FRAGEN SIE DR. RUTH

Kaum jemand hat den prüden US-Amerikanern seit Mitte der 1970er-Jahre so viel Wissen über ihr Intimleben vermittelt, wie die kleinwüchsige jüdische Immigrantin Ruth Westheimer. 
„Ich bin Feministin, aber keine Radikale“, um diesen Satz aus der berühmten Sexualtherapeutin zu kitzeln, bedarf es einiger Argumentationskunst ihrer Enkeltochter. Als klassische Feministin hat sich die 1928 in Frankfurt am Main geborene Karola Ruth Siegel nie gesehen. Sollen andere ihre BHs verbrennen, sie beantwortet lieber mit einnehmender Offenheit verklemmte Fragen rund um das Thema Sex.

„Ich habe meine Mutter noch nie weinen gesehen“, sagt ihre Tochter Miriam – ein Wunder, angesichts der schon in jungen Jahren erlittenen Schicksalsschläge. Der frühe Verlust der Eltern im Holocaust, die von Angst und Unsicherheit geprägte Kindheit in einem Schweizer Waisenhaus – Tragödien haben die 1,40 m kleine Ruth zu innerer Größe heranwachsen lassen. Nach den gescheiterten ersten beiden Ehen – „legalisierte Liebesbeziehungen“, wie sie es nennt, findet sie das große Glück erst in der dritten Ehe mit Manfred Westheimer.

„Sex für Dummies“, „The Art of Arousal“, „10 Geheimnisse für richtig guten Sex“: Seit den 1980er-Jahren veröffentlicht Dr. Ruth über 40 Sachbücher zum Thema Sex, unterrichtet an Universitäten, ist Star ihrer eigenen Radio- und TV-Sendungen und Dauergast bei allen populären Talkshows.
Regisseur Ryan White nutzt in seiner filmgewordenen Liebeserklärung neben Interviews mit Weggefährten und zahllosen TV-Ausschnitten, originellerweise auch Zeichentricksequenzen, um einschneidende Erlebnisse in Ruth Westheimers Leben nachzuerzählen.

Funfact: Seit vielen Jahren gehört neben Liliane Bettencourt (angeblich 2017 verstorben) auch Dr. Ruth Westheimer zum engsten Freundeskreis der Lobi AG. Regelmäßig finden Kaffee- und Champagnerkränzchen zwecks Austausch des neusten Klatsches statt. 

FAZIT

Heiterer und bewegender Dokumentarfilm über die einzigartige „Grandma Freud“.

Originaltitel „Ask Dr. Ruth“
USA 2019
100 min
Regie Ryan White
Kinostart 27. August 2020

FOLLOW ME

Nein, „Follow me“ ist leider kein Biopic über die Dali-Muse Amanda Lear und ihren größten Hit von 1978, sondern nur ein mittelmäßiger Horror-Thriller aus den USA.
Nach „Escape Room“ von 2017 und „Escape Room“ von 2019, kommt nun ein weiterer Film zum Thema „Rätselräume“ ins Kino. Der Ablauf wie gehabt: Ein paar Freiwillige – diesmal die nervigste Spezies Mensch überhaupt: Influencer – müssen diverse Rätsel lösen, um sich aus gefährlichen Situationen zu befreien. Regisseur Will Wernick bedient sich dabei einer ungewöhnlichen Herangehensweise: Alle Protagonisten sind ausnahmslos unsympathisch – das erschwert das Mitleiden.

Der vermeintlich coole Social-Media-Star Cole macht sich mit vier Freunden auf den Weg nach Russland und schon der Flug dorthin erweist sich als Belastungsprobe für den Zuschauer. So viel dummes Gepose in die Selfiekamera hat man zuletzt im Mauerpark beim Schulausflug einer achten Klasse aus Mannheim gesehen. In Moskau angekommen, erwartet die Freunde dann das ultimative, perfekt auf sie zugeschnittene Escape-Room-Spiel. Natürlich wird aus anfänglichem Spaß bald blutiger Ernst. Hier nimmt die konstruierte Geschichte endlich ein bisschen Fahrt auf, doch am (von David Finchers „The Game“ geklauten) Ende bleiben viele, viele Fragen offen.

FAZIT

Gebremster Torture-Porn im Stil von „Saw“ und „Hostel“ – trotz aller Logikfehler stellenweise spannend.

Originaltitel „Follow Me“
USA 2019
92 min
Regie Will Wernick
Kinostart 20. August 2020

EXIL

Deutschland im Hochsommer. Die Kamera klebt am widerlich verschwitzten Hemdkragen von Xhafer. Der Kosovo-Albaner lebt mit seiner Frau und den beiden Töchtern in einem Reihenhaus, arbeitet als Pharmaingenieur. Könnte alles so bieder-schön integriert sein, würde sich Xhafer nicht gemobbt fühlen. Mails werden „versehentlich“ nicht weitergeleitet, die oft angemahnten Testergebnisse bleiben aus, es wird getuschelt. Eines Tages hängt eine tote Ratte an seinem Gartentor. Xhafers diffuses Misstrauen gegen Kollegen, seine Frau und sich selbst wächst, er steigert sich zusehends in eine Paranoia. Bald stellt sich die Frage: Ist Xhafer der Verfolgte oder ist er selbst die Bedrohung?

Hauptdarsteller Mišel Matičević gelingt es, den Charakter dieses zutiefst verunsicherten Mannes glaubhaft herauszuschälen. Sandra Hüller spielt ebenso überzeugend seine gepeinigte Ehefrau. Man würde der Schauspielerin nach all den Dramen, in denen sie zuletzt mitgewirkt hat, mal wieder eine etwas leichtere Rolle wünschen, denn komödiantisches Talent besitzt sie zweifellos, wie sie in „Toni Erdmann“ gezeigt hat.

„Exil“ ist harte Kost. Giftige Ockertöne und Düsternis erzeugen eine kafkaeske Beklemmung. Das Sezieren der Psyche des Protagonisten muss man aushalten können. Verlorene Heimat, ausgeschlossen sein, Integration – „Exil“ berührt viele Themen und hängt noch lange nach. 

FAZIT

Ein düsterer Alptraum, Depression als Film. Genau richtig für einen lauen Sommerabend im Kino.

Deutschland / Belgien / Kosovo 2020
121 min
Regie Visar Morina
Kinostart 20. August 2020

WEGE DES LEBENS – THE ROADS NOT TAKEN

Leo (Javier Bardem) ist am Ende – hilflos, sprachlos, apathisch. Der mexikanische Schriftsteller lebt alleine in New York, leidet unter fortgeschrittener Demenz. Seine sich liebevoll kümmernde Tochter Molly (Elle Fanning) erkennt er schon lange nicht mehr.
Plötzlich springt die Handlung: Leo ist mit Dolores in Mexiko verheiratet, beide trauern um ihren toten Sohn. Dann wieder ein Sprung: Leo als Schriftsteller auf einer griechischen Insel, der kein Ende für seinen Roman findet.

„Wege des Lebens – The Roads Not Taken“ ist eine Montage der Möglichkeiten, Parallelentwürfe eines Lebens, die Leo in seinem Geist durchwandert. Regisseurin Sally Potter vermischt die verschiedenen Lebenswege, die Leo in sich trägt, mit der entglittenen Realität seines Daseins. Klingt verkopft? Ist es auch.

FAZIT

Javier Bardem ist – natürlich – grandios.

Originaltitel „The Roads Not Taken“
GB / USA 2020
86 min
Regie Sally Potter
Kinostart 13. August 2020

THE WITCH NEXT DOOR

Der 17-jährige Ben jobbt in der örtlichen Marina eines beschaulichen Touristenstädtchens. Doch die sommerliche Idylle währt nicht lange, schon bald häufen sich beunruhigende Vorkommnisse: Die zwei Kinder der Nachbarsfamilie verschwinden spurlos, kurz darauf kann sich ihr Vater nicht mehr erinnern, jemals Kinder gehabt zu haben, und auch die Mutter verhält sich ausgesprochen seltsam. Ben entdeckt, dass ein Jahrtausende alter böser Geist von der Nachbarin Besitz ergriffen hat. Hex, Hex!

Die Covid-19-Pandemie macht’s möglich: „The Witch Next Door“, ein veritables C-Picture, führte im Mai/Juni diesen Jahres die US-Kinocharts an. Nur auf den ersten Blick überraschend, denn es war der einzige Neustart in dieser Zeit der geschlossenen Kinosäle. Die Regiebrüder Pierce bedienen sich in ihrem zweiten Langfilm recht schamlos bei Stephen Kings „Es“, der Netflix Serie „Stranger Things“, „Alien“ und anderen Horrorklassikern. Die Zitatensammlung bleibt  hinter den Originalen zurück, bietet dafür aber ein charmantes 1980er-Jahre-Feeling.

FAZIT

„The Witch Next Door“: Coming-of-Age-Horror mit einem unerwarteten Schlusstwist und liebevoll gemachten analogen Effekte.

Originaltitel „The Wretched“
USA 2019
91 min
Regie The Pierce Brothers
Kinostart 13. August 2020

KOKON

Bitch! Spermarutsche! – Es herrscht ein rauer Umgangston zwischen den Berliner Teenagern Nora (Lena Urzendowsky) und Jule (Lena Klenke). Die beiden Schwestern hängen mit ihrer besten Freundin im Jahrhundert-Sommer 2018 in Kreuzberg ab. Mittendrin, am Kottbusser Tor. Noras und Jules Mutter verbringt die Abende betrunken in der Eckkneipe, die Mädchen sind auf sich alleine gestellt. 

Im Sportunterricht, auf dem Schwebebalken: Es gibt für Nora kaum einen ungünstigeren Moment, ihre erste Periode zu bekommen. Während sich die Mitschüler*innen peinlich berührt abwenden, erweist sich „die Neue“, Romy, (Jella Hase) als patente Hilfe. Sie wäscht die blutige Hose kurzerhand aus und bietet dem verunsicherten Mädchen einen Joint „gegen die Schmerzen“ an. Nora ist spontanverliebt. Heimliches Schwimmen nachts im Prinzenbad, Tanzen auf dem CSD, der erste Sex: Unter Romys Einfluss entwickelt sich die schüchterne Nora bald von der grauen Maus zum wilden Mädchen.

Kameramann Martin Neumeyer fängt die sommerliche Kreuzberg-Liebesgeschichte stimmungsvoll ein. Vom Handyhochformat über beengtes 4:3 bis zum – mit der Entdeckung der Liebe einhergehenden – Öffnen ins Breitwandbild: Fast schon ein Muss in jedem neueren Arthousefilm ist auch hier das Spiel mit den verschiedenen Bildformaten. Regisseurin und Drehbuchautorin Leonie Krippendorff hat dabei ein gutes Gehör für authentische Dialoge und inszeniert ihre Darsteller glaubhaft und ohne jede Peinlichkeit. Jella Haase mag für ihre Rolle als bezirzende Schülerin ein paar Jahre zu alt sein – das wird mit einem lakonischen „sie ist zweimal sitzen geblieben“ erklärt – doch das schaut sich weg. Zentrum und Herz des Films ist ohnehin Lena Urzendowsky: eine Entdeckung, die demnächst in der Neuverfilmung von „Christiane F. – Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ zu sehen ist.

FAZIT

Schöne Coming-of-Age-Geschichte über sexuelles Erwachen und die erste große Liebe.

Deutschland 2020
94 min
Regie Leonie Krippendorff
Kinostart 13. August 2020

IRRESISTIBLE

Jon Stewart ist all das, was Oliver Welke gerne wäre: lustig, sophisticated und mit einem perfekten Sinn für Timing ausgestattet. Seine Late-Night-Comedy „Daily Show“ war das unerreichte Vorbild für die schenkelklopfende „ZDF heute-show“. Die beiden Sendungen miteinander zu vergleichen ist in etwa so, als würde man die „Lindenstraße“ in einem Atemzug mit „Breaking Bad“ nennen – beides Dramen, beide fürs Fernsehen gemacht und trotzdem liegen Galaxien dazwischen. Stewart hatte 2015 die Nase voll, beendete kurzerhand sein TV-Dasein (ausgerechnet kurz vor Trumps Präsidentschaft) und zog sich vorerst aus der Öffentlichkeit zurück. Nun legt er nach fünf Jahren Pause mit „Irresistible“ seine zweite Spielfilm-Regiearbeit vor.

Steve Carell (fleißig) spielt Gary, einen Politstrategen für die US-Demokratische Partei. Als er eines Tages die leidenschaftliche Rede des pensionierten Marines Jack Hastings (Chris Cooper) in einem YouTube-Video sieht, glaubt er, mit diesem Kandidaten, die Wähler im mittleren Westen zurückgewinnen zu können. Kurzerhand organisiert er eine Kampagne, um Colonel Hastings das Bürgermeisteramt in der Kleinstadt Deerlaken zu verschaffen. Nach einem großen Medienecho wollen die Republikaner ebenfalls mitmischen und schicken Garys Erzfeindin Faith (Rose Byren), die den gegnerischen Kandidaten pushen soll.

Ein toller Cast (bis in die kleinsten Nebenrollen), ein paar gelungene Szenen und guter Wille reichen nicht, „Irresistible“ zu einem empfehlenswerten Film zu machen. Stewart will mit seiner Komödie das dringend reformbedürftige amerikanische Wahlsystem anklagen (US-Wahlsystem in drei Minuten erklärt). Doch gut gemeint ist nicht gleich gut gemacht. Die Charaktere und die Geschichte bleiben zu vage. Hauptschuld trägt das schwache Drehbuch, das sich von einer ganz netten zur nächsten mittelmäßigen Idee schleppt, ohne dabei jemals richtig in Fluß zu kommen.

FAZIT

Für eine Komödie nicht lustig genug, für eine Politsatire nicht bissig genug. Nur okay.

Originaltitel „Irresistible“
USA 2020
102 min
Regie Jon Stewart
Kinostart 06. August 2020

THE KING OF STATEN ISLAND

Pech gehabt: Das hätte eine brillante Analyse und Marcel-Reich-Ranicki-würdige Kritik werden können, doch leider verschwand das gerade fertig geschriebene Dokument im Papierkorb – und war nach versehentlicher Löschung desselben für immer verloren. Deshalb gibts hier nur eine schale Kopie des genialen Originals:

Scott ist ein Loser, der sein Leben nicht gebacken kriegt. Mit 24 wohnt er noch immer bei seiner Mutter und verbringt ansonsten den ganzen Tag kiffend mit seinen Kumpels. Sein Traum, Tattoo-Künstler zu werden, bleibt Wunschdenken. Außer ein paar Kritzeleien auf willigen Versuchskaninchen (ihm selbst und seinen Freunden) hat er nichts vorzuweisen. Der frühe Verlust des Vaters, der bei einem Einsatz als Feuerwehrmann ums Leben kam, belastet den Jungen noch 17 Jahre später. Als ihm seine Mutter eines Tages den großmäuligen Feuerwehrmann Ray als ihren neuen Freund präsentiert, beginnt Scott sein ewiges Slacker-Dasein infrage zu stellen.

Ein Miesepeter, der jeden, der ihm zu nahe kommt vor den Kopf stößt. Es fällt schwer, Sympathien für Scott zu entwickeln. Pete Davidson, Eingeweihten bislang höchstens als Ensemblemitglied von „Saturday Night Live“ oder Ex-Freund von Ariana Grande bekannt, ist mit seinem ungewaschenen, ewig unausgeschlafenen Aussehen wie für die Rolle gemacht. 

Marisa Tomei als Mutter Margie und Bill Burr als ihr Lover Ray schaffen es, gleichzeitig dramatische Tiefe und komödiantische Leichtigkeit auf die Leinwand zu zaubern. Sie sind die heimlichen Stars des Films, gerne würde man mehr von ihnen und weniger von den zahlreichen und nur mäßig lustigen Szenen mit Scott und seinen Kumpels sehen.

FAZIT

Regisseur Judd Apatow beweist ein Händchen für komische Absurditäten, exakte Beobachtungen und authentische Gefühle. Mit „The King of Staten Island“ ist ihm eine sehr persönliche Tragik-Komödie geglückt, die Anleihen am Leben seines Hauptdarstellers Pete Davidson nimmt: Auch dessen Vater war Feuerwehrmann und kam bei den Terroranschlägen von 9/11 ums Leben.

Originaltitel „The King of Staten Island“
USA 2020
137 min
Regie Judd Apatow
Kinostart 30. Juli 2020

BERLIN ALEXANDERPLATZ

Wäre Rainer Werner Fassbinder noch am Leben und würde Alfred Döblins Roman zum zweiten Mal verfilmen – vielleicht käme etwas ähnlich Aufregendes dabei heraus.

In fünf Kapiteln (plus Epilog) erzählt das Drama die düstere Geschichte vom Flüchtling Francis aus Westafrika. Im heutigen Berlin trifft er auf den durchgeknallten Drogendealer Reinhold und die Leben der beiden Männer verbinden sich zu einer verhängnisvollen Schicksalsgemeinschaft. Immer wieder versucht Reinhold, Francis für seine Zwecke einzuspannen, immer wieder widersteht der. Als sich Franz (so hat ihn Reinhold inzwischen zwecks „Germanisierung“ getauft) in das Escort-Girl Mieze verliebt, verspürt er seit Langem so etwas wie Glück.

„Berlin Alexanderplatz“ wird spalten. Regisseur Qurbani wendet sich mit seiner Verfilmung nicht an die breite Masse. So wie es Menschen gibt, die Freude an einer 3-stündigen Volksbühnen-Inszenierung haben, so wird es (hoffentlich) auch Zuschauer geben, die diesen Film lieben. Andere, die nach 20 Minuten entnervt aus dem Kino fliehen, verpassen einen der interessantesten deutschen Filme der letzten Zeit.

Welket Bungué, Jella Haase, Joachim Król – durchweg großartige Schauspieler. Aber vor allem Albrecht Schuch als Reinhold stiehlt mit seiner Präsenz jede Szene. Der Film glänzt: Kamera, Schnitt, Musik, Ausstattung – das ist alles gekonnt, von höchster Qualität und packend inszeniert. Selbst an die in der Jetztzeit befremdlich wirkenden Dialoge – Qurbani lässt seine Figuren immer wieder Originalsätze aus dem Roman sprechen – hat man sich rasch gewöhnt. 

FAZIT

Kraftstrotzendes Kino.

Deutschland / Niederlande 2020
183 min
Regie Burhan Qurbani
Kinostart 16. Juli 2020

ALS WIR TANZTEN

Merab und Irakli studieren Tanz an der Akademie des Georgischen Nationalballetts in Tiflis. Die jungen Männer hoffen auf einen festen Platz im Ensemble. Für Merab ist es der einzige Ausweg aus einem Leben ohne Perspektive. Anfangs Konkurrenten, kommen sich die beiden bald näher, werden ein Liebespaar. Im homophoben Georgien müssen sie ihre Beziehung geheim halten.

Das Drama des schwedischen Regisseurs Levan Akin hält gekonnt die Waage zwischen mitreißenden Tanzszenen und authentischen Einblicken in das Alltagsleben Georgiens. Tiflis wird als marode Stadt gezeigt, in der trotzt Handy und Clubszene die Zeit stehen geblieben zu sein scheint. Hauptdarsteller Levan Gelbakhiani ist so knuffig, dass man ihn sich ohne weiteres ins Regal setzen könnte. Er tanzt und spielt die Verwirrung der Gefühle großartig.

Für die Dreharbeiten musste ein geändertes Drehbuch vorgelegt werden – im queer-feindlichen Georgien hätte es sonst keine Genehmigungen gegeben. Bei der Uraufführung versammelten sich hunderte nationalistische und orthodoxe Protestler, darunter auch einige Priester. Sie verbrannten eine Regenbogenflagge und zeigten Plakate wie „Stoppt LGBT-Propaganda in Georgien“ und „Homosexualität ist Sünde und Krankheit“.
Willkommen im Europa 2020.

FAZIT

Interessanter Blick in ein fremdes Land am Rande Europas.

Originaltitel „And Then We Danced“
Schweden / Georgien 2019
113 min
Regie Levan Akin
Kinostart 23. Juli 2020

WAVES

„Waves“ hat das Zeug zu einem modernen Klassiker. Wie der Rhythmus von Ebbe und Flut wechseln sich über 135 Minuten Katastrophen und Glück ab. Eine berührende Geschichte über Liebe, Vergebung und familiärem Zusammenhalt, dem Oscar-Gewinner von 2017 „Moonlight“ nicht unähnlich.

In zwei Kapiteln wird das Schicksal der afroamerikanischen Familie Williams beleuchtet: Zunächst steht der 18-jährige Sohn Tyler im Mittelpunkt (Kelvin Harrison Jr.). Seine Freundin liebt ihn, an der Highschool ist er der Star im Wrestlingteam. Aber der Teenager steht unter Druck. Eine Schulterverletzung und damit das Aus für seine ambitionierten Pläne ist nur eines von vielen Problemen. Schwierig auch das tagtägliche Kräftemessen mit dem dominanten Vater (Sterling K. Brown), gegen den er sich nur schwer behaupten kann.
Eine Katastrophe bahnt sich im Zeitlupentempo an. Nach gut der Hälfte verschiebt sich die Perspektive des Films, erzählt dann von Tylers jüngerer Schwester Emily (Taylor Russel) und deren erster Liebe. 

Regisseur Shults hat mit „Waves“ ein episches Familiendrama in leuchtenden Farben erschaffen. Die außergewöhnliche Bildsprache wechselt immer wieder das Format, von Breitbild zu beengtem 4:3, je nach Gemütslage der Figuren. Trent Reznor und Atticus Ross liefern dazu einen extrem effektiven Soundtrack, treiben manche Szene bis an die Schmerzgrenze.

FAZIT

„Waves“ ist keine leichte Kost und stellenweise vielleicht auch kein perfekter Film, aber er wirkt nach.

Originaltitel „Waves“
USA 2019
135 min
Regie Trey Edward Shults
Kinostart 16. Juli 2020

WIR ELTERN

„Erziehung ist die organisierte Verteidigung der Erwachsenen gegen die Jugend.“
Das wusste schon Mark Twain vor mehr als hundert Jahren. Erziehung kann ja theoretisch auch bedeuten: sanft in die richtige Bahn lenken und sich an der Entwicklung des Kindes erfreuen. Butterweiches Verständnis für alles oder dauerndes Reglementieren machen aus dem Kind selten einen brauchbaren Erwachsenen. So wird höchstens erfolgreich die Entwicklung zur Selbstständigkeit verhindert. 

In diesem Sinne zeigt das Regieduo Bergkraut/Schweikert in seiner sehr rough gedrehten Schweizer Homestory „Wir Eltern“ eine ganz normale furchtbare Familie. Man weiß gar nicht, wen man nerviger finden soll: die spätpubertären Zwillingssöhne, Anfang 20, die partout nicht aus dem Hotel Mama bzw. Papa ausziehen wollen. Oder die viel zu verständnisvollen Akademiker-Eltern, die, wenn sie dann mal auf den Tisch hauen, garantiert keine Konsequenzen folgen lassen.

Frei nach wahren Begebenheiten spielt hier der Vater und Regisseur Eric Bergkraut mit seinen eigenen Söhnen das mitunter schwierige Familienleben nach. Lustige Idee: Zwischendurch geben echte Experten Erziehungstipps.

FAZIT

Der Film wird in den deutschen Kinos in einer von den Darstellern selbst gesprochenen hochdeutschen Version gezeigt. Die Synchronisation schadet dem Film sehr. Wer die Möglichkeit hat, sollte sich lieber die Schweizer Originalversion mit Untertiteln anschauen.

Schweiz 2019
94 min
Regie Eric Bergkraut und Ruth Schweikert
Kinostart 16. Juli 2020

MARIE CURIE – ELEMENTE DES LEBENS

Marie Curie liegt im Sterben. Schon wieder möchte man fast sagen, denn es ist gerade mal vier Jahre her, dass das Leben der zweifachen Nobelpreisträgerin zuletzt  verfilmt wurde. Auf der Bahre, eilig durch lange Krankenhausgänge geschoben, zieht ihr Leben noch einmal an ihr vorbei. Kein besonders origineller Einstieg in ein eher konventionelles Biopic.

Auch dieses gut gemeinte Werk werden zukünftige Schülergenerationen über sich ergehen lassen müssen. Wie im Lehrbuch hakt „Radioactive“ (so der Originaltitel) artig die Lebens-Best-Of-Stationen der visionären Wissenschaftlerin ab. 1903 erhält Curie als erste Frau (gemeinsam mit ihrem Mann Pierre) den Nobelpreis für Physik, Jahre später einen weiteren für Chemie. Zwischendurch weist der Film auf die zwiespältigen Folgen der Strahlenforschung hin. In seltsam fehl am Platz wirkenden Sequenzen werden eine Tumorbehandlung, der Bombenabwurf auf Hiroshima und natürlich das Reaktorunglück von Tschernobyl eingestreut. Das soll wohl eine mahnende Erinnerung an das sein, was da später noch kam. Hilfreich für diejenigen, die sich noch nie im Leben mit den Vor- und Nachteilen von Radioaktivität beschäftigt haben, für alle anderen unnötige Belehrung, die den Fluss der Erzählung stört. 

Dass „Marie Curie – Elemente des Lebens“ auf einer Graphic Novel („Radioactive: Marie & Pierre Curie: A Tale of Love and Fallout“) basiert, merkt man ihm leider viel zu selten an. Visuell ist das zwar alles ganz hübsch und stimmungsvoll, aber nicht besonders mutig. Erstaunlich, denn Regisseurin Marjane Satrapi ist selbst Comiczeichnerin und hat vor 13 Jahren mit „Persepolis“ ein bahnbrechendes Debüt abgeliefert.

FAZIT

Løtta und Tøby würden aufs Schärfste widersprechen, aber in erster Linie macht der direkte Kontakt mit Radium wohl vor allem eins: krank. Das müssen auch Marie und ihr Ehemann am eigenen Leib erfahren. Mit heutigem Kenntnisstand würde man sagen: „Selbst schuld, an der ganzen blutigen Husterei“, denn dass Marie jeden Abend ein kleines, grün leuchtendes Fläschchen Radium mit ins Bett nimmt, bleibt nicht ohne Folgen.

Originaltitel „Radioactive“
Großbritannien 2020
103 min
Regie Marjane Satrapi
Kinostart 16. Juli 2020

INTO THE BEAT – DEIN HERZ TANZT

„Hey Sweety, Du musst Deinen eigenen Style fahren. Wow, crazy!“
Ja, so reden sie, die jungen Leute von heute. Besonders, wenn sie aus der Tanzszene kommen. Katya steht kurz vor der Erfüllung ihres Lebenstraums: In sieben Tagen findet das Vortanzen für die New York Ballet Academy statt, sie hofft auf ein Stipendium. Doch dann verliebt sie sich Hals über Kopf in den Hip-Hop-Tänzer Marlon aka Alien – neues Glück, neue Pläne: Zusammen wollen sie sich einen Platz bei der weltberühmten Steetdance-Gruppe Tiger-Crew ertanzen.

Bei „Into the Beat“ trifft Klischee auf Klischee auf Klischee. Klar, dass im Jahr 2020 einer jungen Balletteuse bei ihrer ersten Begegnung mit modernem Tanz die Augen übergehen, weil, so etwas hat sie noch nie gesehen! Die Rolle des Internets bei Jugendlichen wird offenbar überschätzt. Selbstverständlich entwickelt sie innerhalb weniger Tage meisterliches Können, denn wer Dornröschen tanzen kann, der kann auch Breakdance. Klassische Tänzer erkennt man in diesem Film übrigens an ihrer intriganten Humorlosigkeit, während Hip-Hopper den ganzen Tag super drauf sind und Hoodies tragen. Eine echt crazy Family eben. „Hey, Du checkst das nicht!“ Hört man den jugendlichen Gesprächen zu, setzt unvermittelt Fremdscham ein. Noch schlimmer die Erwachsenen: Ein Kalenderspruch reiht sich da an den nächsten, als hätten sie alle die Vera-Drombusch-Dialogschule besucht.

Für einen modernen Tanzfilm überraschend uninspiriert gedreht und inszeniert. Das ist meilenweit von US-Vorbildern wie „Step Up“ entfernt.

FAZIT

Ach so! Das ist ein KiKA-Film! Deshalb erinnert „Into The Beat“ an eine modernisierte Version der biederen ZDF-Weihnachtsserie „Anna“.

Deutschland 2020
98 min
Regie Stefan Westerwelle
Kinostart 16. Juli 2020

HELMUT NEWTON – THE BAD AND THE BEAUTIFUL

„Männer interessieren mich nicht – sie sind nur Accessoires, wie ein Hut oder eine Sonnenbrille.“ Dieses gestrenge Urteil über das eigene Geschlecht stammt von Helmut Newton, der sich konsequenterweise zeit seines Lebens am liebsten mit Frauen umgab. Als ihn das Magazin Vogue einmal bittet, eine Fashionstrecke mit Herren-Trenchcoats zu schießen, lässt er das männliche Model kurzerhand weg, zieht selbst den Mantel über und fotografiert sich neben einer langbeinigen Nackten. Eine typische Newton-Geschichte, der laut eigener Auskunft auch mit 80 noch ein „Naughty Boy“ war.

Gero von Boehm lässt in seinem Dokumentarfilm dann auch ausschließlich Frauen zu Wort kommen: „Die Arbeit mit Newton hat mir die Stärke für meine spätere Karriere gegeben“, lobt die britische Schauspielerin Charlotte Rampling fast 50 Jahre nach dem berühmten Shooting Charlotte Rampling at the Hotel Du Nord“ den Fotografen. Zu den weiteren hochkarätigen Interviewpartnerinnen zählen Anna Wintour, Grace Jones, Claudia Schiffer, Nadja Auermann, Isabella Rossellini, Marianne Faithful und Hannah Schygulla. Deren Anekdoten von ihren Begegnungen mit dem Jahrhundertfotografen sind durchweg liebevoll bewundernd. Für Kritik ist da kaum Platz, denn Gero von Boehm ist in erster Linie Fan-Boy. Ein kurzer TV-Schnipsel mit Susan Sonntag liefert die einzige negative Stimme: Newtons berühmte Akte „Big Nudes“ seien „frauenfeindlich und abstoßend“.

Filme über Fotografen würden ihn entsetzlich langweilen, sagt Newton, zeigten sie doch nur „einen Mann hinter der Kamera, der dummes Zeug mit seinen Models redet.“ Die Dokumentation „The Bad and the Beautiful“ beweist das Gegenteil: Dem Charmebolzen zuzuhören und bei der Arbeit zuzuschauen ist nicht eine Sekunde langweilig.

FAZIT

Zum 100. Geburtstag: Bewegtes und bewegendes Porträt des berühmtesten Frauenfotografs.

Deutschland 2019
90 min
Regie Gero von Boehm
Kinostart 09. Juli 2020

EIN VERBORGENES LEBEN

Die wahre Geschichte des jungen österreichischen Bauern Franz Jägerstatter: ein Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen, der nicht für die Nazis kämpfen oder Hitler während des Zweiten Weltkriegs die Treue schwören will. Die tiefe Liebe zu seiner Frau Fani verleiht ihm die Kraft, trotz Gefängnis und drohender Todesstrafe fest zu seinen Prinzipien zu stehen.

Unter der Regie von Terrence Malick spielen neben August Diehl und Valerie Pachner weitere bekannte Schauspieler wie Tobias Moretti, Matthias Schoenaerts, Ulrich Matthes und Bruno Ganz (in seiner letzten Rolle).

Sind die Schauspieler fabelhaft? Ja! Sind die Landschafts- und Naturaufnahmen aus den österreichischen Bergen ein visueller Rausch? Unbedingt! Hätte man den Film um mindestens eine Stunde kürzen können? Auf jeden Fall! Typisch Malick, vor allem bekannt für seine meditativen Filme über das Leben an sich, gibt es minutenlange Szenen, in denen man der Natur in ihrer Schönheit und den Protagonisten beim Nichtstun zuschauen kann. Briefe werden gelesen, Gras mit der Sense geschnitten, Blicke getauscht, in den Himmel gestarrt. Das könnte zwar besinnlich sein – und hat im cineastischen Meisterwerk „The Tree of Life“ auch ganz wunderbar funktioniert – hier wirkt es oft zäh und ermüdend. 

Wer sich bisher mit der sehr langsamen Erzählweise von Terrence Malick-Filmen nicht anfreunden konnte, den wird auch „Ein verborgenes Leben“ kaum bekehren. Zumal das knapp 3-stündige Werk auch „Weitwinkel – der Film“ heißen könnte. Alle Einstellungen wurden von Kameramann Jörg Widmer konsequent mit einer untersichtigen Weitwinkeloptik gefilmt. Das mag auf der großen Kinoleinwand noch wirkungsvoll sein, auf dem heimischen Bildschirm nervt dieser Kunstgriff schnell.

FAZIT

Schwierigkeiten bereiten sowohl der Originalton – deutsche Schauspieler, die in einer österreichischen Geschichte englisch sprechen – das ist schlicht irritierend – wie auch die deutsche Synchronisation: Die Lippenbewegungen matchen nicht und der sterile Sound der Nachvertonung will nicht in die große Natürlichkeit des Settings passen. Hätte Malick doch nur zwei Versionen gedreht…

Originaltitel „A Hidden Life“
Deutschland / USA 2019
173 min
Regie Terrence Malick
DVD & Bluray-Release 03. Juli 2020

SIBERIA

Clint ist ein kaputter Mann. Er lebt in einer einsamen Hütte in den Bergen. Dort betreibt er ein Café, in das sich nur ab und zu Gäste verirren. Eines Abends bricht er mit seinem Hundeschlitten auf, getrieben von der Hoffnung, sein wahres Dasein zu ergründen. Es folgt eine bemühte David-Lynchartige Reise durch Clints Traum- und Fantasiewelten. 

Eine dicke nackte Frau tanzt in einer Höhle im Kreis und ruft dabei “I need a doctor!”
Wieder so ein Schauspielerfilm. Diesmal kann man Willem Dafoe als gebrochenem Mann bei seinem Trip ins Ich zuschauen. Muss man aber nicht. “Siberia” ist verschwurbelte Kunst, die man sich besser sparen sollte. Immerhin gibt es schöne Landschaften mit jeder Menge Schnee zu sehen.

FAZIT

92 Minuten können sehr lang sein.

Originaltitel „Siberia“
Italien / Deutschland / Mexiko 2019
92 min
Regie Abel Ferrara
Kinostart 02. Juli 2020

UNDINE

Die gute Nachricht: am 2. Juli machen die Kinos wieder auf!
Die schlechte: „Die Känguru-Chroniken“ feiern ihren re-release. So unoriginell wie der neue Titel „Die Känguru-Chroniken Reloaded“, so unoriginell ist die Idee, dem Film eine 3D-Einstellung hinzuzufügen. Framerate warnte bereits im März mit einem Stern vor der einfältigen Klamotte.

Ein um einiges intelligenteres Kinoerlebnis bietet der neue Film von Christian Petzold.
Undine (Paula Beer) lebt in Berlin, arbeitet als Stadthistorikerin. Als ihr Freund Johannes (Jacob Matschenz) mit ihr Schluss macht, teilt sie ihm lakonisch mit, dass sie ihn nun töten müsse. Kurz darauf 
begegnet sie dem Industrietaucher Christoph (Franz Rogowski), die beiden verlieben sich Hals über Kopf.

Undine ist eine mythologische Figur, eine Nymphe, die mit ihrem Gesang die Männer verzaubert. Eine Seele erlangt sie nur, wenn sie sich mit einem Menschen vermählt. Der Haken an der Sache: Untreue Gatten bringt sie um.

Christian Petzold dichtet den Mythos von der geheimnisvollen Wasserfrau zum modernen Märchen im heutigen Berlin um. Das funktioniert über weite Strecken erstaunlich gut. Der Film hat zugleich etwas Traumhaftes und Realistisches. Paula Beer verleiht der Figur Undine mit wassergewellten Locken eine rätselhafte Aura. Und keiner kann so überzeugend den leicht tumben und gleichzeitig sensiblen Arbeiter spielen wie Franz Rogowski.

„Undine“ ist ein hintergründiger, aber seltsam spröder Liebesfilm. Insgesamt eher eine zarte Fingerübung, ein nicht uninteressantes Experiment.

FAZIT

Der etwas andere Berlinfilm. Paula Beer gewann den silbernen Bären für die beste weibliche Hauptrolle bei der diesjährigen Berlinale.

Deutschland 2020
90 min
Regie Christian Petzold 
Kinostart 02. Juli 2020

DARK – Season 3

Über den Inhalt der dritten Staffel von „Dark“ etwas zu schreiben, ist ungefähr so verboten, wie im Jahr 1980 zu verraten, wer JR Ewing erschossen hat*. Netflix ermöglicht sieben Tage vor der Premiere zwar eine Sichtung, liefert dazu aber ein bedrohlich dickes Spoilerhandbuch mit.

„Dark“ ist ein Zeitgeistphänomen. Selten konnte eine deutsche Serie ein so breites internationales Publikum erreichen und begeistern. Dass sogar Amis auf „Dark“ abfahren, lässt sich sehr unterhaltsam im Podcast „Bored and Annoyed“ nachhören. Was bislang nur „Derrick“ vergönnt war, gelingt der von Baran bo Odar und Jantje Friese entwickelten Serie dank weltweiten Streamings mühelos: ein internationaler Erfolg zu werden.

Für einige eine hanebüchene, überkonstruierte Studie in Grau, für andere die beste Mystery-Serie aller Zeiten. Wem die ersten beiden Staffeln gefallen haben, den werden auch die finalen acht Folgen der komplexen Zeitreisegeschichte befriedigen. Es ist alles wie gewohnt: Der Handlung, die sich wie eine unendliche Matroschka-Puppe immer weiter und weiter verkompliziert, ist kaum zu folgen. Die Schauspieler sind grandios, sehen sich aber in ihren diversen Jugend-, Erwachsenen- und Greisenvarianten weiterhin kaum ähnlich, was dem Verständnis nicht unbedingt dienlich ist. Was vielleicht geholfen hätte, wäre eine kurze „Previously on Dark“- Einleitung vor jede Episode – oder Namensschilder. Selbst mit wachem Verstand und hoher Aufmerksamkeit versteht man oft nicht, wer da gerade wann mit wem um was kämpft. Macht aber nix, „Dark“ ist genial und hat das Zeug, den Zuschauer langsam auf unterhaltsame Weise verrückt werden zu lassen. Und das ist als Lob gemeint.
Nach drei Staffeln ist der Spaß vorbei und da keine weitere Fortsetzung geplant ist, muss man wohl einfach noch mal von vorne anfangen.

FAZIT

*Es war übrigens die von Mary Crosby gespielte Kristin Shepard. 

Deutschland 2020
Staffel 1 mit 10 Folgen, Staffel 2 + 3 je 8 Folgen
Regie Baran bo Odar
Die 3. Staffel gibt’s ab 27. Juni auf Netflix

SPACE FORCE

Immer drei Sterne – lang-wei-lig! Aber was soll man machen? Zwei ist „na ja“, vier schon „sehr gut“ und danach kommt nur noch „fantastisch“!
Drei ist eben „ganz gut“. So wie diese neue Netflix-Serie.

Wer mit den künstlerisch ambitionierten Filmen „Beautiful Boy“ oder „Foxcatcher“ nichts anfangen konnte und lieber wieder den „lustigen“ Steve Carell (nicht verwandt mit Rudi, der schreibt sich ja auch mit zwei R im Nachnamen) zurück will – good news: „Space Force“ ist so eine Art „The Office“ beim Militär. General Mark R. Naird (Carell) wird zum Chef der neugegründeten 6. US-Streitkraft, der Space Force, ernannt. Wenig begeistert siedelt er mit seiner Frau und Tochter auf einen abgelegenen, um nicht zu sagen sterbenslangweiligen Militärstützpunkt in Colorado um. Ziel der Mission ist es, wieder Astronauten auf den Mond zu bringen, bzw. kerniger ausgedrückt: bis 2024 wollen die USA „Boots on the moon“ bringen. Davon zumindest träumt der US-Präsident – der wird zwar namentlich nicht erwähnt, doch sein Tweet „Boops on the moon“ lässt keinen Zweifel, um wen es sich handelt. 

Die ersten zehn Folgen sind kurzweilig und es gibt ein paar wirklich komische Szenen. Vor allem immer dann, wenn John Malkovich mit von der Partie ist. Der steht als brillanter Dr. Mallory General Naird zur Seite. Malkovich spielt den Wissenschaftler mit schöner Süffisanz und entgegen seinem sonstigen Rollenprofil als relativ normalen Menschen – ein Highlight der Serie.

FAZIT

Für eine Militär-Komödie ziemlich lustig. Kuckt sich gut weg.

Originaltitel „Space Force“
USA 2020
10 Folgen, je 30 min
Created by Greg Daniels
ab 29. Mai 2020 auf Netflix

BENT

Was haben Kinos und Bordelle gemeinsam?
Beide gehören zu den sogenannten „Vergnügungsstätten“ und dürfen deshalb – im Gegensatz zu Theatern und Konzerthäusern – bald wieder aufmachen. Juche!
Die Bundesländer können sich überraschenderweise nicht einigen: Hier gehts am 15. Mai, da drei Tage später und dort erst nach Pfingsten los. Berlin macht sich’s gemütlich und nimmt sich ein bisschen länger Zeit – in der Hauptstadt bleiben die Kinosäle bis 5. Juni verschlossen. Das uneinheitliche Vorgehen ist für Verleiher ein Desaster, denn ein großer Hollywoodfilm wird kaum Bundesland für Bundesland an den Start geschickt. Bis sich dann alle doch noch geeinigt haben, gibt es weiterhin neue Video-on-Demand-Veröffentlichungen: diesmal ein digital restaurierter Klassiker des Queerfilms, „Bent“.

Erstaunlich, wer da alles mitspielt: Mick Jagger, Clive Owen, Nikolaj Coster-Waldau, Ian McKellen und der noch unbekannte Jude Law – in einer winzigen Nebenrolle, „Bent“ wurde 1997 gedreht.

Der homosexuelle Max (Clive Owen) genießt ein rauschhaft dekadentes Leben im Berlin der 30er Jahre. Während des „Röhm-Putsches“ können er und sein Freund Rudi zunächst fliehen, werden aber bald gefasst und verhaftet. Um nicht den rosa Winkel für Homosexuelle tragen zu müssen, lässt sich Max auf dem Weg nach Dachau einen Judenstern geben. Seine Selbstverleugnung geht sogar so weit, dass er seinen Freund auf Geheiß der Nazis tot prügelt.

Im Lager trifft Max auf Horst (Lothaire Bluteau), einen Insassen, der stolz das rosa Dreieck trägt. Die beiden Männer verlieben sich, obwohl ihnen streng verboten ist, miteinander zu sprechen oder sich gar zu berühren. 

Die erste Hälfte des Films hat mit ihren opulenten Partyszenen und Mick Jagger als Dragqueen (!) noch Schauwert, doch spätestens im zweiten Teil kippt „Bent“ in eine seltsame Künstlichkeit. Im Konzentrationslager werden in weißer Kulisse minutenlang Steine von rechts nach links getragen und in gestelzten Dialogen philosophiert. Dass der Film auf einem Theaterstück basiert, merkt man ihm da nur allzu deutlich an. 

FAZIT

Stärker auf der Bühne als auf der Leinwand.

p.s. Sollten die Kinos bis Anfang Juni alle wieder auf sein, kann man sich schonmal auf folgende Filme freuen:
„Exil“ ab 04. Juni
„Undine“ von Chritian Petzold ab 11. Juni
und ab 25. Juni „Berlin Alexanderplatz“ von Burhan Qurbani

Originaltitel „Bent“
UK / JP 1997
102 min
Regie Sean Mathias
OV mit dt. UT
Ab sofort als VoD bei Club Salzgeber für 4,90 €

BERLIN, BERLIN – DER KINOFILM

Um es gleich vorwegzunehmen: der Inhalt ist kaum der Rede wert! Er verblasst gnädig schon wenige Minuten nach Filmende.
Lolle ist dabei, ihren alten Kumpel Hart zu ehelichen, die ewige Nummer zwei, als plötzlich auf dem Motorrad Jugendliebe Nummer eins daher braust, Cousin Sven, und verführerisch das Visier liftet. Lolle wird schwach und flüchtet vor der eigenen Hochzeit, wohl ahnend, dass das ein kapitaler Fehler sein könnte. Der Hallodri von damals ist der Hallodri von heute.

Es folgt ein Roadtrip von der Großstadt in den Harz und zurück – mit allerlei wirren Begegnungen. Warum und wieso, bleibt ein Geheimnis der Filmemacher. Die sogenannte „Handlung“ wirkt wie das Hirngespinst eines zugekifften Drehbuchautors, der mal so richtig die Sau rauslassen wollte. Leider hat ihm niemand verraten, wie öde das ist.
„Berlin, Berlin – Der Kinofilm“ ist vielleicht interessant für Nostalgiker mittleren Alters, die sich an die TV-Serie von vor 20 Jahren erinnern können und sich freuen, gerade in Coronazeiten, alte Bekannte wieder zu treffen. Damals trudelte das Landei Lolle (Felicitas Woll) vier Staffeln lang durch die Hauptstadt und erlebte Abenteuer. Sie wirkte emanzipiert und „Berlin, Berlin“ tatsächlich innovativ, die Geschichte immer wieder unterbrochen von bunten Comicszenen. Lolle war eine Type und die Vorabendserie umgab den Hauch des Authentischen. Heute wirkt alles eher muffig.

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Was bleibt? Zu sehen, wie die Zeit sich einschreibt in Gesichter und was dabei ein paar Kilo mehr bewirken können. Selten etwas Gutes, so viel sei verraten. 

Deutschland 2020
80 min
Regie Franziska Meyer Price
Ab 08. Mai 2020 auf NETFLIX

DARK

Für einige wenige ist „Dark“ typisch deutsch und total komplizierter Scheiß. Der Handlung könne man vor allem deshalb kaum folgen, weil sich die jungen und die älteren Darsteller der Rollen wenig ähnlich sähen und man immer überlegen müsse, wer wer ist. Außerdem hätten die Filmemacher wohl kein Geld für Farbe, alles sei ein trüber grauer Brei.
Für die anderen ist „Dark“ die beste Serie aller Zeiten – zumindest auf Netflix. Das finden 80 % der Zuschauer und haben die deutsche Sci-Fi-Mystery-Serie gerade auf Platz eins bei Rotten Tomatoes gewählt. Noch vor „Stranger Things“, „The Crown“, „Black Mirror“ und anderen internationalen Netflix-Eigenproduktionen.

Wer mit Zeitreisegeschichten nix anfangen kann, sollte die Finger von „Dark“ lassen. Den immer komplizierter werdenden Handlungssträngen, die vom Eingreifen in die Vergangenheit und Zukunft erzählen, ist nur mit höchster Konzentration zu folgen. Lässt man sich aber darauf ein, wird man mit einem ausgesprochen befriedigenden Seherlebnis belohnt. Bis jetzt sind die Staffeln 1 und 2 verfügbar, in diesem Jahr wird das epische Werk mit der dritten und finalen Staffel abgeschlossen.  

Hier noch mal kurz angerissen, worum es geht:
(MILDE SPOILER) 

Die Geschichte beginnt in der fiktiven deutschen Kleinstadt Winden am 21. Juni 2019 mit dem Suizid von Michael Kahnwald. Er hinterlässt einen Brief mit dem Hinweis, ihn nicht vor dem 4. November um 22:13 Uhr zu öffnen. Michaels Sohn Jonas (Louis Hofmann, der ausnahmsweise bis zum Ende der 2. Staffel noch nicht die Hosen runter gelassen hat) kehrt nach einem Aufenthalt in der Psychiatrie an seine Schule zurück. Als er sich mit seinen Freunden Martha, Bartosz, Magnus und dessen jüngererm Bruder Mikkel in den Wald zu den „Windener Höhlen“ aufmacht, werden sie Zeuge von unerklärlichen Phänomenen. Auf ihrer Flucht aus dem Wald verläuft sich Mikkel und geht verloren. Bei der anschließenden Suchaktion der Polizei wird in der Nähe der Höhlen die Leiche eines anderen, unbekannten Jungen gefunden.
„Dark“ ist eine Familiensaga mit übernatürlichen Elementen und spielt anfangs in der Gegenwart. Nach und nach werden das Doppelleben und die brüchige Beziehung zwischen vier Familien aufgedeckt. Es geht um einen geheimnisvollen Bergstollen, Atomkraft und Familiendramen in der Vergangenheit und Zukunft. Im Verlauf der achtzehn knapp einstündigen Folgen vollzieht die Handlung eine übernatürliche Wende der Ereignisse, die von 1921 über 1953, 1986, 2020  bis ins Jahr 2053 reichen.

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Herzlichen Glückwunsch!

Deutschland 2017 – 2020
2 Staffeln, je 9 Folgen
Regie Baran bo Odar
Staffel 1 + 2 auf NETFLIX

KÖNIGIN

Anne, verheiratet, zwei Kinder, arbeitet als erfolgreiche Anwältin in Dänemark. Ihr Leben scheint perfekt. Doch dann beginnt sie eine verhängnisvolle Affäre mit ihrem 16-jährigen Stiefsohn. Gustav mag zwar körperlich reif sein, doch mental ist er noch ein halbes Kind. Einmal fragt er, was das Schlimmste sei, das sie sich vorstellen könne. „Alles zu verlieren“, antwortet Anne. Als ihre verbotene Beziehung aufzufliegen und sie tatsächlich alles zu verlieren droht, greift sie zu drastischen Mitteln. Ihre egoistischen Entscheidungen haben katastrophale Folgen.

„Königin“ erzählt die Geschichte eines Sündenfalls. Macht, Missbrauch und Verrat – es bleibt offen, ob Anne in ihrer Jugend selbst Opfer war. Regisseurin May el-Toukhy stellt den gängigen Glauben, im Bösen verberge sich manchmal ein guter Kern auf den Kopf: Bei ihr verbirgt sich im Guten das Böse. Der Film nimmt immer wieder Bezug auf Lewis Carrolls „Alice im Wunderland“. Wie bei dessen Titelfigur kann man dem langsamen Sturz der Protagonisten in den bodenlosen Abgrund zuschauen. „Ab mit dem Kopf!“ Und wie die rote Königin aus dem Buch entpuppt sich auch Anne als unberechenbare Herrscherin über Leben und Tod.

Starke Schauspieler: Gustav Lindh als gar nicht so tougher Teenager und besonders Trine Dryholm, die für ihre Rolle als Anne bereits mehrfach ausgezeichnet wurde.

FAZIT

Unaufhaltsam tickendes Psychodrama. Sehenswert.

Originaltitel „Dronningen“
Dänemark 2019
127 min
Regie May el-Toukhy
Ab sofort zu kaufen bei iTunes, ab 14. Mai 2020 als VoD erhältlich