LAND OF DREAMS

Kinostart 03. November 2022

Irgendwann in naher Zukunft in New Mexico: Die gebürtige Iranerin Simin arbeitet als Faktenprüferin und „Traumfängerin“ für das US-Zensusbüro. Ihre Aufgabe besteht darin, von Haus zu Haus zu gehen und die Menschen nach ihren Träumen zu befragen. In ihrer eigenen Wohnung verkleidet sie sich abends als die Personen, die sie interviewt hat, und übersetzt deren Traumaussagen ins Farsi. Diese Performance lädt sie dann online auf einer Social-Media-Plattform hoch. Klingt nach Kunst? Ist es auch.

Sanfte Anleihen bei Luis Buñuel und deutlichere Anleihen bei David Lynch machen „Land of Dreams“ vor allem visuell interessant. Mit prominenten Schauspielern wie Matt Dillon (als zynischer Bodyguard) und Isabella Rossellini, die covidbedingt nur eine Gastrolle per Monitorzuschaltung hat, erzählt die Regisseurin Shirin Neshat (Co-Regie: Shoja Azari) eine surreale Geschichte, die sich in 113 Minuten etwas zu lang entfaltet. Trotz des überbetonten Themas vom „Staat, der die Träume seiner Bürger kontrollieren will“, sind es die poetischen Bilder und die Musik von Michael Brook, die „Land of Dreams“ sehenswert machen.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Land of Dreams“
Deutschland / USA 2021
113 min
Regie Shirin Neshat und Shoja Azari

alle Bilder © W-Film

AMSTERDAM

Kinostart 03. November 2022

Anstrengend! Überladen! Nicht so clever, wie er glaubt zu sein! Selten wurden große Stars derart verheizt! Keine Chemie! Totalausfall! Die Kritik ist sich in ihrem vernichtenden Urteil ziemlich einig: David O. Russells neuer Film ist ein kolossaler Flop.

Drama, Screwball-Komödie, Thriller

Die Geschichte von den beiden verwundeten Soldaten, die am Ende des Ersten Weltkriegs eine Krankenschwester kennenlernen, um dann mit ihr gemeinsam eine unvergessliche Jules und Jim-Zeit in Amsterdam zu verbringen, sei von Anfang an von allem zu viel. Drama, Screwball-Komödie, Thriller, Kriegsfilm: Wie soll das zusammenpassen? Erst als sich die Handlung ins New York der 1930er-Jahre verlegt und die drei Freunde einer (wahren) Verschwörung auf die Spur kommen, die das Schicksal der ganzen Welt beeinflussen könnte, finde der Film Tritt, aber dann sei es schon zu spät. So die seltsame, nicht nachvollziehbare Meinung der Kritiker.

Der Film erzählt eine Geschichte – und dass die mal lustig, mal dramatisch ist und auch einmal kurz im Krieg spielt – na und? Sicher, ein paar Kürzungen hätten nicht geschadet, denn 134 Minuten klingen nicht nur lang, sie sind es auch. Aber sich über eine abwechslungsreiche Handlung zu echauffieren, das klingt eher wie eine persönliche Abrechnung mit dem Regisseur.

„Amsterdam“ beginnt stark, schwächelt ein bisschen in der Mitte und fängt sich dann wieder zum Ende. Die Namen aller mitspielenden Stars aufzulisten, würde zu weit führen, aber Christian Bale, John David Washington, Margot Robbie und Chris Rock seien genannt. Und natürlich Robert DeNiro, Rami Malek und Anya Taylor-Joy. Und nicht zu vergessen Taylor Swift. Russel hat große Namen zusammengetrommelt und liefert einen stellenweise lustigen, fast hitchcockschen Thriller mit herausragender Ausstattung, toller Kamera und einem spielfreudigen Mega-Cast.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Amsterdam“
USA 2022
134 min
Regie David O. Russell 

alle Bilder © Walt Disney Studios Motion Pictures Germany

WIR SIND DANN WOHL DIE ANGEHÖRIGEN

Kinostart 03. November 2022

Es war einer der spektakulärsten Kriminalfälle Deutschlands: Am 25. März 1996 wurde um 20.20 Uhr der Publizist und Mäzen Jan Philipp Reemtsma in Hamburg-Blankenese entführt. Erst nach 33 Tagen Gefangenschaft und einer Lösegeldzahlung von 30 Millionen D-Mark wurde er wieder freigelassen. Bis dahin hielten sich Presse, Radio und Fernsehen an eine vereinbarte Nachrichtensperre, sodass die Öffentlichkeit erst im Nachhinein von dem Verbrechen erfuhr. Die Entführer waren ausnahmsweise keine Angehörigen der RAF, sondern ganz gewöhnliche Gangster. Zwei Jahre später wurden sie gefasst, vom Großteil des Lösegelds fehlt bis heute jede Spur.

Kein Kitsch, keine billige Spannung, kein Schnickschnack

Über die Erinnerungen der unheilvollen Tage des Wartens hat Johann Scheerer 2018 ein Buch geschrieben: „Wir sind dann wohl die Angehörigen – Die Geschichte einer Entführung“. Das Drama aus der Perspektive des damals erst 13-jährigen Sohns Johann. Hans-Christian Schmid hat aus diesem autobiografischen Bestseller jetzt einen Film gemacht – und was für einen! Kein Kitsch, keine billige Spannung, kein Schnickschnack. Mit Hans Löw, Justus von Dohnányi, Adina Vetter und Newcomer Claude Heinrich inszeniert der Regisseur eine Art Kammerspiel (ein Großteil der Handlung spielt im Haus der Familie Reemtsma/Scheerer), das die nervenzerreißende Anspannung, das bange Hoffen, das stümperhafte Vorgehen der Polizei und die gescheiterten Lösegeldübergaben auf nüchterne, sachliche Art zeigt, ohne dabei emotionslos zu sein.

„Wir sind dann wohl die Angehörigen“ fokussiert sich – der Titel legt es nah – auf Reemtsmas Frau Ann-Kathrin Scheerer und den gemeinsamen Sohn Johann. Von einer Sekunde auf die andere wird der Familienalltag auf den Kopf gestellt, Polizisten ziehen ins Haus ein, Post und Telefon werden dauerüberwacht. Zwischen gescheiterten Geldübergaben erreichen die Angehörigen die verzweifelten Briefe des Entführten. In all dem Chaos muss sich der pubertierende Junge zurechtfinden, während seine Mutter langsam zu zerbrechen droht.

Der beste Tatort, der kein Tatort ist

Sparsamer Musikeinsatz (hervorragend: The Notwist), punktgenaue Ausstattung und in ruhigen, unaufdringlichen Bildern erzählt – wenn man einen Kriminalfilm macht, dann bitteschön so! Obwohl der (gute) Ausgang der Geschichte bekannt ist, bleibt „Wir sind dann wohl die Angehörigen“ fesselnd von der ersten bis zur letzten Minute. Wer sich über die Opferperspektive informieren will, dem sei Jan Philipp Reemtsmas Buch „Im Keller“ empfohlen.

INFOS ZUM FILM

Deutschland 2022
118 min
Regie Hans-Christian Schmid

alle Bilder © Pandora Film, 23/5

INVISIBLE DEMONS

Kinostart 03. November 2022

Delhi ist die Hölle auf Erden. Ganze Parks und Straßenzüge werden mit giftigen Chemikalien eingenebelt, um die brütenden Moskitos zu killen. Das Atmen der Luft ist so ungesund wie das Rauchen einer Schachtel Zigaretten pro Tag. Die ehemalige Lebensader der Stadt, der Fluss Yamuna, ist nur noch eine stinkende Kloake, dick mit weißem Schaum bedeckt. Kein Wunder, denn die Industrie leitet ihre Abwässer direkt und ungefiltert ein. Auf Müllbergen suchen die Ärmsten der Stadt nach verwertbaren Resten im Abfall, daneben kämpfen zwei Kühe um eine Plastiktüte. Dreck fressen, um zu überleben. Als ob das nicht genug wäre, spielt auch noch das Wetter verrückt: Sengende Hitze mit Temperaturen bis zu 50 Grad Celsius wechselt sich mit sintflutartigen Regengüssen ab, die das ganze Land überschwemmen.

Von Hoffnung keine Spur, der Mensch ist an der ganzen Misere schuld

Die deutsch-indisch-finnische Koproduktion „Invisible Demons“ reiht ein Untergangsszenario ans nächste. Die Welt steht am Abgrund. Politik und Wirtschaft versprechen Besserung, doch auf die leeren Worte folgen keine Taten. Alle wissen, dass es so nicht weitergehen kann, trotzdem tut keiner etwas dagegen.

Von Hoffnung keine Spur, der Mensch ist an der ganzen Misere schuld. Wer es nicht schon vorher war, wird nach diesem Film endgültig zum Misanthropen. Aber vielleicht braucht es einen fatalistischen Blick auf den Zustand unserer Umwelt und das Versagen der Menschheit, um sich (mal wieder) das ganze Ausmaß der Tragödie vor Augen zu halten. Rahul Jain beschränkt sich in seinen 66 Minuten Dystopie ausschließlich auf Negatives, Lösungen oder zukunftsorientierte Umweltprojekte – Fehlanzeige. Dabei gibt es die in Indien sicher auch.

Im Kino dürfte es der Dokumentarfilm aufgrund seiner Länge (irgendwo zwischen Kurz- und Spielfilm) schwer haben. Als aufrüttelnde Mahnung wären ihm trotzdem viele Zuschauer zu wünschen.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Invisible Demons“
Indien / Deutschland / Finnland 2021
66 min
Regie Rahul Jain

alle Bilder © GMfilms

SEE HOW THEY RUN

Kinostart 27. Oktober 2022

Ein allseits unbeliebter Hollywood-Regisseur, der mitten in den Vorbereitungen für die Verfilmung eines erfolgreichen Theaterstücks steckt, wird ermordet. Inspektor Stoppard (Sam Rockwell) und die übereifrige Constable Stalker (Saoirse Ronan) übernehmen den Fall. Schnell stellen sie fest, dass es Parallelen zwischen dem fiktiven Bühnenstück und der Realität gibt.

Es fehlt ein ganz entscheidender Faktor, der einen guten Krimi ausmacht: die Spannung.

Das ist dann auch schon die einzig originelle Idee von Mark Chappells Drehbuch: Das Whodunit „See How They Run“ spielt im Setting des wohl berühmtesten Whodunits, Agatha Christies „The Mousetrap“. Nicht Film im Film, aber Film im Theater sozusagen. Inspiriert vom „Mord im Orientexpress“-Erfolg und natürlich zuletzt „Knives Out“ (Teil 2 erscheint demnächst bei Netflix), hat Regisseur Tom George einen klassischen Mörder-Mystery-Film inszeniert, der stilecht im London der 50er-Jahre angesiedelt ist. Leider fehlt ein ganz entscheidender Faktor, der einen guten Krimi ausmacht: die Spannung. Quälende 98 Minuten schleppt sich die langweilige Geschichte dahin. Versuche, mit einer an Wes Anderson angelehnten Bildsprache das Ganze etwas aufzupeppen, scheitern kläglich – „See How They Run“ sieht nicht mal besonders gut aus, ist nur müdes Zitat.

Wenn schon die Handlung keine Spannung bietet, dann sollte es wenigstens die Besetzung in sich haben: Die bereits erwähnten Erfolgsfilme bieten mit großen Namen wie Daniel Craig oder Penélope Cruz Entertainment per Starpower. Ein Rezept, das schon die trutschigen 70er-Jahre-Verfilmungen mit Peter Ustinov gekonnt befolgt haben. Davon kann bei „See How They Run“ keine Rede sein. Hauptdarsteller Sam Rockwell agiert durchweg, als stünde er kurz vor dem Einschlafen. Ein Gefühl, das sich schon bald auf die Zuschauer überträgt. Und auch der restliche Cast (mit Ausnahme von Saoirse Ronan) ist eher gehobener Durchschnitt.

Für ein gutes Whodunit braucht es eine straffe Regie, gepfefferte Dialoge und (zumindest ein bisschen) suspense. All das fehlt hier. Enttäuschend in jeder Hinsicht.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „See How They Run“
USA 2021
98 min
Regie Tom George

alle Bilder © Walt Disney Studio Motion Pictures GmbH

BROS

Kinostart 27. Oktober 2022

„Bros“ ist leider kein Biopic über die gleichnamige britische Boygroup aus den 1980er-Jahren (When Will I Be Famous?), sondern eine nervige Gay-Rom-Com aus den USA.

Die im Stil einer 80er/90er-Jahre-Liebeskomödie gedrehte Satire auf eine Liebeskomödie aus den 80er/90er-Jahren leidet vor allem unter ihrer unsympathischen Hauptfigur. Bobby (Billy Eichner) ist ein dauersabbelnder Besserwisser, der sich nicht binden kann oder will. Eines Abends lernt er in einem Club den attraktiven Anwalt Aaron kennen. Der ist ein genauso großer Beziehungsmuffel, und so dauert es eine Weile, ehe die beiden zueinanderfinden. Auf dem Weg ins Glück wird pausenlos geredet. Geredet und geredet. Die eigentlich charmante Geschichte erstickt an ihrer penetranten Geschwätzigkeit, es ist kaum auszuhalten.

Ja, es gibt schon ein paar witzige Dialoge über straight actors, die in Hollywoodfilmen schwule Charaktere spielen, nur um einen Oscar zu gewinnen. Und auch der Gastauftritt von Debra Messing als Debra Messing hat komisches Potenzial. Doch die guten Szenen aus dem schwulen Alltag eines New Yorker Museumsdirektors werden unter einem Berg von zwanghafter LGBTQ+-political-correctness begraben. Dazwischen ein paar explizite Sexszenen, die leider auch noch lustig sein sollen – es aber größtenteils nicht sind.

Regisseur Billy Eichner macht Homophobie für den Kassenflop seines Films in den USA verantwortlich

„Bros“ will romantische Komödie, Satire, politisches Statement und LGBTQ+-Geschichtsstunde sein. Unter der Last geht dem Film bald die Puste aus und was anfangs noch für ein paar Lacher sorgt (wie die peinvollen Grindr-Dates der Hauptfigur), zieht sich ab der zweiten Hälfte furchtbar in die Länge. Zum Glück sind die Geschmäcker verschieden. Aber der einhellige Tenor nach der Pressevorführung überrascht dann doch: Wunderbar! Köstlich! Wahnsinnig lustig! Da fragt man sich: Haben die den gleichen Film gesehen?

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Bros“
USA 2022
115 min
Regie Nicholas Stoller

alle Bilder © Universal Picture International Germany

BLACK ADAM

Kinostart 20. Oktober 2022

„Black Adam“ ist ein typischer DC-Superheldenfilm. Kenner der Materie wissen, was das bedeutet. Es gibt viele Kampfszenen in Slow Motion, Blitz und Donner in Videogameoptik und ein paar lachhafte Kostümierungen. Und gerade als man denkt, es sei vorbei, geht es noch eine halbe Stunde weiter.

Dr. Strange oder Dr. Fate? Ant-Man oder Atom Smasher? Cyclone oder Storm? Handlung und Figuren kommen einem aus diversen X-Men und Marvelfilmen vage bekannt vor. Doch bei der Unmenge an Halbgöttern mit Superkräften, die sich mittlerweile auf der Leinwand tummelt, behält ohnehin nur der eingefleischte Nerd den Überblick.

Doofe Unterhaltung, aber nicht der schlechteste DC-Film aller Zeiten. Mehr Lob geht beim besten Willen nicht.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Black Adam“
USA 2022
130 min
Regie Jaume Collet-Serral

alle Bilder © Warner Bros. Entertainment Inc.

WAS DEIN HERZ DIR SAGT – ADIEU IHR IDIOTEN!

Kinostart 20. Oktober 2022

Endlich mal wieder ein Film mit ellenlangem deutschen Verleihtitel. „Was Dein Herz Dir sagt – Adieu Ihr Idioten!“. Kann man machen, ist aber umständlich und kostet Zeit.

Ein knackiges „Adieu ihr Idioten!“ tut es doch auch und ist gleichzeitig der (vermeintliche) Abschiedssatz des Sicherheitsexperten JB (gespielt von Regisseur Albert Dupontel), bevor er sich mit einem Gewehr ins Jenseits befördern will. Bei seinem missglückten Selbstmordversuch ist zufälligerweise die Friseurin Claire anwesend, die „an einer Dauerwelle“ stirbt – So jedenfalls ihre Diagnose. Das Einatmen von zu viel Haarspray hat eine schwere Atemwegserkrankung ausgelöst, Claires Tage sind gezählt. Vor ihrem Tod will sie aber noch unbedingt ihren Sohn wiederfinden. Den hat sie mit fünfzehn zur Welt gebracht und im jugendlichen Wahn zur sofortigen Adoption freigegeben. Bei der gewünschten Familienzusammenführung achtundzwanzig Jahre später braucht sie die Hilfe von JB und dem blinden Archivar Monsieur Blin.

Regisseur Albert Dupontel bezeichnet seine Dramödie selbst als „burlesk“. Das klingt nach Ohnsorg-Theater. Aber die schräge Mischung aus Drama und Komödie ist näher an Terry Gilliam als an Heidi Kabel. Vor allem visuell ist der Film ambitioniert. Buntes Licht und im Studio gedrehte „Außenaufnahmen“ verstärken das leicht Surreale der Geschichte. So ganz rund tickt das dramatische Uhrwerk allerdings nicht – es gibt ein paar nicht zündende Witze zu viel – doch vor allem Virginie Efira als sterbenskranke Suze bewahrt den Film, allzu sehr ins Alberne abzudriften.

Wenn Vergleiche unbedingt sein müssen, dann ist „Was Dein Herz Dir sagt – Adieu Ihr Idioten!“ eine Mischung aus „Die wunderbare Welt der Amelie“, Godards „Breathless“ und sympathisch spinnertem Kunst-Drama mit französischem Charme. So oder so ein Film abseits der Norm, erfrischend anders und deshalb sehenswert.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Adieu Les Cons“
Frankreich 2020
87 min
Regie Albert Dupontel

alle Bilder © Happy Entertainment 

DER NACHNAME

Kinostart 20. Oktober 2022

Früher war alles besser. Nein, ehrlich: Früher war wirklich alles besser. Zum Beispiel „Das Traumschiff“. Bevor das tätowierte Skelett Kapitän wurde und seine aus dem Reiseführer abgelesenen Texte mit rollendem R ins Bordmikro rülpste, gab es mal gestandene, weißhaarige Männer, die die MS Deutschland mit sicherer Hand durch alle Untiefen deutscher Fernsehunterhaltung führten. Vorbei. Spätestens mit dem Tod von Heide Keller (hat auch bei den Drehbüchern mitgeholfen) ging alle Hoffnung fahren, der marode Kahn könnte jemals wieder eine Handbreit Wasser unterm Kiel bekommen. Nicht einmal Sascha „Softsex“ Hehn hatte „Lust“ weiterzumachen.

Im Gegensatz zu den aktuellen Traumschiff-Machern weiß Sönke Wortmann ganz genau, was deutsche Zuschauer wünschen: Schöne Häuser in schönen Landschaften, von schönen Menschen bewohnt, die sich pointierte Dialogduelle liefern. Fürs gute Aussehen sind Iris „Dorian Grey“ Berben, Florian David Fitz und Janina Uhse zuständig. Für Witz und Intellekt sorgen der stets zuverlässig zynische Christoph Maria Herbst, Caroline Peters und Justus von Dohnányi. Eine Besetzung, wie sie einer guten Traumschiff-Folge würdig wäre. Und wie bei der ZDF-Serie sind auch bei „Der Nachname“ die Lösungen aller Probleme schon zwanzig Drehbuchseiten vorher zu erkennen. Macht aber nix, denn wenn man weiß, wie eine Geschichte weitergeht, kann das mitunter eine meditative Wirkung entfalten.

Wie es sich für einen guten Fernseh– Kinofilm gehört, gibt es zu Beginn erst mal eine kurze „Was bisher geschah“-Sequenz (der erste Teil „Der Vorname“ war 2018 überaus erfolgreich), um direkt danach den klassischen „Zweiter-Teil“-Drehbuchkniff anzuwenden, nämlich das Verlegen der Handlung in ein fernes Land. Im Gegensatz zur missglückten „Sex and the City 2“-Abu-Dhabisierung gelingt der Locationwechsel bei „Der Nachname“ problemlos, denn im Grunde macht es keinen Unterschied, ob die unterhaltsame Geschichte um kleinere und größere Familienstreitigkeiten auf Lanzarote oder in München spielt.

„Der Nachname“ – eine nette Komödie im besten Sinne.

INFOS ZUM FILM

Deutschland 2021
91 min
Regie Sönke Wortmann

alle Bilder © Constantin Film

HALLOWEEN ENDS

Kinostart 13. Oktober 2022

Zeit heilt alle Wunden und wenn Du nicht darüber sprechen willst, dann zünde einen Kürbis an oder schreib ein Buch. Gesagt, getan. Die ewige Screamqueen Laurie (Jamie Lee Curtis) verarbeitet ihre fast 45 Jahre währende Geschichte mit Michael Myers in selbstgetippten Memoiren, Bestseller garantiert. Vier Jahre nach den Ereignissen von „Halloween Kills“ scheint der maskierte Serienkiller spurlos verschwunden zu sein. Doch als der junge Babysitter Corey versehentlich einen kleinen (und ausgesprochen nervigen) Jungen tötet (Es war ein UNFALL, euer Ehren!), zeigt das Städtchen Haddonfield seine hässliche Fratze. Corey wird trotz Freispruchs gemobbt, wo er geht und steht. Was all das mit Michael Myers zu tun hat? Berechtigte Frage, denn es dauert eine ganze Weile, bis der in die Handlung zurückfindet und wieder das Metzelmesser schwingen darf.

Was man dem Film anrechnen muss: Trotz unzähliger Persiflagen und Kopien in den letzten Jahrzehnten ist „Halloween Ends“ ein überraschend gut funktionierendes, effektvolles Stück Horrorkino geworden. Als trashiger Slasherfilm hat er alle Zutaten, die man von diesem Genre erwarten darf: ausreichend Schockmomente, ein bisschen selbstironischen Humor, nostalgische Flashbacks auf die Anfänge der Halloween-Saga und viel, viel Blut. Auch wenn sich die Geschichte vor allem in der ersten Hälfte weit vom klassischen Halloween-Franchise entfernt und sich dabei großzügig bei allerlei anderen Horrorklassikern bedient, ist es doch erfrischend, mal einer originellen Handlung zu folgen, die mehr als das typische Abarbeiten des „Zehn kleine Jägermeister“-Klischees zu bieten hat.

Am Ende (SPOILER!) ist Michael Myers dann aber wirklich und endgültig tot. Oder?

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Halloween Ends“
USA 2022
111 min
Regie David Gordon Green

alle Bilder © Universal Pictures International Germany

TRIANGLE OF SADNESS

Kinostart 13. Oktober 2022

Man nehme eine bunt zusammengewürfelte Crew aus Neureichen, Gutgebauten und Unter-Deck-Malochern, schüttle das Ganze bei einem Wirbelsturm ordentlich durch und erhalte einen überlangen Überlebensfilm.

Wobei der Titel „Triangle of Sadness“ keineswegs die europäische Entsprechung des Bermuda-Dreiecks ist, sondern ein Ausdruck der Schönheitschirurgie für das Botox-Areal zwischen den Augen. Plastisch wird es spätestens dann, wenn selbst dem Fäkalprofi beim Absaufen des Alptraumschiffs das Würgen kommt und man die Tüte am Vordersitz sucht.

Für die wenigen Schiffbrüchigen verkehrt sich im letzten Drittel auf einer rettenden Insel die bisherige hierarchische Ordnung: Die patente Klofrau (Dolly De Leon) wird zur Herrin der Fliegen, die das Männermodel (Harris Dickinson) mit Salzstangen gefügig macht und das Kommando über alle (u.a. Charlbi Dean, Iris Berben) schamlos genießt.

Fünf Jahre nach „The Square“ versucht Regisseur Ruben Östlund an seine schräge Kunstsatire anzuknüpfen, das Ergebnis ist eine slapstickartige Dramödie mit altbekannten Stereotypen und demokratisch verteilter Häme. Zugegebenermaßen auch mit einer wirklich wortwitzigen Szene, in der sich der ewig betrunkene marxistische Kapitän des Luxusliners (Woody Harrelson) ein ideologisches Rededuell mit einem ebenso besoffenen russischen Oligarchen (Zlatko Burić) liefert.

Warum ausgerechnet „Triangle of Sadness“ erneut die Goldene Palme von Cannes gewann, ist allenfalls durch freiwillige Selbstverpflichtung der Jury für selbsternannte Gesellschaftskritik zu erklären. Wirklich bedauerlich ist jedoch der frühe Tod von Hauptdarstellerin Charlbi Dean, der sympathischsten Figur des Films, die im August unerwartet mit 32 Jahren verstarb.

Anja Besch

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Triangle of Sadness“
Schweden, Deutschland, Frankreich, Großbritannien 2022
147 min
Regie Ruben Östlund

alle Bilder © Alamode Film

DER PASSFÄLSCHER

Kinostart 13. Oktober 2022

Auf der Berlinale 2022 lief im Wettbewerb viel mediokre Kost und quälende Kunst, die besseren Filme (so wie dieser) wurden in den Nebenprogrammen versteckt. Ein Trend in Fortsetzung. Schon im vergangenen Jahr folgte das Wettbewerbsprogramm zu sehr dem Kopf und weniger dem Herzen.

Das wiederum kann man von Cioma Schönhaus nicht behaupten: Der junge Mann ist ein wahrer Herzensmensch und läuft mit bester Laune durchs Leben. Obwohl er als Jude in Nazideutschland allen Grund zur Verzweiflung hätte. Vom sogenannten 3. Reich lässt er sich die Laune aber nicht verderben.

„Der Passfälscher“ erzählt die wahre Geschichte vom begnadeten Grafiker Cioma, der dank seiner Fähigkeiten wiederholt der Gestapo entkommen und gerade noch rechtzeitig in die Schweiz entfliehen kann. Mit ausgezeichneter Besetzung (Luna Wedler, Louis Hofmann – der ausnahmsweise mal nicht blank zieht – und Jonathan Berlin) hat Regisseurin Maggie Peren einen oft vergnüglichen, im besten Sinne leichten Film über Chuzpe und Hoffnung in düsteren Zeiten gedreht. Nicht die Neuerfindung des Kinos, aber doch sehenswert.

INFOS ZUM FILM

Deutschland / Luxemburg 2022
116 min
Regie Maggie Peren

alle Bilder © X Verleih

HORIZONT

Kinostart 06. Oktober 2022

Die Jugend von heute lässt sich leicht in zwei Kategorien unterteilen: Zum einen die spaßbesessenen TikTok-Junkies, deren Leben ein einziges LIKE ist, zum anderen die betroffenen Gretas und Lisas, bei denen die Welt kurz vor dem Untergang steht. Dumme Oberflächlichkeit vs. politisches Engagement. Oder geht doch beides zusammen? Diese tiefschürfende Frage stellt Emilie Carpentiers Film „Horizont“.

Die 18-jährige Adja (das Beste am ganzen Film: Tracy Gotoas) wohnt in einem Hochhausgetto am Rande der Stadt, direkt dahinter beginnt das weite Land mit Feldern und Ackerbau. Ausgerechnet dort soll nun ein kapitalistisches Albtraumprojekt entstehen. Die Regierung plant, die Bauern zu enteignen, um den größten Freizeitkomplex Europas zu bauen. Eine Gruppe von Aktivisten hat das Ackerland besetzt und es in eine „Zone zum Schutz vor umweltschädlicher Nutzung“ verwandelt. Unter den Aktivisten ist auch Arthur, den Adja zunächst als Hippie verspottet, um sich dann natürlich doch in ihn zu verlieben…ein hübscher junger Mann mit Werten: Wer kann da schon widerstehen?

Emilie Carpentiers Film ist von guter Absicht durchdrungen, aber die aufbegehrende junge Fridays for Future-Generation wird man mit so einer Schmonzette nicht erreichen. Gut gemeint ist eben nicht gleich gut gemacht. „Horizont“ fühlt sich wie eine französische Episode von „GZSZ“ an: zu platt, zu unglaubwürdig und vor allem mit jeder Menge skizzenhaft gezeichneter Klischeecharaktere bevölkert.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „L’Horizon“
Frankreich 2021
84 min
Regie Emilie Carpentier

alle Bilder © Arsenal Filmverleih 

RIMINI

Kinostart 06. Oktober 2022

Werner Böhm und Rex Gildo können davon kein Lied mehr singen: Wenn sich Schlagerstars nicht gerade durch übermäßigen Alkoholkonsum zugrunde richten oder aus dem Badezimmerfenster springen, dann enden sie entweder im Möbelmarkt oder am Ballermann. Nicht viel besser ist das Schicksal von Richie Bravo, der muss sein Geld als Sänger in Rimini verdienen.

Die besten Jahre liegen schon lange hinter ihm, das Jackett passt nur noch mit Mieder und sein Repertoire gibt er mittlerweile in Hotelhallen zum Besten. Doch Richie weiß, was Fans (und Frauen) wünschen: viel öligen Charme und reichlich körperliche Zuwendung. So könnte das noch ewig weitergehen. Doch eines Tages steht seine erwachsene Tochter vor ihm und verlangt Geld, denn Papa hat sich seit 18 Jahren nicht gemeldet, geschweige denn Unterhalt gezahlt.

Was ist der Superlativ von deprimierend? Rimini im Winter. Eine Stimmung, die der österreichische Film von Ulrich Seidl perfekt einfängt. Trauriger Ort, trauriger Typ: Richie Bravo ist ein Wrack, er säuft und raucht Kette. Bemitleidenswerte Auftritte vor greisem Publikum wechseln sich mit wenig erbaulichen Sexszenen ab, in denen Richie ältere Damen beglückt: Fanservice der besonderen Art. Daneben erzählt „Rimini“ die wie ein Fremdkörper wirkende Nebengeschichte von Richies dementem Vater, der in einem Pflegeheim dahinvegetiert und alte Nazilieder singt. Dank grandiosem Hauptdarsteller tragisch und lustig zugleich.

INFOS ZUM FILM

Österreich / Frankreich / Deutschland 2022
114 min
Regie Ulrich Seidl

alle Bilder © Neue Visionen Filmverleih

ALLES ÜBER MARTIN SUTER. AUSSER DIE WAHRHEIT.

Kinostart 06. Oktober 2022

Die große Zeit des Martin Suter scheint vorbei, nach ein paar genialen Werken um die Jahrtausendwende waren seine letzten Bücher zunehmend banal und enttäuschten sowohl Leser als auch Kritiker. Nun hat Regisseur André Schäfer dem Schweizer Romancier ein filmisches Denkmal gesetzt, in dem – der von Suter selbst erfundene Titel lässt es erahnen – alles und nichts über den Autoren verraten wird.

In der fiktionalen Dokumentation kommen Suter und seine Weggefährten zu Wort, vermischt mit nachgestellten Szenen aus den Romanen „Small World“ und „Die dunkle Seite des Mondes“. Der Autor selbst taucht dabei als stiller Beobachter auf, sozusagen als Schöpfer, der Teil seines Werks wird. Bei der visuellen Umsetzung wird dabei nicht gerade auf die Fantasie der Zuschauer vertraut. Heißt es im von Andreas Fröhlich gesprochenen Off-Text beispielsweise: „Er zündete sich eine Zigarette an und blickte aus dem Fenster“, dann – ja genau – sieht man eben das. Meta ist das nicht. Auch von den Zwängen und Mechanismen des Autorendaseins erfährt man nicht allzu viel. Die fast fiktiv wirkende Figur des brillantinefrisierten „Mannes von Welt“ Suter bleibt so unnahbar wie eine erfundene Figur in einem Roman. Nur in wenigen Szenen, wie der mit seiner Adoptivtochter oder bei den gemeinsamen Bühnenauftritten mit Musikerfreund Stephan Eicher blitzt der Mensch Martin Suter durch.

Schwer zu sagen, ob „Alles über Martin Suter. Ausser die Wahrheit“ ein adäquates Bild des Bestsellerautors zeichnet, immerhin ist es eine unterhaltsame Annäherung an das Phänomen Suter. Dass man am Ende des Films noch mal einen der frühen Romane des Autors lesen möchte, ist ja nicht das schlechteste Zeichen.

INFOS ZUM FILM

Deutschland / Schweiz 2022
90 min
Regie André Schäfer

alle Bilder © DCM

DER BAUER UND DER BOBO

Kinostart 29. September 2022

2014 missachtet eine deutsche Touristin in den österreichischen Bergen die goldenen Top 10 der „Verhaltensregeln für den Umgang mit Weidevieh“ (Absatz 3: Mutterkühe beschützen ihre Kälber, Begegnung von Mutterkühen und Hunden vermeiden!) und muss ihren Fehler mit dem Leben bezahlen. Eine Kuh fühlt sich vom angeleinten Hund der Touristin bedroht und trampelt die Frau zu Tode. Im nachfolgenden Schadensersatzprozess wird der Halter der Kuh zu einer Geldstrafe verurteilt. Richtig so, findet seinerzeit der Journalist Florian Klenk und schreibt einen entsprechenden Artikel im Wiener „Falter“. Das wiederum bringt den Bergbauern Christian Bachler derart auf die Palme, dass er seiner Wut in einem Facebook-Video Luft macht. Frei nach dem Motto: Das bourgeoise Pack in der Großstadt hat eh keine Ahnung und sollte sich mal lieber vor Ort ein Bild vom problematischen Bauerndasein machen. Diese Einladung zum „Praktikum“ nimmt Florian Klenk umgehend an und macht sich auf den Weg zum höchstgelegenen Biobauernhof in der Steiermark.

Besetzung ist das A und O, um mal eine berühmte deutsche Regisseurin zu zitieren. Kurt Langbein hat für seinen lehrreichen und zugleich unterhaltsamen Dokumentarfilm zwei Topcharaktere gefunden: Christian Bachler (der Bauer) hat einen ausgeprägten Sinn für bisweilen derben Humor, trägt sein Herz dabei wahlweise auf der Zunge oder gedruckt auf einem seiner scheinbar unendlich vielen Motto-Shirts. Florian Klenk (der Bobo – österreichischer Slang für einen bourgeoisen Bohemien) ist ein gescheiter Mann, der Bachler mit einer Crowdfundingaktion sogar Haus und Hof retten hilft. Aus den scheinbar gegensätzlichen Männern sind schnell Freunde fürs Leben geworden. Heute kämpfen sie Seite an Seite gegen EU-Regulierungswahnsinn und Klimawandel.

Der ideale Chefredakteur, der die Arbeit aller Mitarbeiter wohlwollend kommentiert und Verbesserungsvorschläge macht, oder die Dorfgemeinschaft, die eine ausgewogene Stammtischdiskussion über das Für und Wider der neuen Zeiten in der Bergwelt führt: Ein paarmal beschleicht einen bei Kurt Langbeins Film das Gefühl, inszenierten Szenen zuzuschauen. Aber manches muss wohl für die Kamera vereinfacht nachgestellt werden. Von diesen kleinen Unstimmigkeiten abgesehen, ist „Der Bauer und der Bobo“ ein mit Leichtigkeit erzählter Film, der empathische Zuschauer trotz aller Komik an der Gier und Ignoranz der Menschheit verzweifeln lassen wird. Es kann gar nicht genug solcher Filme geben.

INFOS ZUM FILM

Österreich 2022
96 min
Regie Kurt Langbein

alle Bilder © 24 Bilder

PETER VON KANT

Kinostart 22. September 2022

François ❤️ Rainer Werner. Nach der kongenialen Verfilmung des Fassbinder-Theaterstücks „Tropfen auf heiße Steine“ (2000) feierte in diesem Jahr Ozons Interpretation des 1972 entstandenen Films „Die bitteren Tränen der Petra von Kant“ Premiere bei der Berlinale.

Peter von Kant ist ein erfolgreicher Filmregisseur und ein echtes Scheusal. Seinen stummen Diener und Assistenten Karl behandelt er wie Dreck. Eines Tages lernt er den jungen Amir kennen. Peter verliebt sich unsterblich in den sexy 24-Jährigen. Er will Amir eine Karriere im Filmgeschäft ermöglichen, lädt ihn ein, bei sich zu wohnen. Neun Monate später ist aus dem schüchternen Jungen ein manipulativer, launischer Star geworden, der sich bald darauf von Peter trennt. Der Regisseur leidet.

„Peter von Kant“ ist ein echter Ozon – stilsicher, artifiziell und ungewöhnlich. Anders als in Fassbinders Film ist hier die Titelrolle männlich besetzt. Das beschert der Geschichte vom cholerischen Filmregisseur eine neue Ebene, denn Peter von Kant ist ganz offensichtlich dem echten Fassbinder nachempfunden. Hanna Schygulla, die auch im Original mitspielt, hat hier einen Gastauftritt als Mutter des Regisseurs. Die Titelrolle ist mit Denis Ménochet besetzt, der bereits zweimal für Ozon vor der Kamera stand.

Dramatisches Theater: François Ozon hat ein etwas zu wortreiches (weniger euphemistisch: geschwätziges), aber ausgezeichnet gespieltes Kammerspiel inszeniert.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Peter von Kant“
Frankreich 2021
84 min
Regie François Ozon

alle Bilder © MFA+ FilmDistribution

ATLANTIDE

Kinostart 08. September 2022

Bunt beleuchtete Motorboote fahren mit lauter Musikbeschallung durch nächtliche venezianische Kanäle. Das sieht zwar hübsch aus, ist für die Anwohner aber wahrscheinlich genauso enervierend wie die monströsen Kreuzfahrtschiffe, die bis vor Kurzem viel zu dicht an der Lagunenstadt vorbeiziehen durften. Regisseur Yuri Ancarani hat sich der eigenwilligen Szene aus jungen Männern und ihren Speedbooten drei Jahre lang angeschlossen und einen semi-dokumentarischen Film über sie gedreht.

„Atlantide“ könnte auch als Videoinstallation in einer Galerie oder als visuelle Begleitung einer Trance/Technoparty laufen. Dieser Stil kommt nicht von ungefähr, Yuri Ancarani ist ein italienischer Künstler, der sich komplett einer klassischen  Dramatik verweigert. Damit erinnert sein Film an Arbeiten des US-Regisseurs Larry Clark. Auch hier ist die Handlung eher eine dahingestreute Skizze von Liebe, Sehnsucht und Tod. Weil man es kaum besser beschreiben könnte, hier ein Auszug aus dem Pressetext:

„Dies ist kein Film über Venedig (…), sondern über seine „Backstreets“, die weiten Wasserwege der Lagune. Ancarani findet dort die seltene Schönheit einer kristallklaren Landschaft, die von einer Gruppe junger Leute bewohnt wird, deren Lebensinhalt es ist, Speedboote aufzumotzen und in einem Rhythmus aus Adrenalin und Chill-out zu leben.“

„Im Rhythmus aus Adrenalin und Chill-out leben“! Wer will das nicht? Weniger lyrisch ausgedrückt: „Atlantide“ ist ein audio-visuelles Erlebnis, ein softer LSD-Trip, untermalt von einem treibenden elektronischen Soundtrack, Hip-Hop und symphonischer Orchestermusik. Die stärkste Szene des Films (siehe Trailer unten) zeigt ein junges Mädchen, das im Drogenrausch auf einem Schnellboot durch das nächtliche Venedig gefahren wird und sich dazu ekstatisch bewegt. Aufregender wird es auch in den restlichen 100 Minuten nicht, darauf muss man sich einlassen wollen.
Jetzt noch mal in poetisch: „Atlantide“ ist ein kunstvoller Fiebertraum aus Musik, Licht und Farben.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Atlantide“
Italien / Frankreich / USA / Qatar 2021
104 min
Regie Yuri Ancarani

alle Bilder © Rapid Eye Movies

THREE THOUSAND YEARS OF LONGING

Kinostart 01. September 2022

Berlin ist gefährlich: Jederzeit kann man auf dem Gehweg von erwachsenen Männern in kurzen Hosen auf 70er-Jahre-Klapprädern umgefahren werden. Schrecken verbreiten auch lachende Rentnerpaare, die zu zweit auf einem Elektroscooter stark frequentierte Straßen bei Rot kreuzen. Schnell, die Opernfestspiele fangen gleich an. Allüberall posieren Ü-40-Models mit Stofftieren im Arm. Und dürfte die Zigarettenindustrie noch Plakate kleben, es wäre wahrscheinlich der Marlboro Man mit einem kuschligen Lamm im Arm darauf zu sehen. So cute! Was das alles mit „Three Thousand Years of Longing“ zu tun hat? Nichts. Außer, dass es der Film bei der galoppierenden Infantilisierung der Menschheit an der Kinokasse schwer haben dürfte. Denn „3TYoL“ (auch Akronyme sind modern und süß) ist ein Märchen für Erwachsene. Und die sterben scheinbar aus.

Dr. Alithea Binnie (Tilda Swinton) befreit beim Reinigen einer antiken Glasflasche versehentlich einen Dschinn (Idris Elba). Das Märchen beginnt, wie tausendundein Märchen vor ihm begonnen haben: Zur Belohnung hat sie drei Wünsche frei. Die Geschichtsgelehrte ist skeptisch, weiß sie doch, dass das Wünschen in der Literatur oft verheerende Folgen hat. Stattdessen bittet sie den Dschinn, aus seiner Vergangenheit zu erzählen, die sich über viele Jahrtausende erstreckt.

Der Film besteht in erster Linie aus Gesprächen und bietet im Gegenzug dazu herzlich wenig Action. Das liegt daran, dass die Hauptfiguren einen Großteil der Handlung in einem Hotelzimmer in Istanbul verbringen. In weiße Bademäntel gehüllt, wird über Liebe, Leben und Geschichte sinniert.

Das klingt nicht besonders aufregend, ist es über weite Strecken aber doch. Regisseur George Miller verbindet die Gegenwartsebene mit den mythischen Erzählungen des Flaschengeistes auf fesselnde Weise voll opulenter visueller Effekte. Fantasy, Märchen, philosophische Diskussion, Liebesgeschichte: „3TYoL“ lässt sich in keine Genreschublade stecken. Schön, dass es mal wieder ein originärer Film in die Kinos schafft, der nicht Teil des MCUs, DCUs oder irgendeines anderen Franchises ist.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Three Thousand Years of Longing“
USA / Australien 2022
108 min
Regie George Miller

alle Bilder © Leonine

MIT 20 WIRST DU STERBEN

Kinostart 25. August 2022

Muzamils Uhr tickt, denn „Gottes Befehl ist unausweichlich“. Kurz nach der Geburt prophezeit ein Imam Muzamils Mutter, der Junge werde mit 20 sterben. Vor Schreck verabschiedet sich der Vater auf Nimmerwiedersehen und die Mutter trägt fortan schwarz.

Im Dorf ist Muzamil der Todgeweihte, die Mitschüler reiben ihn mit Asche ein und „beerdigen“ ihn schon mal probehalber in einer Metallkiste. Nur Naima ist sich schon früh sicher, dass Muzamil ihr Mann fürs Leben wird.

Die Freundschaft mit dem weit gereisten Sulaiman öffnet Muzamil ein Jahr vor seinem 20. Geburtstag neue Perspektiven, sein bisheriges Weltbild gerät ins Wanken: Es gibt eine Alternative zum Aberglauben, er hat es selbst in der Hand. Regisseur Amjad Abu Alala sieht sein Regiedebüt als eine Einladung für die Freiheit: „Nichts und niemand kann dir jemals sagen: Das ist dein Schicksal. Du musst selber entscheiden, wie dein Leben sein wird.“

Die lakonische Coming-of-Age-Story ist erst der achte im Sudan produzierte Film überhaupt. Zwischendurch etwas schwerfällig, punktet das fast dokumentarische Drama mit magischen Bildern und gibt einen ungewohnten Einblick in ein vom Bürgerkrieg zerrissenes Land. Bei den Internationalen Filmfestspielen von Venedig gewann „Mit 20 wirst Du sterben“ den Preis als bester Debütfilm.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „You Will Die at Twenty“
Sudan / Ägypten / Deutschland / Frankreich / Katar / Norwegen 2019
103 min
Regie Amjad Abu Alala

alle Bilder © missingFILMs

JADGSAISON

Kinostart 18. August 2022

Das kennt man: Kaum auf der Autobahn, Berlin nur noch im Rückspiegel, wird das Radioprogramm unterirdisch. Ein nerviger Hit aus den 80er, 90er und 2000er-Jahren jagt den nächsten. „Dreams are my reality“, „Push It“ oder „Ich find’ dich scheiße“. Zum Abschalten. Genau wie dieser Film. „Jagdsaison“ zeigt einmal mehr eine Gruppe „Erwachsener“, die sich wie Teenager benehmen. Und da Frauen im Zuge der Gleichberechtigung genauso dämlich wie Männer sein können, präsentieren sich hier drei Thirtysomethings bei einem gemeinsamen SPA-Wochenende mit Jagdausflug und vielen unlustigen Zwischenfällen. Zum Brüllen komisch ist das nicht, nicht mal zum Schmunzeln. Nur zum Fremdschämen. Unterlegt ist das Unheil mit einem vollkommen unpassenden Mix aus oben genannter musikalischer Resterampe. Gruselig.

Die lieblos, ohne jeden Sinn für komödiantisches Timing inszenierte „Jagdsaison“ wurde von der Deutschen Film- und Medienbewertung (FBW) mit dem Prädikat „besonders wertvoll“ ausgezeichnet. Wenigstens das ist lustig.

INFOS ZUM FILM

Deutschland 2022
93 min
Regie Aron Lehmann

alle Bilder © TOBIS

NOPE

Kinostart 11. August 2022

Schon wieder drei Sterne! Lang-wei-lig!! Aber wie sonst soll Freude über die erste und zunehmender Frust über die zweite Hälfte eines Films bewertet werden? Irgendwas zwischen zwei und vier? Eben.

Worum es geht, verrät bereits der Trailer, der ein einziger großer Spoiler ist. Kurz gefasst: OJ und seine Schwester Emerald betreiben eine Farm, auf der sie Pferde für Hollywoodproduktionen trainieren. Eines Tages macht OJ eine beunruhigende Entdeckung am Himmel. So weit, so „Unheimliche Begegnung der dritten Art“.

„Nope“ nimmt sich viel Zeit, Spannung aufzubauen. Unwohlsein und die Ahnung, dass gleich etwas Entsetzliches passieren wird, kriechen den Nacken hoch. Problematisch nur, wenn all die aufgebaute Spannung immer wieder verpufft.

Jordan Peele gehört zu den interessantesten neuen Regisseuren Hollywoods, droht mit seinem dritten Spielfilm aber einen ähnlichen Weg wie der einstmals gefeierte M. Night Shyamalan einzuschlagen. Peeles Filme sind zwar um Längen cooler und besser inszeniert als beispielsweise „Old“ (oder fast alle anderen Filme Shyamalans), aber das Einzelkämpfertum – Drehbuch, Produktion und Regie aus einer Hand – tut der Sache nicht immer gut. Vor allem der Story hätten noch ein bisschen Feintuning und Straffung nicht geschadet. Zu Anfang gibt es eine besonders schön schreckliche Szene mit einem Schimpansen im Fernsehstudio. Diese und eine spätere Rückblende darauf sind für sich genommen schockierende Szenen mit echtem Horror. Im Gesamtfilm wirken sie aber wie ein Fremdkörper und haben nur sehr bedingt mit der restlichen Handlung zu tun.

So lässt „Nope“ mit gemischten Gefühlen zurück: Lob für die originelle Idee, die Besetzung und den tollen IMAX-Look. Doch das teils unausgegorene Drehbuch und das schwache Ende trüben den Spaß. Eine Empfehlung mit Einschränkung.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Nope“
USA 2022
130 min
Regie Jordan Peele

alle Bilder © Universal Pictures

DER ENGLÄNDER, DER IN DEN BUS STIEG UND BIS ANS ENDE DER WELT FUHR

Kinostart 11. August 2022

Pensionär Tom begibt sich auf eine lange Fahrt vom äußersten Norden Schottlands zum südlichsten Punkt Englands, Land’s End. Es ist eine finale Reise in die Vergangenheit, kürzlich verwitwet und nun selbst dem Tode nahe, hat der 90-Jährige noch eine letzte Angelegenheit zu erledigen. Als alter Sparfuchs benutzt er ausschließlich Öffis, denn mit denen dürfen Rentner in Großbritannien dank eines „Freifahrtausweises“ umsonst fahren. Wie das bei einem Roadmovie so ist, lernt Grumpy Cat Tom unterwegs allerhand Menschen kennen.

Klingt dröge, ist es über weite Strecken auch. Ein alter Herr, der von einem Bus in den nächsten steigt. Auch die Begegnungen unterwegs sind ausgesprochen vorhersehbar und wenig aufregend. Die Welt besteht nur aus hundsgemeinen Fieslingen und zuckersüßen Engeln. Ganz normale Menschen haben zugegebenermaßen deutlich weniger Unterhaltungswert, eine Fahrt mit der BVG ist der beste Beweis dafür.

DER ALTE MANN UND DER BUS

DER HUNDERTJÄHRIGE, DER IN DEN BUS STIEG UND EINSCHLIEF

9 € TICKET - DER FILM

Es hätte viele bessere Titel für „The Last Bus“ gegeben. Deshalb schon mal Punktabzug für den dämlichen, an Jonas Jonassons Bestseller anbiedernden deutschen Verleihtitel. „Der Engländer, der in den Bus stieg und bis ans Ende der Welt fuhr“ ist zwar inhaltlich richtig, aber schon gefährlich nah am Spoiler, denn viel mehr passiert in den 86 Minuten nicht. In der plumpen Metapher vom „Leben als Reise“ bleibt der brillante Hauptdarsteller Timothy Spall das einzig Sehenswerte.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „The Last Bus“
GB 2021
86 min
Regie Gillies MacKinnon

alle Bilder © Capelight Pictures

BULLET TRAIN

Kinostart 04. August 2022

Wozu mit langen Inhaltsangaben aufhalten, wenn es der Klappentext der Romanvorlage perfekt zusammenfasst: Ein Zug. Fünf Killer. Ein Koffer voller Geld.

Und noch ein typischer Guy-Ritchie-Film, den Guy Ritchie nicht gedreht hat. Das Beste an der Highspeed-Action-Komödie in einem japanischen Schnellzug ist zweifelsohne Brad Pitt als Auftragskiller in Existenzkrise. Regisseur David Leitch bleibt seinem überdrehten Comicstil aus „Atomic Blonde“ und „Deadpool 2“ treu und deckt die ganze Bandbreite von ziemlich lustig bis absolut dämlich ab. „Bullet Train“ ist ein blutiges Gemetzel mit hohem Bodycount, kombiniert mit Selbstironie. Das ist nun wirklich nichts Neues, in diesem Tempo aber wenigstens unterhaltsam.

Dank halbwegs interessanter Charaktere und Dialogen aus dem Tarantino-Handbuch nicht ganz so hirnlos wie befürchtet, aber auch längst nicht so clever, wie es die Macher glauben. Slapstickhaftes Popcornkino für zwei Stunden Eskapismus.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Bullet Train“
USA 2022
126 min
Regie David Leitch

alle Bilder © Sony Pictures