dramaturgisches (Schwer-)Gewicht. Fast monochrom, Gesichter im Halbschatten: Die Bilder (Kamera: Luc Montpellier) und die Farbgebung sind so düster wie die Geschichte selbst.

DIE AUSSPRACHE erinnert an eine Folge der TV-Serie THE HANDMAID’S TALE mit dem Unterschied, dass die Dystopie von Margaret Atwood Fiktion ist und DIE AUSSPRACHE auf wahren Begebenheiten beruht.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Women Talking“
USA 2021
104 min
Regie Sarah Polley

alle Bilder © Universal Pictures International Germany

CONCERNED CITIZEN

CONCERNED CITIZEN

Kinostart 02. Februar 2023

Früher trugen sie Kittelschürzen und lagen mit Kissen im Fenster. Gleicher Inhalt, neue Verpackung: Heute sehen die neugierigen Nachbarn um einiges moderner aus. Zum Beispiel so wie Ben und Raz. Das schwule Paar hat gut bezahlte Jobs und wohnt in einem angesagten, von Migration geprägten Stadtteil Tel Avivs. Während sich die beiden auf dem Designersofa durch Fotos von potenziellen Leihmüttern klicken, werden auf der Straße Flüchtlinge von Polizisten zusammengeschlagen.

Eine zynische „White-Guilt-Trip“-Komödie

Seit vierzig Jahren kommt der Wedding. Sagt man. Ähnlich ewig vielversprechende Kieze gibt es offenbar auch in Tel Aviv. „In ein paar Jahren werden Sie das Viertel nicht mehr wiedererkennen“, versichert der Makler ein ums andere Mal. Doch Ben ist zusehends genervt und will weg. Ein Gefühl, das jeder Berliner nach der siebzigsten Graffiti Attacke auf die heimische Hauswand versteht.

Eine kleine Unachtsamkeit löst in Idan Haguels Film eine Kette von Ereignissen aus. Bens Weltbild gerät durch die brutale Realität ins Wanken. Von schlechtem Gewissen gequält, versucht er Wiedergutmachung. Regisseur Idan Haguel sagt, „Man kann den Fim als eine zynische „White-Guilt-Trip“-Komödie bezeichnen“ – oder als eine clevere Satire auf Gentrifizierung und die alltäglichen Probleme des Cis-Manns von heute.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Concerned Citizen“
Israel 2021
82 min
Regie Idan Haguel

alle Bilder © Salzgeber

BULLDOG

BULLDOG

Kinostart 02. Februar 2023

Neckisches Versteckspiel, lachend im Gras wälzen, zu tief in die Augen schauen: Man könnte glatt meinen, die beiden wären ein Liebespaar. Aber falsch, es sind Mutter und Sohn. Ödipus lässt grüßen: Bruno ist einundzwanzig und lebt mit seiner nur fünfzehn Jahre älteren Mutter Toni auf Ibiza. Die ungesund enge Beziehung wird gestört, als sich Toni in Hannah verliebt und diese in den gemeinsamen Bungalow einzieht. Bruno passt der unfreiwillige Dreier gar nicht und reagiert eifersüchtig.

Sommerliche Leichtigkeit trifft auf ernstes Thema

Forever Young: Die Haare pink, das Basecap mit dem Schirm nach hinten – Mutter und Sohn verweigern sich dem Erwachsenenleben, hangeln sich mit Gelegenheitsjobs durch. Die beiden haben mit ihrem launischen Teenagerverhalten großes Nervpotenzial. Da fällt es mitunter schwer, Sympathie zu entwickeln. Julius Nitschkoff, Lana Cooper und Karin Hanczewski spielen überzeugend, auch wenn die Dialoge oft klingen, als seien sie den Schauspielern beim Dreh spontan in den Sinn gekommen.

Sommerliche Leichtigkeit trifft auf ernstes Thema. Hätte man die gleiche Geschichte in einer grauen Hochhaussiedlung inszeniert, würde man als Zuschauer nach einer halben Stunde zum Strick greifen. Doch der deprimierende Kampf inmitten prekärer Lebensverhältnisse spielt hier in einer lichtdurchfluteten Ferienanlage. Palmen statt Beton machen BULLDOG zu einem interessanten Debütfilm mit guten Schauspielern, der zwischendurch ein wenig lahmt.

INFOS ZUM FILM

Deutschland / Spanien 2021
95 min
Regie André Szardenings

alle Bilder © missingFILMs