THE DISSIDENT

THE DISSIDENT

Kein Märchen aus 1001 Nacht: Es war einmal ein tapferer Journalist namens Jamal Ahmad Khashoggi. Der lebte in den USA und schrieb für die angesehene Washington Post. Eines Tages befand der Kronprinzen von Saudi Arabien der Schreiberling sei lästig, denn der kritisierte ihn öffentlich.

Als der wackere Jamal seine Verlobte Hatice ehelichen wollte, besuchte er das saudi-arabische Konsulat in Istanbul. So geschehen am 2. Oktober 2018. Danach ward er nie mehr gesehen.

Schnell gab es Hinweise, Prinz Mohammed bin Salman stecke hinter der Ermordung seines Rivalen. Es wurden ein paar Bauernopfer gebracht, doch obwohl die Beweislast erdrückend war, gab es bis heute keinerlei Bestrafung oder nennenswerte politische Konsequenzen für seine Hoheit. Und wenn Jamal nicht gestorben wäre, dann lebte er noch heute. Ende.

„The Dissident“ von Regisseur und Oscar-Gewinner Bryan Fogel („Ikarus“) ist ein Dokumentar-Thriller, der die Geschichte um die Vertuschung eines unglaublichen Mordfalls erzählt. Bislang unveröffentlichtes Video-Material und aufschlussreiche Interviews mit Weggefährten des Ermordeten machen „The Dissident“ zu einer spannenden True-Crime-Story über Macht und Machtmissbrauch im Digitalzeitalter.

Inhaltlich gelungen, formal gewaltig übertrieben: Mit aufwendigen Animationen und bedrohlicher Musik wirkt der Film wie ein Hollywood-Thriller. Schnitt und Vertonung erinnern eher an „Jason Bourne“ als an eine seriöse Dokumentation. Verstärkt wird die Effekthascherei von einer dramatisch eingesprochenen deutschen Synchronspur. Wenn möglich also lieber die OmU-Version schauen. Mit fast 2 Stunden Laufzeit hätten auch ein paar Straffungen nicht geschadet.

Trotz der Abstriche ist „The Dissident“ ein informatives Stück über Korruption im Nahen Osten und dessen Verstrickungen mit der westlichen Welt. Nebenbei wird in einer hochinteressanten Sequenz erklärt, wie das mit der Meinungsmache bei Twitter und Co. funktioniert: Fliegen und Bienen – wer hätte das gedacht? Sehr erhellend.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „The Dissident“
USA 2020
118 min
Regie Bryan Fogel
ab 16. April 2021 digital zu kaufen, ab 23. April als VoD zu leihen

Plakat The Dissident

alle Bilder © DCM

NEUBAU

Markus spült Geschirr, bügelt seine Hose, raucht und trinkt Bier aus der Flasche. In der Kneipe traut er sich nicht aufs Männerklo, geht draußen in die Hocke und pinkelt. Markus war früher mal eine Frau. Ein Transmann in der Uckermark, hin- und hergerissen zwischen der Liebe zu seinen pflegebedürftigen Omas und der Sehnsucht nach einem anderen Leben in Berlin. Immer wieder erträumt er sich eine queere Familie, die ihn aus seiner Einsamkeit befreit. Sein eintöniges Dasein ändert sich erst, als er sich in den Fernsehmechaniker Duc verliebt.

Transsexualität in Brandenburg: Das klingt nach Ausgrenzung, Konflikten und Drama. Doch dafür interessieren sich Autor/Hauptdarsteller Tucké Royale und Regisseur Johannes M. Schmit herzlich wenig. Ihnen geht es um die stille Beleuchtung des Alltags. Und dafür lassen sie sich in ihrem minimalistischen Debütfilm viel Zeit. So langsam wie das reale Leben in Brandenburg, so langsam fließt auch ihr schwuler Heimatfilm dahin. Der Saarländische Rundfunk lobt, „Neubau“ entfalte sich „ohne dramaturgische Zuspitzungen“. Das stimmt – weniger euphemistisch könnte man das auch als langweilig bezeichnen.

Ganz und gar nicht langweilig dagegen ist die berührende Nebenhandlung von Markus und seinen beiden Großmüttern: Alma ist dement und entgleitet immer mehr dem Dasein, Sabine bereitet sich tapfer auf den Tod ihrer Freundin vor. Die stärksten Szenen des Films. Und allemal interessanter als das schon zu oft verfilmte Queer-Thema „schwuler Junge auf dem Land“.

INFOS ZUM FILM

Deutschland 2020
81 min
Regie Johannes Maria Schmit
ab 1. April online bei der queerfilmnacht und irgendwann im Kino, sobald es wieder möglich ist

alle Bilder © Edition Salzgeber

LERNEN VON DEN ALTEN

Gastautorin: Brigitte Steinmetz

Michael Caine: Guten Tag, bitte nennen Sie mich Michael.
  Framerate: Vielen Dank, wie aufmerksam. Wir standen kurz davor, Sie als Knight Mickelwhite oder Sir Maurice anzusprechen.
Caine: Ach was, die Zeiten sind vorbei.
  Nicht in England.
Caine: Ich bin geborener Maurice Knickelwhite, geadelt für meine Verdienste als Michael Caine und genauso freundlich zur Queen wie zu meiner Putzfrau.
  Wobei Sie mit der Queen eher mal zu Abend essen.
Caine: Das stimmt nur bedingt. Es ist auch schon mindestens fünfzehn Jahre her, dass ich mit der Queen dinierte. Ich weiss noch, dass sie sich mit ihrem Tischnachbarn langweilte und zu mir herüberbeugte: Sie kennen doch bestimmt ein paar gute Witze? Und ich antwortete: leider keine, die ich Ihnen erzählen könnte, Madam. Worauf sie vorschlug,  zuerst einen deftigen zum Besten zu geben.
  Und hat Her Majesty Sie erheitern können?
Caine: Sehr. Sie ist eine lustige Frau. Ihr Witz hatte irgendetwas mit Pferden zu tun, leider erinnere ich die Pointe nicht mehr.
  Müsste einem anständigen Briten eine soche Begegnung nicht unvergesslich bleiben?
Caine: Ich bin Brite durch und durch aber Status beeindruckt mich nicht. Mein familiärer Hintergrund ist ja sehr arm.  Mein Vater arbeitete auf dem Fischmarkt, meine Mutter war Zugehfrau. Und ich spreche bewusst noch heute ihren ordinären Akzent. Ich bin Arbeiterkind und Knight, das lebende Beispiel für den Untergang des Klassensystems.
  Pflegen Sie noch Verbindungen zu Ihrem früheren Leben?
Caine: Keine. Wo ich herkam,  galten Schauspieler entweder als schwul oder grössenwahnsinnig oder beides. Als ich ein unbekannter Schauspieler mit Schulden war, mieden mich meine Kumpels im Pub, um mir kein Bier ausgeben zu müssen. Warum sollte ich mit diesen Leuten befreundet bleiben?

  Waren Ihre Eltern denn glücklich über Ihre Berufswahl?
Caine: Nicht die Bohne. Mein Vater wollte, dass ich ihm auf dem Fischmarkt zur Hand gehe. Man soll nie auf seine Eltern hören.
  Sie sagten mal, Geldverdienen sei Ihr grösster Antrieb zur Schauspielerei gewesen.
Caine: Ich wollte nicht mehr arm sein, das ist wahr. Aber man kann sich wahrscheinlich einen leichteren Beruf als Schauspieler aussuchen, um zu Geld zu kommen.
  Wie lange mussten Sie darben?
Caine: Neun Jahre lang. Mit 29 hatte ich 4.000 Pfund Schulden, nach dem damaligen Kurs wohlgemerkt. Als niemand mehr an mich glauben mochte, kriegte ich die Hauptrolle in „Zulu”. Und einen Scheck über 12.000 Pfund. Aber am Ende der Dreharbeiten war ich immer noch mit 4.000 in den Miesen. Ich musste ja erst einmal lernen, mit Geld umzugehen. Und so ging das weiter. Man landet eine Rolle und macht noch einen Film und noch einen und jedesmal fürchtet man, das war’s jetzt. Aber ich hatte Glück.
  Ab wann fühlten Sie sich über dem Berg?
Caine: Schwer zu sagen. Ich verdiente mit „Alfie” „Ipcress File” und „The Italian Job” eine Menge Geld. Mit 32 kaufte ich mir einen silbernen Rolls Royce obwohl ich nicht mal einen Führereschein hatte. Ein Chauffeur erschien mir der Inbegriff von Luxus.
  Und fortan drehten Sie nur noch Filme der Kunst zuliebe?
Caine: Ich wünschte, es wäre so gewesen aber ich hatte das Ziel, jedem einzelnen meiner Familienangehörigen ein Haus zu kaufen. Und dann ging ich nach Hollywood.
  Wo die richtig grossen Gagen gezahlt werden.
Caine: Ich gebe zu, ich war sehr beeeindruckt. Der Produzent von „Towering Inferno” bat mich um ein Treffen. „Towering Inferno” war ein Kassenschlager mit den beiden grössten Stars dieser Zeit – Steve McQueen und Paul Newman. Und dieser Produzent wollte MIR die Hauptrolle in seinem nächsten Film geben! Natürlich sagte ich zu. Es war „Der Schwarm” der grösste Mist den Sie sich vorstellen können. Ein Special-Effects-Film mit bettelarmen Special Effects. Einfach grauenhaft. Ich dachte, ich sei der nächste Steve McQueen, stattdessen ruinierte ich meinen Ruf.
  Haben Sie sich seitdem noch mal so verschätzt?
Caine: Oh ja, mit dem Remake von „Sleuth”. Es schien idiotensicher. Grossartiges Drehbuch, Kenneth Branagh führte Regie, Jude Law und ich in den Hauptrollen. Aber wir wurden von den Kritiken vernichtet! Geradezu geschlachtet! Ich dachte, die haben einen anderen Film gesehen, so sind sie über uns hergefallen.
  Remakes von Kultklassikern haben es immer schwer.
Caine: Aber für diese Häme gab es keine Erklärung. Es war eine wundervolle Story und alle Mitwirkenden waren brillant. Inklusive mir. Aber die Kritiker hielten es für Mist. Ich verstehe es immer noch nicht.
  Kommt da die Angst vor Armut wieder hoch?
Caine: Nein, dazu bin ich zu wohlhabend. Mir kann nichts mehr passieren. Ich bin in der luxuriösen Position, nur noch arbeiten zu müssen, wenn ich unbedingt will.

  Was war so unwiderstehlich an Ihrer Rolle als Butler Alfred der Batman Trilogie „The Dark
Knight”?
Caine: Nun, ich erfülle nur meinen Vertrag über drei Filme. Und ganz nebenbei ist (Regisseur und Drehbuchautor) Chris Nolan mit „Dark Knight” der beste und erfolgreichste Batman Film aller Zeiten gelungen. Buch und Besetzung sind superb. Heath Ledger war als „Joker” wirklich umwerfend, faszinierend, fantastisch.
  Die New York Times verglich ihn mit Marlon Brando.
Caine: So? Hm, ich kannte Marlon sehr gut und Heath nur ein bisschen. Aber ich verstehe, was Sie meinen. Diese schlummernde Naturgewalt. Heath hatte so gar nichts Schauspielerhaftes an sich. Am Set war er ein freundlicher, ganz stiller Typ. So lange, bis der Regisseur Action rief und dann: Krawumm! Das findet man wirklich selten bei jungen Schauspielern. Diese Kraft hinter einer so beherrschten Fassade.
  Waren Sie anders?
Caine: Die Zeiten waren anders. Ich möchte sagen: Flamboyanter. Es war die Disco-Ära und ich ging jede Nacht aus. Sie nannten mich Disco-Michael. Ich möchte die Sechziger nicht glorifizieren aber wenigstens betranken wir uns in Gesellschaft, in der Öffentlichkeit. Die Genussmittel, die Mitte der Siebziger in Mode kamen, konnte man nur hinter verschlossenen Türen konsumieren. Das war nichts für mich.

   Mitte der Siebziger waren Sie ja auch schon mit ihrer heutigen Frau Shakira verheiratet.
Caine: Fast 50 Jahre sind wir jetzt zusammen, können Sie sich das vorstellen? Jedenfalls bis vor zwei Stunden. Solange haben wir uns nicht gesehen. Wer weiss, vielleicht hat sie mich inzwischen verlassen.
  Leiden Sie immer noch unter Verlustängsten?
Caine: Oh, eine interessante Unterstellung. Sie meinen, meine verlustreiche Kindheit führte zu überzogenem Besitzanspruch?
  Führte sie?
Caine: Keine Ahnung, ich habe mich noch nie analysieren lassen. Es stimmt, dass ich mein hart verdientes Geld nicht so ohne weiteres hergebe. Als die britische Steuer mal auf unglaubliche 82 Prozent stieg für Besserverdiener wie mich, bin ich für acht Jahre nach Los Angeles geflüchtet. Nur meine Frau darf sich mehr als 40 Prozent von meinem Einkommen nehmen.
  Ist Ihre Frau denn so anspruchsvoll?
Caine: Nein. Ich gebe sehr viel Geld aus, aber ich habe keine Ahnung von Preisen. Shakira hingegen weiss ganz genau was wieviel kostet und  achtet darauf, dass ich nicht übers Ohr gehauen werde.

  Was bedeutet Luxus heute für Sie?
Caine: Das kommt darauf an, wie Sie Luxus definieren. Materiell kann ich mir alles leisten, was ich mir wünsche. Ich fliege erste Klasse, wohne in den besten Hotels, lasse meine Anzüge masschneidern. Als Kind schien mir fliessend warmes Wasser ein unerreichbarer Luxus, heute bestehe ich auf zwei Badezimmern in meinen Hotelsuiten.
  Wozu?
Caine: Eines der Geheimnisse einer glücklichen Ehe.
  So?
Caine: Nein, das ist nur so dahingesagt. Bitte bringen Sie mich nicht in Verlegenheit. Ich kenne keine Patentrezepte für harmonische Partnerschaften. Vieles ist Zufall. Oder Schicksal, ganz wie man’s nimmt.

  Ihre Liebesgeschichte ist eine der romantischsten Hollywoods.
Caine: Das finde ich auch. Überlegen Sie mal, ich war Disco Michael und jeden Abend unterwegs. Ich sah nie fern. Nur an diesem einen Abend hatte ich keine Lust auszugehen und lud meinen besten Freund zum Essen ein. „Ich koche” sagte ich „und wir gucken fern”. Er sagte zu, denn ich bin ein ganz vorzüglicher Koch.
  Erinnern Sie noch die Menüfolge?
Caine: Nicht im Detail. Damals experimentierte ich noch mit verschiedenen Rezepten. Aber ich werde nie vergessen, wie Shakira in mein Leben tanzte. In einem Maxwell Kaffe Werbespot auf meinem Schwarz-Weiss Fernseher. Ich verliebte mich auf der Stelle in diese wunderschöne Brasilianerin. Am nächsten Tag fand ich heraus, dass sie indischer Abstammung ist und nicht in Rio sondern um die Ecke in London lebte. Zu unserem ersten Rendezvous fuhr ich in einem Rolls Cabrio in einem weissen Nero Anzug vor. Stellen Sie sich vor ich wäre an diesem Abend ausgegangen wie üblich. Wir hätten uns nie getroffen.
  Eine aussergewöhnlich schöne Frau an der Seite ist auch eine Art Statussymbol.
Cain: Ich mache keinen Hehl daraus. Shakiras Schönheit ist ein Faktor unserer glücklichen Beziehung. Das mag brutal klingen aber in meinem Beruf ist man nun einmal  vielen Verführungen ausgesetzt. Wenn ich aber mit einer Frau verheiratet bin, die noch schöner als meine Kolleginnen ist, warum sollte ich sie betrügen?
  Sie wissen, dass Feministinnen Sie für dererlei Äusserungen geisseln, nicht wahr?
Caine: Ist mir egal. Natürlich wären wir nicht ein halbes Jahrhundert lang glücklich, wenn unsere Beziehung nur auf Äusserlichkeiten aufbaute. Aber meine erste Ehe ging schief, weil das Gras auf der anderen Seite immer grüner schien. Und heute bin ich ein sehr familienorientierter Mensch. Ich koche und gärtnere und würde am liebsten nie unser Anwesen verlassen wenn Shakira mich nicht daran erinnerte, dass meine Arbeit  meine Hobbies finanziert.
  Ungewöhnliche Hobbies für jemanden, der ohne fliessend warmes Wasser aufgewachsen ist.
Caine: Stimmt, das lernte ich erst im zweiten Welktkrieg kennen, als wir vor den Bombenangriffen auf London aufs Land flohen. Meine Mutter fand dort Arbeit als Köchin einer sehr, sehr reichen Familie. Es war ein bisschen wie „Upstairs Downstairs“ (Das Haus am Eaton Place) unten das Gesinde, oben die Herrschaften. Aber für mich gab es keinen heimeligeren Ort auf der Welt als die Küche dieses Landguts.
  Heute leben Sie selbst auf so einem Gut.
Caine: Und ich bin mir sicher, wenn ich Psychoanalyse betreiben würde, aber das tue ich wie gesagt nicht, würde man dahinter kommen, dass ich meine Kindheit unter anderen Vorzeichen nachlebe.
  Jetzt sind Sie Upstairs.
Caine: So kann man das auch nicht sagen. Ich habe Personal, aber ich stehe immer noch gern selbst am Herd.
  Ein Hobby?
Caine: Eine Obsession. Ich bin leidenschaftlicher Koch und Gärtner. Das hat beinahe etwas Zen-haftes. Ich esse, was ich selbst in meinem Garten säte. Und es ist ein grosser Garten, sechs Morgen.
  Hilft Ihnen Ihre Frau beim Gärtnern und Kochen?
Caine: Nein, überhaupt nicht. Im Gegenteil, ich nerve sie, wenn ich nicht drehe, weil ich ständig am Haus herumbastle. Unsere Mansion in Surrey ist von Aussen 200 Jahre alt aber Innen mit den modernsten Finessen ausgestattet. Ich bin Technik-Freak und brauche immer den neuesten Schnickschnack. Meine Töchter laden ihre I-Phones an meinen Computer. Mein Talent als Diskjockey ist legendär.
Stimmt ja, Sie haben sogar eine Kompilation mit Chill-Musik unter dem Titel „Cained” herausgegeben.
Caine: Ach, das war nur eine alberene Spielerei, bei einem Lunch mit Elton John in Nizza geboren. Er liess Lounge-Musik im Hintergrund laufen und war beeindruckt, dass ich jedes einzelne Stück identifizieren konnte. Da drängte er mich, für seine Plattenfirma eine Sammlung meiner Lieblingstracks zusammenzustellen. Das war ganz witzig aber meine Leidenschaft gehört eindeutig dem Kochen.
  Haben Sie die auch mal versucht zu Geld zu machen?
Caine: Aber natürlich. Ich betrieb jahrelang einige sehr erfolgreiche Restaurants.
  Und was wurde daraus?
Caine: Ich hab’ sie alle verkauft.
  Warum?
Caine: Weil hochdekorierte Köche noch grössere Egos haben als Schauspieler. Dafür habe ich keinen Nerv mehr. Ich bin im mentalen Ruhestand.
  Wunschlos glücklich?
Caine: Nein, wo denken Sie hin. Ich will immer noch einen Oscar als bester Hauptdarsteller. Ich war sechs Mal nominiert aber habe verdammt nochmal noch nie einen gewonnen. Aber ich bin guter Dinge. Denn jetzt kann ich mir geringe Gagen in anspruchvollen Indiefilmen leisten.

 

DER MENSCHLICHE FAKTOR

Fünf bis sechs Filme am Tag sind eben doch zu viel. Deshalb hier ein kleiner Berlinale-Nachklapp: der sehenswerte PANORAMA-Beitrag „Der menschliche Faktor“ von Ronny Trocker.
Jan und Nina leiten eine Werbeagentur in Hamburg. Die Geschäfte könnten besser laufen, deshalb nimmt Jan, ohne es mit seiner Frau abzusprechen, einen Neukunden an. Doppelt schlimm: Er missachtet nicht nur die „no politics“-Regel der Agentur, es handelt sich auch noch um eine populistische Partei – die AfD lässt grüßen. Nina ist sauer. Um die Wogen zu glätten, fahren die beiden mit ihren Kindern übers Wochenende in ihr Ferienhaus an der belgischen Küste. Doch mit der Erholung ist es schnell vorbei, als ein mysteriöser Einbruch das Familiengefüge empfindlich stört. Keiner kann eine genaue Täterbeschreibung geben – die Kinder haben nichts gesehen, Jan war einkaufen und Nina hat nur Schritte gehört.

„Der menschliche Faktor“ ist ein subtiler Psychothriller, der seine Figuren langsam in ein feines Netz aus Manipulation, wachsendem Misstrauen und subjektiver Wahrnehmung spinnt. Klingt verkopft, ist aber spannend. Der Einbruch wird aus verschiedenen ineinanderfließenden Perspektiven gezeigt. Was gerade noch klar schien, ist durch die Sicht eines anderen Familienmitglieds plötzlich wieder infrage gestellt. So behauptet der achtjährige Sohn Max, der Vater habe sich während des Vorfalls versteckt. Und die vagen Aussagen von Nina lassen bei der Polizei Zweifel aufkommen, ob es den Einbruch überhaupt gegeben hat.

Ronny Trocker ist ein fesselndes Familiendrama mit hervorragender Besetzung gelungen: Mark Waschke (immer gut) überzeugt als verunsichertes Alphatier Jan und die wunderbare Schweizerin Sabine Timoteo als Nina möchte man sowieso gerne öfters sehen. Falls sich auch irgendwer fragt: Woher kenne ich Sabine Timoteo noch mal? Die hat in der Andreas Steinhöfel-Romanverfilmung „Die Mitte der Welt“ die Mutter gespielt.

FAZIT

„Der menschliche Faktor“ feierte im Sommer 2020 seine Premiere beim Sundance Film Festival. Da es sich um eine Koproduktion des „Kleines Fernsehspiel“ handelt, stehen die Chancen gut, dass er demnächst im ZDF zu sehen sein wird. Wahrscheinlich um 23.30 Uhr – für einen 20.15 Uhr-Sendeplatz ist er einfach zu gut.

INFOS ZUM FILM

Deutschland / Italien / Dänemark 2021
102 min
Regie Ronny Trocker
Demnächst im Kino oder Fernsehen

alle Bilder © Klemens Hufnagl / zischlermann filmproduktion

BERLINALE 2021 – TAG 5

Geschafft! Die Streaminale hatte große Vorteile: kein Verschlafen, keine verpasste U-Bahn, keine Ausreden. Zum ersten Mal wurden ganz bestimmt ALLE Wettbewerbsbeiträge gesichtet. Obwohl – stimmt gar nicht: „Fabian oder Der Gang vor die Hunde“ mit Tom Schilling und „Nebenan“, das Regiedebüt von Daniel Brühl, standen im Stream nicht zur Verfügung. Die Trauer hält sich in Grenzen.

Fazit: sehr verkopft, viel Oberstufen-Video-AG. Die Sehnsucht nach großem Kino konnte die Berlinale dieses Jahr nicht erfüllen. Film darf neben Hirn und manchmal Herz auch gerne Auge und Bauch berühren. Nächstes Mal bitte mehr Mut zur gesunden Mischung.

Herzlichen Glückwunsch an die Gewinner:

Goldener Bär: „Babardeală cu bucluc sau porno balamuc“ von Radu Jude
Silberner Bär – Großer Preis: „Guzen to sozo“ von Ryusuke Hamaguchi
Silberner Bär: „Herr Bachmann und seine Klasse“ von Maria Speth
Beste Regie: Dénes Nagy für „Természetes fény“
Beste Schauspielerische Leistung Hauptrolle: Maren Eggert in „Ich bin dein Mensch“
Beste Schauspielerische Leistung Nebenrolle: Lilla Kizlinger in „Rengeteg – mindenhol látlak“
Bestes Drehbuch: Hong Sangsoo für „Inteurodeoksyeon“
Herausragende Künstlerische Leistung: Yibrán Asuad für die Montage von
„Una película de policías“

WETTBEWERB

UNA PELÍCULA DE POLICÍAS

Die Vorspannmusik ist eine hübsche Hommage an die 1970er-Jahre US-Polizeifilme. Danach bleibt lange unklar, ob man hier gerade echten oder gespielten Polizisten bei der Arbeit zuschaut. Nach gut der Hälfte die Auflösung: Zwei Schauspieler*innen wollen herausfinden, was es braucht, ein Cop in Mexiko-City zu sein. Die beiden tauchen so tief in ihre Rollen, dass sich die Grenzen zwischen Realität und Fiktion auflösen. Film im Film, der immer wieder die Erzählperspektive wechselt. Alonso Ruizpalacios schafft mit seinem Verwirrspiel einen interessanten Einblick in die korrupte und gefährliche Welt der mexikanischen Polizei.

Englischer Titel „A Cop Movie“
Mexiko 2021
107 min
Regie Alonso Ruizpalacios

WETTBEWERB

HERR BACHMANN UND SEINE KLASSE

Da wird Flecki Fleckenstein ganz neidisch: Dieter Bachmann ist ein Lehrer, wie man ihn sich wünscht. Empathisch und engagiert gibt er seinen Schüler:innen, die aus verschiedenen Ländern stammen und teilweise kaum Deutsch sprechen, das Gefühl, an seiner Schule ein neues Zuhause gefunden zu haben. Er tut das, was ein guter Lehrer tun sollte: die Jugendlichen sanft auf ihren Weg ins Erwachsenenleben leiten, ihnen Möglichkeiten aufzeigen und Freiheiten lassen.

Mit 3,5 Stunden Laufzeit (🙄) vielleicht ein klitzekleines bisschen zu lang geraten, aber dafür wachsen einem Herr Bachmann und seine Schüler so sehr ans Herz, dass man am Ende des Schuljahres mit ihnen gemeinsam ein Tränchen verdrückt. Maria Speths einfühlsamer Dokumentarfilm hat den Silbernen Bären gewonnen.

Englischer Titel „Mr Bachmann and His Class“
Deutschland 2021
217 min
Regie Maria Speth

BERLINALE SPEZIAL

THE MAURITANIAN

Ist er schuldig oder unschuldig? Mohamedou Ould Slahi sitzt im Gefangenenlager Guantánamo Bay ein, er wird verdächtigt, an den Terroranschlägen von 9/11 beteiligt gewesen zu sein. Jahrelang wartet er auf einen Prozess, bis sich die Anwältin Nancy Hollander seines Falls annimmt und damit einen Kampf gegen das System beginnt. 
Am stärksten ist „The Mauritanian“ in den Rückblenden, die die Vorgeschichte Slahis erzählen. Die Recherche und der Weg zum Prozess – das ist solide inszeniertes Mainstreamkino, das gab es so ähnlich schon tausendmal in anderen Gerichtsfilmen zu sehen. Jodie Foster, Benedict Cumberbatch und der herausragende Tahar Rahim als ambivalenter Terrorverdächtiger machen „The Mauritanian“ zu keinem bahnbrechenden, aber trotzdem sehenswerten Politthriller. Die wahre, schreiend ungerechte Geschichte basiert auf dem 2015 erschienenen Buch „Guantánamo-Tagebuch“, das Slahi in Gefangenschaft schrieb und das zum Bestseller wurde. 

England 2021
130 min
Regie Kevin Macdonald

BERLINALE 2021 – TAG 4

Ein Wort zum Plakat- und Logodesign: Bravo Kinder! Hier hatte eindeutig die LOBI-AG ihre Tatzen im Spiel. Hübsch und handgemacht, um Klassen besser, als das bemüht künstlerische Grafikfiasko vom letzten Jahr.

WETTBEWERB

GUZEN TO SOZO

Zwischenbilanz: In allen – ALLEN – Wettbewerbsfilmen wird geraucht. Manchmal mehr (Inteurodeoksyeon), manchmal weniger (Petite Maman). Geraucht und geredet, möchte man sagen. Denn Geschwätzigkeit ist das andere Laster in diesem Berlinalejahr. Vielleicht eine neue Form der sozialen Interaktion: Statt sich in Kneipen zu treffen und zu reden, schaut man Filme an, in denen die Schauspieler reden. Und reden. Und reden.
In drei verschiedenen, nicht miteinander verknüpften Episoden erzählt „Guzen To Sozo“ von Frauen und Männer, die über ihre Beziehungen sprechen. Regisseur Ryusuke Hamaguchi scheint ein großer Bewunderer von Woody Allen zu sein. Wie sein unerreichtes Vorbild lässt auch er seine Figuren in teils skurrile Situationen stolpern. Nur mit dem Unterschied, dass „Guzen To Sozo“ visuell sehr tranig daherkommt.

Englischer Titel „Wheel of Fortune and Fantasy“
Japan 2021
121 min
Regie Ryusuke Hamaguchi

WETTBEWERB

GHASIDEYEH GAVE SEFID

Der Makler macht der jungen Mutter wenig Hoffnung: Witwen, Hunde- oder Katzenbesitzer und Junkies haben in Teheran keine Chance. Für ihre Notlage kann Mina nichts, denn ihr Ehemann Babak wurde zu Unrecht für ein Verbrechen hingerichtet. Wie ein guter Geist taucht da plötzlich Reza auf, der behauptet, Schulden bei Babak gehabt zu haben, die er jetzt begleichen möchte. Mina ahnt nicht, dass Reza ein dunkles Geheimnis vor ihr verbirgt.
Schuld und Sühne – ein klassisches Filmsujet, hervorragend besetzt und meisterhaft inszeniert. „Ballad of a White Cow“ führt im Iran zu Kontroversen, schließlich hinterfragt er kritisch das dortige Justizsystem und thematisiert nebenbei noch weitere Tabus, wie Frauenfeindlichkeit und staatliche Unterdrückung.
Hauptdarstellerin Maryam Moghaddam führte gemeinsam mit Behtash Sanaeeha die Regie bei diesem stillen und doch wuchtigen Film.

Englischer Titel „Ballad of a White Cow“
Iran / Frankreich 2020
105 min
Regie Behtash Sanaeeha, Maryam Moghaddam

BERLINALE SPEZIAL

JE SUIS KARL

Genau so könnte es in nicht allzu ferner Zukunft kommen: Die junge Generation hat es gründlich satt und tut sich zusammen, um ein „neues Europa“ zu gründen. Dass das scheinbar nur mit rechtspopulistischen Parolen geht, ist die Kehrseite der Medaille.
Maxi ist nach einem Terroranschlag traumatisiert, sie hat ihre Mutter und ihre beiden Brüder verloren. Da tritt der charismatische Karl in ihr Leben. Der hat große Pläne, will ganz Europa verändern. „Was wäre für dich das Schlimmste?“, fragt sie ihn. „Sinnlos zu sterben“, antwortet er. „Und das Beste?“ „Sinnvoll“. Maxi verliebt sich Hals über Kopf in den charismatischen Neonazi und folgt ihm blind auf seiner Tour durch Europa. Das neue Unheil verbirgt sich hinter hübschen Gesichtern und ist im Social Network präsent.
Christian Schochow zeigt realistisch, wie die next generation der rechten Szene ihre Follower verführen könnte: Konzerte, Influencer-Liveberichte, aufwiegelnde Reden und ein paar free T-Shirts unters Volk geschmissen. Baby-Hitler ist ein Rockstar.
„Je Suis Karl“ erzählt eine interessante Geschichte, doch alles passiert ein bisschen zu schnell. Vor allem Maxis Radikalisierung findet im Zeitraffertempo statt, der Stoff hätte locker für ein paar Folgen einer Miniserie gereicht. Gegen Ende sind Drehbuchautor Thomas Wendrich dann die Pferde durchgegangen – die Zufälle häufen sich, die Handlung wirkt zusehends konstruierter. Wirklich toll sind die Schauspieler: Jannis Niewöhner kauft man das manipulative Neonazi-Arschloch voll und ganz ab. Die Schweizerin Luna Wedler hat mit ihren 21 Jahren schon mehrfach mittelmäßige Filme aufgewertet. Und es ist schön, den unterschätzten Milan Peschel endlich mal nicht in einer Klamotte zu sehen.

Deutschland / Tschechische Republik 2021
126 min
Regie Christian Schwochow

BERLINALE SHORTS

DEINE STRASSE

Zum Schluss noch eine Kurzfilm-Perle: Die von Sibylle Berg erzählte Geschichte, wie es dazu kam, dass es in Bonn eine Straße namens „Saime-Gençe-Ring“ gibt.

Schweiz 2020
7 min
Regie Güzin Kar

BERLINALE 2021 – TAG 3

Halbzeit. Unvorstellbar, dass vor einem Jahr noch Hundertschaften maskenloser Menschen im Kino saßen und gemeinsam gehustet haben. Früher war eben doch nicht alles besser. Bleibt die Hoffnung, dass sich das Virus bis zum Sommer verzogen hat. Husch, husch.

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PETITE MAMAN

Schräge Idee: Nach dem Tod ihrer Großmutter hilft Nelly ihren Eltern beim Ausräumen des Hauses. Beim Spielen im Wald lernt sie die gleichaltrige Marion kennen, die sich als ihre Mutter im Kindesalter entpuppt. Vergangenheit trifft Gegenwart. „Petite Maman“ wirkt wie eine zarte, sehr französische Antwort auf die Netflixserie „Dark“. Der neue Film von Céline Sciamma erzählt vom Erwachsenwerden, von Trauerbewältigung und Abschiedsschmerz. Schön.

Frankreich 2021
72 min
Regie Céline Sciamma

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RENGETEG – MINDENHOL LÁTLAK

Die nervös verwackelte Kamera bleibt konsequent nah auf den Gesichtern und Händen der Protagonisten. Es passiert fast nichts im neuen Film von Bence Fliegauf, dafür wird unendlich viel geredet. „Rengeteg – Mindenhol Látlak“ ist eine Soap-Opera in Hörspielform. Visuell eher quälend, bereitet es doch ein voyeuristisches Vergnügen, den Gesprächen zu lauschen.
Die poetischere Beschreibung steht wie immer im Pressetext:
„Ein Mann spricht mit dem Kleiderschrank – weshalb? Wenn Menschen Sphären sind, können sie sich je begegnen?“

Englischer Titel „Forest – I See You Everywhere“
Ungarn 2020
112 min
Regie Bence Fliegauf

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RAS VKHEDAVT, RODESAC CAS VUKUREBT?

Was wir sehen, wenn wir zum Himmel schauen, bleibt bis zum Ende ungeklärt – Blau vielleicht? Schwarz sieht der Zuschauer, wenn er den eingeblendeten Anweisungen in diesem Film folgt: ein erster Glockenton signalisiert, man solle die Augen schliessen, ein zweiter, wann man sie wieder öffnen darf. So viel Interaktion war selten. Nach fünf Minuten wandert der Blick zur Uhr und es stellt sich die bange Frage, wie man die noch folgenden 145 überstehen soll. Schön, dass es auch mittelmässige Studentenfilme in das Wettbewerbsprogramm schaffen. Gewinnt bestimmt den Goldenen Bären.

Deutscher Titel „Was sehen wir, wenn wir zum Himmel schauen?“
Deutschland / Georgien 2021
150 min
Regie Alexandre Koberidz

BERLINALE SPEZIAL

LIMBO

Ein Jungpolizist und sein erfahrener Partner sind einem obsessiven, besonders brutalen Frauenmörder auf der Spur. Müll, abgetrennte Hände und überall Schmeißfliegen – Hongkong zeigt sich hier von seiner schmutzigsten Seite.
Der neue Film von Soi Cheang (Dog Bite Dog) ist ein stylisher, in schwarz-weiß gedrehter Cop-Thriller – spannend bis zuletzt und teils exzessiv brutal. Das schreit nach US-Remake: Russell Crowe und Joseph Gordon-Levitt bitte für die Hauptrollen besetzen. 

Hongkong, China / Volksrepublik China 2021
118 min
Regie Soi Cheang

BERLINALE 2021 – TAG 2

Alles anders – diesmal gibt es (zum ersten Mal) keine einzige US-amerikanische Produktion im Wettbewerb. Dafür einen Film mit den Worten „Sau“ und „Porno“ im Titel, das ist Entschädigung genug.

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TERMÉSZETES FÉNY

Der ungarische Regisseur Dénes Nagy erzählt eine winterliche Geschichte aus dem Zweiten Weltkrieg. „Natural Light“ ist ein filmisches Gemälde, schlammfarben, fahl und stimmungsvoll. Ein Film über wortkarge Soldaten im Wald, die von einem moralischen Dilemma ins nächste geraten. Schwere Kost für die Sichtung am heimischen Computer, so was gehört ins dunkle Kino auf die große Leinwand. Meanwhile wächst die Sehnsucht nach leichter Unterhaltung.

Englischer Titel „Natural Light“
Ungarn / Lettland / Frankreich / Deutschland 2020
103 min
Regie Dénes Nagy

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BABARDEALĂ CU BUCLUC SAU PORNO BALAMUC

„Schlampe!“, die Empörungswelle der Eltern schlägt hoch. Ein Video, das eine junge Lehrerin beim Sex mit ihrem Ehemann zeigt, ist viral gegangen. Kein echter Skandal, eher eine private Peinlichkeit. Doch schon Dirty Harry wusste: Meinungen sind wie Arschlöcher, jedermann hat eins. Das trifft in einer von Social-Media verzerrten Welt umso mehr zu. Jeder kann alles sagen, posten und kommentieren, die nächste große Verschwörungstheorie lauert schon um die Ecke.
„Bad Luck Banging or Loony Porn“, so der englische Titel, zeichnet ein düsteres Bild von unserer modernen, übersexualisierten Gesellschaft.  In drei Kapiteln – deprimierend und lustig zugleich – hält Regisseur Jude seinen rumänischen Mitbürgern gnadenlos den Spiegel vors Gesicht.

Englischer Titel „Bad Luck Banging or Loony Porn“
Rumänien / Luxemburg / Kroatien / Tschechische Republik 2021
106 min
Regie Radu Jude

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ALBATROS

Étretat, eine malerische Gemeinde in der Normandie: Laurent (ausgezeichnet: Jérémie Renier) ist Vorgesetzter einer Polizeieinheit und hat täglich vom Versicherungsbetrug über Kindesmissbrauch bis zum Mopedfahren ohne Helm mit einem bunten Programm an Delikten zu tun. Als er einen verzweifelten Landwirt vom Selbstmord abhalten will, kommt es zur Katastrophe.

Gleich zu Beginn gibt es eine Szene, die als Omen für das Schicksal von Laurent gedeutet werden kann: Ein lebensmüder Mann springt vom Felsplateau und kracht in eine gerade am Strand stattfindende Fotosession. Gerade noch banale Normalität, die urplötzlich zerstört wird. So stark die erste Hälfte mit den Alltagsbeschreibungen der Polizisten, so einschläfernd die zweite. Nachdem die Tragödie geschehen ist, switcht der Film in eine seltsam melancholische „Der Mann und das Meer“-Studie, die in einem schalen Happy End ausfranst.

Englischer Titel „Drift Away“
Frankreich 2020
115 min
Regie Xavier Beauvois

WETTBEWERB

INTEURODEOKSYEON

Da setzt der erste Kopfschmerz ein: Der neue Film von Hong Sang-soo sieht aus, als wäre er auf U-Matic Lowband mit einer Kamera gedreht worden, bei der das Auflagemaß nicht richtig eingestellt ist. Zu sehen sind Koreaner, die viel rauchen – in Korea und an Berlins hässlichstem Ort, dem Potsdamer Platz. Ist schwarz/weiß und nur 66 Minuten lang – muss Kunst sein.

Englischer Titel „Introduction“
Republik Korea 2020
66 min
Regie Hong Sang-soo

ENCOUNTERS

THE SCARY OF SIXTY-FIRST

Über Verstorbene soll man nichts Schlechtes sagen – eine Empfehlung, die Regisseurin Dasha Nekrasova herzlich wenig juckt. Das Debüt der Podcast-Moderatorin ist eine Abrechnung mit dem Milliardär Jeffrey Epstein – und gleichzeitig eine Reminiszenz an die grobkörnigen Psycho-Horror-Filme der 1970er-Jahre. „The Scary of Sixty-First“ besticht durch seinen handgemachten (um nicht zu sagen amateurhaften) Independent-Look. Krude, wirr und trotzdem einigermaßen unterhaltsam.

USA 2020
81 min
Regie Dasha Nekrasova

PANORAMA

LE MONDE APRÈS NOUS

Die Welt nach uns – nein, das ist keine apokalyptische Zukunftsvision, sondern der Titel von Labidis Erstlingsroman. Als sich der bitterarme Jung-Schriftsteller in die niedliche Schauspielschülerin Elisa verliebt, träumt er von der großen Liebe. Sehr entspannt erzählt Louda Ben Salah-Cazanas in seinem Spielfilmdebüt von einer jungen Migranten-Generation in Frankreich, hin- und hergerissen zwischen dem Kampf ums banale Überleben und der großen Sehnsucht nach mehr. Lieben, leben, rauchen – très français.

Englischer Titel “ The World After Us“
Frankreich 2021
85 min
Regie Louda Ben Salah-Cazanas

PERSPEKTIVE DEUTSCHES KINO

DIE SAAT

Rainer ist Bauarbeiter und muss mit seiner Familie aufs Land ziehen, die Stadt ist zu teuer geworden. Seine 13-jährige Tochter Doreen lernt dort Mara kennen, die keinen guten Einfluss ausübt und ihre neue Freundin sogar zum Diebstahl verführt. Auch bei Rainer auf der Arbeit läuft es zunehmend  schlechter. Als sein neuer Vorgesetzter einen älteren Mitarbeiter feuert, brennen bei Rainer die Sicherungen durch. Eine Familie unter Druck: Hanno Koffler, Anna Blomeier und Dora Zygouri spielen die Kleinfamilie im zweiten Spielfilm von Mia Maariel Meyer. Das Drehbuch zu diesem intensiven und sehenswerten Familiendrama hat die Regisseurin gemeinsam mit Hauptdarsteller Hanno Koffler geschrieben.

Englischer Titel “ The Seed“
Deutschland 2021
100 min
Regie Mia Maariel Meyer

BERLINALE 2021 – TAG 1

Kurzes Jammern: Buhuhu – Die Berlinale findet in diesem Jahr nur im Wohnzimmer statt, wenigstens der erste Teil, das sogenannte „Industry Event“. Keine große Leinwand, kein Gruppenerlebnis, keine schlechten Snacks im Foodcourt. Dafür muss man sich nicht mehr schamvoll aus dem Kino schleichen, sondern kann einfach vorspulen, wenn es zu langweilig wird.
Das große Publikumsfestival folgt im Juni – dann hoffentlich ohne Coronaeinschränkungen.

WETTBEWERB

ICH BIN DEIN MENSCH

Frauen arbeiten in deutschen Berlinale-Beiträgen offenbar gerne im Museum: Letztes Jahr gab Paula Beer als Undine die Historikerin, diesmal arbeitet Maren Eggert als Alma am Pergamonmuseum. Um Fördermittel zu ergattern, nimmt sie an einem außergewöhnlichen Experiment teil: Drei Wochen lang muss sie mit Tom (Dan „Downton Abbey“ Stevens), einem sehr menschlichen Roboter zusammen leben. Der soll sich dank KI in den perfekten Lebenspartner verwandeln. Doch einen guten Flirt zu programmieren, bleibt auch in dieser Zukunftsvision schwierig. „Deine Augen sind wie Bergseen, in denen ich versinken möchte.“ Mit Poesie aus der Mottenkiste kann Tom das verhärtete Herz von Alma nicht öffnen. Maria Schraders nicht uncharmanter Film mäandert zwischen theaterhafter Künstlichkeit und leisem, intelligentem Humor. Das ist unterhaltsam, packt aber nie so ganz.
„Ich bin dein Mensch“ ist einer von vier (!) deutschen Wettbewerbsbeiträgen, am Freitag gibt es noch „Herr Bachmann und seine Klasse“ zu besprechen. “Fabian oder Der Gang vor die Hunde” mit Tom Schilling und “Nebenan”, das Regiedebut von Daniel Brühl, stehen im Stream leider nicht zur Verfügung.

Englischer Titel „I’m Your Man“
Deutschland 2021
105 min
Regie Maria Schrader

WETTBEWERB

MEMORY BOX

Seit „Bridges of Madison County“ ein beliebter Drehbuchkniff: Die Kinder kramen in den Hinterlassenschaften der Eltern und finden dabei heraus, dass die auch mal ein Leben jenseits der bekannten Familienstrukturen hatten. „Memory Box“ ist eine Fortentwicklung, eine tiefer gehende, sozusagen 2.0-Version dieser Idee. Die libanesische Regisseurin und Künstlerin Joana Hadjithomas schickt zwischen 1982 und 1988, im Alter von 13 bis 18 Jahren ihrer besten Freundin regelmäßig Kassetten, Briefe und Fotos nach Frankreich. Sechs Jahre lang erzählen sich die Mädchen bis ins kleinste Detail von ihrem Leben. Die eine aus Paris, die andere aus dem libanesischen Bürgerkrieg. Aus dieser wahren Geschichte ist nun „Memory Box“ entstanden. In ihrem teils experimentellen Drama verbinden die Regisseurinnen dokumentarische mit fiktionalen und rekonstruierten Elementen zu einem visuell aufregenden Mix. Herausgekommen ist ein ergreifender und erkenntnisreicher Film, der sich mit den elementaren Fragen beschäftigt: Wie wichtig sind Erinnerungen? Wie beeinflusst die Vergangenheit die Gegenwart? Sehenswert.

Frankreich / Libanon / Kanada / Katar 2021
100 min
Regie Joana Hadjithomas, Khalil Joreige

ENCOUNTERS

Vị

Ein nigerianischer Mann lebt mit vier Vietnamesinnen in den Slums von Ho-Chi-Minh-City. Die Tage dröppeln so vor sich hin: Die meiste Zeit sind alle nackt, bereiten Speisen zu oder waschen sich gegenseitig. Einmal sitzt eine Schnecke auf dem Penis des Mannes. Zwischendurch essen er und sein Sohn Wassermelone im Videochat. 
Lê Bảos Erstlingswerk wirkt wie ein filmgewordenes Kunstprojekt und ist eine Kontemplation in Blau und Braun. Jedenfalls schön anzusehen.

Englischer Titel „Taste“
Vietnam / Singapur / Frankreich / Thailand / Deutschland / Taiwan 2021
97 min
Regie Lê Bảo

BERLINALE SPEZIAL

TIDES

Mad Max im Wattenmeer: Schreckliche Geheimnisse und schicksalhafte Entscheidungen – verpackt in einem Sci-Fi-Thriller mit Öko-Kritik – produziert vom Hollywood-Schwaben Roland Emmerich. Das lässt nichts Gutes erahnen.
Die Menschen haben die Erde endgültig kaputt gemacht. Deshalb fliehen ein paar Reiche auf den must-have-Planeten aller modernen Science-Fiction-Filme „Kepler“ (guter Hundename). Zwei Generationen später kehrt eine Gruppe Auserwählter zur mittlerweile überfluteten Erde zurück, denn da soll wieder Leben möglich sein.
Inhaltlich werden dicke Bretter gebohrt: Kolonialismus, Ausbeutung, das Brandschatzen der Erde, der Klimakollaps, das Ende des Patriarchats und natürlich der elendigliche Überlebenswille der Menschheit. Relativ rasch verflacht der Film zum konventionellen Gut-gegen-Böse-Drama mit absehbarem Ende. Dass „Tides“ trotzdem ganz okay geworden ist, liegt vor allem an der stimmungsvollen Kamera von Markus Förderer und der souveränen Regie von Tim Fehlbaum.

Deutschland / Schweiz 2021
104 min
Regie Tim Fehlbaum

MUSIC

Zwei schlechte Schauspielerinnen auf der Höhe ihres Nicht-Könnens: Kate Hudson spielt, von einem frechen Kurzhaarschnitt entstellt, die Drogendealerin Zu, die unerwartet die Vormundschaft für ihre autistische Schwester Music (Maddie Ziegler) übernehmen muss. Zunächst völlig überfordert, schafft sie es mithilfe eines freundlichen Nachbarns, die schwierige Familiensituation zum Besseren zu wenden. Die Moral von der Geschicht‘ – an seinen Aufgaben wächst man.

Das Regiedebüt des australischen Multitalents Sia Furler besteht aus zwei sehr unterschiedlichen Filmen, die weder für sich genommen und schon gar nicht als Ganzes funktionieren. Einerseits die Welt in Musics Kopf: Alberne Gesangs- und Tanznummern, als hätten die Kostüm- und Set-Abteilung gemeinsam einen LSD-Trip geschmissen. Andererseits die Welt da draußen: ein abgedroschenes Drama mit jeder Menge Anleihen an „Rain-Man“. Wie dort dient der autistische Charakter vor allem dazu, einen Egomanen zu läutern und zu einem besseren Menschen zu machen. Im Unterschied zu „Music“ konnte das Barry-Levinson-Drama von 1988 allerdings mit souveräner Regie und zwei herausragenden Darstellern punkten.

Maddie Ziegler fehlt das schauspielerische Können, dem autistischen Mädchen die nötige Authentizität zu verleihen. Die Entscheidung, Ziegler gleich in der Vorspann-Sequenz als „normale“ Person in einer Musicalnummer zu präsentieren, macht die Sache nicht besser. Danach sieht man nur noch das bemühte Schauspiel. Ein bisschen Schreien, kläffendes Lachen und mit gebleckten Zähnen in die Gegend starren genügen nicht, der Jungschauspielerin ihre Rolle abzunehmen.

„Music“ funktioniert höchstens als Vehikel für die Songs der australischen Sängerin Sia. Die sind schön catchy, den Rest hätte es nicht gebraucht.

FAZIT

Musikvideo mit eingeschobener Handlung.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Music“
USA 2020
107 min
Regie Sia
ab 12. Februar 2021 als VoD
ab 05. März als DVD und Blu-ray

alle Bilder © Alamode

YES, GOD, YES – BÖSE MÄDCHEN BEICHTEN NICHT

Männer sind wie Mikrowellen: schnell heiß! Frauen sind wie Backöfen: Sie brauchen, bis sie auf Temperatur kommen! Sex vor der Ehe ist Sünde! Masturbation führt auf direktem Weg in die Hölle! Solcherlei Weisheiten muss sich Alice jeden Tag in der Schule anhören. Das steht im krassen Widerspruch zu ihrer  Vorliebe für die verschwitzte Sexszene aus „Titanic“ oder ihre „unkeuschen“ Handlungen beim Onlinechat.

Strafe muss sein: Alice wird für ein langes Wochenende ins Kirchenlager geschickt. Dass die von der Kirche gepredigten Verhaltensregeln Theorie sind und Theorie nicht gleich Praxis bedeutet, begreift sie dort schnell. Weder die züchtigen Vorzeigeschüler noch der Keuschheit predigende Pfarrer halten sich an die selbstauferlegten strengen Vorgaben. 

„Yes, God, Yes“ ist eine charmante und sehr kurze – ohne Abspann läuft der Film gerade mal 72 Minuten – Teenager-Komödie über das sexuelle Erwachen eines katholischen Schulmädchens im Jahr 2001. Regisseurin Karen Maine hat ihren eigenen Kurzfilm als abendfüllenden (sic!) Spielfilm neu inszeniert. Ganz lustig, wie sie dabei das heuchlerische Getue der Kirche um Sexualität und Sünde vorführt. Der Film ist in keinster Weise revolutionär und hätte hier und da ruhig etwas mehr wagen können, entwickelt aber trotzdem seinen eigenen, unperfekten Charme.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Yes, God, Yes“
USA 2020
78 min
Regie Karen Maine
ab 14. Januar 2021 auf Amazon Prime Video
ab 29. Januar digital und ab 05. Februar auf DVD und Blu-ray erhältlich

alle Bilder © Capelight Pictures

RUN

Mutterliebe kann erdrückend sein: Diane (Sarah Paulson) hat ihre Tochter Chloe (Kiera Allen) in völliger Isolation großgezogen. Das schwerkranke, an den Rollstuhl gefesselte Mädchen kann nichts tun, ohne dabei von ihrer übergriffigen Mutter kontrolliert zu werden. Diane verabreicht Chloe ihre täglichen Medikamente, macht Physiotherapie, verordnet eine strikte Diät – scheinbar alles, um Chloes Leben erträglicher zu machen. Doch nach ein paar irritierenden Begebenheiten beginnt Chloe, die Motive ihrer Mutter infrage zu stellen.

Das kranke Verhältnis der Figuren erinnert stark an die berühmte Stephen-King-Geschichte „Misery“, in der eine wahnhafte Leserin ihren Lieblingsautor in Gefangenschaft nimmt.

Geiselhaft bei Mutti: Der kurzweilige Thriller „Run“ erfindet das Rad zwar nicht neu, bietet aber genügend clevere Wendungen über 90 Minuten. Die Einfachheit des Plots tut der Spannung dabei keinen Abbruch. Beide Schauspielerinnen sind top: Newcomerin Kiera Allen ist auch im wahren Leben an den Rollstuhl gefesselt (echte Inklusion) und Sarah Paulson hat mittlerweile die Fähigkeit perfektioniert, sich auf der Stelle von hysterisch über zerbrechlich zu „Mommie Dearest“ sehr, sehr wütend zu wandeln.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Run“
USA 2020
89 min
Regie Aneesh Chaganty
ab 14. Januar 2021 auf DVD und Blu-ray

alle Bilder © Leonine

WONDER WOMAN 1984

Enttäuschendes Sequel

WW84 beginnt mit einem Rückblick in die Kindheit der Superheldin: Die kleine Diana wettstreitet mit erwachsenen Amazonen in einem Kampf, der wie eine Folge der RTL-Show „Ninja Warrior“ aussieht. Die Holzhammer-Botschaft dieser Eröffnungsszene lautet: Echte Helden betrügen nicht.

Nach diesem käsigen Einstieg springt die Handlung ins titelgebende Jahr 1984 – vor allem modetechnisch eines der deprimierendsten Jahrzehnte der Menschheitsgeschichte. Die Netflix-Serie „Stranger Things“ war Impulsgeber und eine Zeit lang hat es ja auch Spaß gemacht, sich wieder an Schulterpolstern und Synthesizermusik zu verekeln. Nur wie lange soll diese Idee noch ausgequetscht werden? Wenn wenigstens die Augen schmerzen würden, wie beim Anblick des quietschbunten Kinoplakats, doch der Retro Look in WW84 ist nur ein Gimmick, die zu moderne Bildsprache und Spezialeffekte torpedieren das gewünschte Zeitgeist-Feeling.

Visuell also eher schwach und auch die Story reißt’s nicht raus. Die ist in etwa so originell wie ein „Lustiges Taschenbuch“ aus Entenhausen: Ein antiker Zauberstein erfüllt bei Berührung jeden Wunsch. Doch wie bei der berühmten Geschichte mit der Affenpfote hat das Wünschen mitunter katastrophale Nebenwirkungen.
Wonder Woman Diana (Gal Gadot) sehnt sich natürlich ihre große Liebe Steve (Chris Pine) ins Leben zurück. Der war im ersten Weltkrieg den Heldentod gestorben und findet sich nun unversehens in den geschmacklosen 1980er-Jahre wiedergeboren. Das sorgt für ein paar erwartbare, nur mäßig komische „Fisch aus dem Wasser“-Momente. Den gleichen Drehbuchkniff hatte schon der erste Teil mit einer über die Zukunft staunenden Diana viel erfolgreicher angewandt.

DC did it again und liefert einen weiteren unterwältigenden Superhelden-Film ab. „Wonder Woman 1984“ leidet an klassischen Fortsetzungsschmerzen: Mehr Lärm plus mehr CGI plus mehr Bösewichter ergibt selten einen besseren Film. Alles in allem ein schwacher zweiter Teil mit ein paar gelungenen Momenten. Möglicherweise entfaltet der Film auf der großen Kinoleinwand mehr visuelle Strahlkraft. WW84 ist bisher nur auf dem US-Bezahlsender HBO verfügbar. Ein Starttermin für Deutschland steht noch aus.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Wonder Woman 1984“
USA 2020
151 min
Regie Patty Jenkins
In den USA (und für trickreiche Deutsche) seit 25. Dezember auf HBO verfügbar

alle Bilder © 2020 Warner Bros. Entertainment Inc.

PORT AUTHORITY

In Berlin-Kreuzberg werden Kurse angeboten, FAZ und SPIEGEL schreiben darüber: Der von Madonna berühmt gemachte Tanzstil „Vogue“ hat es ins Jahr 2020 geschafft. Spätestens seit der preisgekrönten Netflix-Serie „Pose“ feiert der Ende der 1970er-Jahre in New York entstandene Ausdruckstanz mit attitude ein Comeback.

Wye und ihre Freunde striken the pose vor dem Busbahnhof Port Authority in Manhattan. Paul, der einem unglücklichen Leben in Pittsburgh entflohen ist, schaut zu und schockverliebt sich in die junge Schwarze. Weil er vom Land kommt, merkt er nicht, dass seine Angebetete trans ist. Die maskuline Stimmlage oder ihr wildes Leben in der LGBTQ-Subkultur hätten Hinweise sein können, aber Liebe macht bekanntlich blind. Nur ein paar Lügen und Missverständnisse später taucht Paul an der Seite seiner neuen Freundin in die glitzernde Welt der Ballroom-Community ein.

So richtig zünden will die Lovestory zwischen der schillernden, selbstbewussten Transgender-Frau und dem stoischen Looser-Boy aus der Provinz nicht. Das Drehbuch holpert stellenweise heftig, und ob das Schauspiel der Darsteller authentisch oder hölzern ist, liegt im Auge des Betrachters.
Ansonsten ist „Port Authority“ ein stimmungsvoller, etwas düsterer (auch was die Belichtung angeht) New York-Film – kann man sich anschauen.

FAZIT

Der von Martin Scorsese mitproduzierte Cannes-Beitrag 2019 teilt das Schicksal vieler Filme in diesem Annus Horribilis und erscheint nur als VoD.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Port Authority“
OmU
USA 2019
101 min
Regie Danielle Lessovitz
ab 17. Dezember als VoD erhältlich

alle Bilder © Edition Salzgeber

UND MORGEN DIE GANZE WELT

„Wer unter 30 nicht links ist, der hat kein Herz. Und wer mit über 30 noch links ist, der hat keinen Verstand.“ Getreu diesem Motto schließt sich die zwanzigjährige Luisa einer Antifa-Gruppe in Mannheim an – ja, auch in der verschlafenen Schachbrett-Stadt gibt es politischen Kampf. Luisa und ihre Freunde Alfa und Lenor haben Großes vor: Unter einer Revolution gegen das herrschende System machen sie’s nicht. Schließlich steht im 20. Artikel des Grundgesetzes: „Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat. Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.“ Also alles Auslegungssache. Die klaren Feinde sind die „Faschos“ – in diesem speziellen Fall ein Schlägertrupp, der für Wahlkampfveranstaltungen einer fiktiven, aber klar der AfD nachempfundenen Partei als Wachschutz angeheuert wird. Luisa zögert zunächst, doch Alfa und Lenor halten auch den Einsatz von Gewalt für ein legitimes Mittel. Was als Farbeier-werfender Spaß beginnt, läuft bald aus dem Ruder.

Alfa, Lenor und Luisa: Das klassische Trio aus Herz, Hirn und Faust. Doch Luisas Aufruf zu immer brutaleren Aktionen geht den Jungs bald zu weit. Das brave Mädchen aus gutem Haus mutiert zur rücksichtslosen Kämpferin im bewaffneten Widerstand. Dass sich Luisa in den coolen Alfa verliebt, der wie eine jugendliche Andreas-Baader-Kopie daherkommt, reicht kaum als Erklärung für ihre zunehmende Radikalisierung aus. Ihre kompromisslose Entwicklung bleibt schwer nachvollziehbar und ihre Motivation, zur Waffe zu greifen und auf Naziköpfe zu zielen, diffus.

Was wie ein brisanter Politthriller beginnt, verpufft am Ende ohne großen Erkenntnisgewinn. Immerhin taugt „Und morgen die ganze Welt“ zur Bestätigung des eigenen Weltbilds: Die Linken sind die Guten, die Rechten sind die Bösen – aber das wusste man auch schon vorher.

Überraschenderweise lief der Film als einziger deutscher Beitrag bei den internationalen Filmfestspielen von Venedig. Der „Tagesspiegel“ fragte ganz besorgt, ob es verhältnismäßig sei, „dass sich Julia von Heinz im Rampenlicht des Wettbewerbs behaupten“ müsse – ganz so, als sei die Regisseurin ein zartes Pflänzchen, das es vor der bösen Realität zu schützen gelte. Eine unbegründete Sorge, denn Hauptdarstellerin Mala Emde gewann im September den Preis der unabhängigen Filmkritik Bisato d’Oro als beste Hauptdarstellerin.

FAZIT

Ästhetisch näher am kleinen Fernsehspiel als am großen Politkino.

Nachtrag: „Und morgen die ganze Welt“ geht 2021 für Deutschland ins Rennen um den Oscar für den besten ausländischen Film und sticht damit Favoriten, wie „Undine“ und „Berlin Alexanderplatz“ aus. Sehr erstaunlich…

Deutschland / Frankreich 2020
111 min
Regie Julia von Heinz
Kinostart 29. Oktober 2020
und dann wieder ab 03. Dezember 2020

alle Bilder © Alamode

GLITZER UND STAUB

Die eine Hand am Sattelknauf, die andere elegant über den Kopf gehalten, wie um die Augen vor dem Sonnenlicht zu schützen. Einziges Ziel ist es, das Gleichgewicht zu halten. Ein kurzer, brutaler Tanz – wer herunterfällt, hat verloren.

Bullenreiten ist ein unerfreulicher Sport. In seiner Sinnlosigkeit rückt er in die Nähe des spanischen Stierkampfs. Tiere leiden zum Amüsement des Zuschauers. Zum Glück hat „Glitzer und Staub“ mehr zu bieten als Bilder von gequälten Tieren, denen mit der Spore in die Seite getreten wird. Im Mittelpunkt des Dokumentarfilms stehen vier Mädchen zwischen 10 und 17 Jahren, die der Traum verbindet, ein echtes Cowgirl zu werden. Mit dem Klischee vom rosa gekleideten, mit Puppen spielenden Mädchen wird dabei gründlich aufgeräumt.

Die Filmemacherinnen Anna Koch und Julia Lemke erzählen vom Mut und Ansporn, sich in einem gefährlichen, männerdominierten Sport zu beweisen. „Never scared“ steht auf dem Gürtel von Ariyana Escobedo. Eine toughe Aussage für ein kleines Kind. „Jetzt erst recht“ könnte das trotzige Motto von Maysun lauten. Die 10-Jährige saß schon auf einem Pferd, bevor sie laufen konnte. Ihr Vater, der sich eigentlich einen Sohn gewünscht hätte und daraus auch keinen Hehl macht, glaubt, dass die Zuschauer „krasse Typen auf einem krassen Bullen sehen wollen“ – keine besonders ermutigenden Worte für seine Tochter.

Bullenreiten, praktiziert von kleinen Mädchen: eine Nische in der Nische. Die Neugierde der Zuschauer wird sich in Grenzen halten – schade, denn „Glitzer und Staub“ ist ein sehenswerter, exzellent fotografierter Dokumentarfilm über eine verborgene, seltsame Welt im Wilden Westen.

Deutschland 2020
93 min
Regie Anna Koch und Julia Lemke
Kinostart 29. Oktober 2020

alle Bilder © Port au Prince Pictures GmbH

SCHWESTERLEIN

Nina Hoss hätte bei der diesjährigen Berlinale eigentlich den silbernen Bären für die beste weibliche Hauptrolle verdient. Als Schwester(lein) des krebskranken Theaterschauspielers Sven entfaltet sie eine große Kraft, der ganze Film kreist um sie. Ihre Figur, die Autorin Lisa, muss sich gegen eine schier unendliche Flut an Dramen und Problemen stemmen: Ihre Mutter ist eine gefühlskalte Egoistin, ihr Ehemann will lieber Karriere in der Schweiz machen und der Regisseur ihres Bruders zweifelt an dessen Genesung und plant schon mal die nächste Spielzeit ohne ihn.

Nach „Undine“ (mit der tatsächlichen Gewinnerin des Bärens, Paula Beer) noch ein Märchen: „Hänsel und Gretel“ zieht sich als roter Faden durch den Film. Lisa schreibt ihrem Bruder eine Neuinterpretation der Grimm’schen Geschichte auf den Leib, gleichzeitig sind die verlorenen Kinder in der Gewalt der Hexe ein allzu offensichtliches Symbol für den Kampf der Geschwister gegen den Krebs.

„Schwesterlein“ changiert zwischen Illusion und überhöhtem Realismus. Thomas Ostermeier spielt – was sonst ? – den Regisseur, Lars Eidinger eine sterbenskranke Version des Schauspielers Lars Eidinger. Über so viel Nabelschau muss man erst mal hinwegsehen. Die Station des Sterbens werden fast artig abgehakt: der letzte besoffene Technotanz, der vermeintlich freiheitsbringende Paragliding-Flug, die hässlichen Krankenhausszenen mit viel Blut und piepsenden Maschinen. Das sind bekannte Bilder, da bewegt sich das Drama auf ausgetretenen Pfaden.

FAZIT

„Schwesterlein“ ist harte Kost. Als Film eher Mittelmaß, als Demonstration schauspielerischen Könnens eine Wucht.

Schweiz 2020
99 min
Regie Stéphanie Chuat und Véronique Reymond
Kinostart 29. Oktober 2020

alle Bilder © Weltkino Filmverleih GmbH

SCHLAF

Flugbegleiterin Marlene leidet unter wiederkehrenden Albträumen. Irgendwann schnappt sie über, verfällt in eine Art Schockstarre. Ihre Tochter Mona will helfen und macht sich auf die Suche in die Vergangenheit ihrer Mutter. In einem 70er-Jahre Dorfhotel namens Sonnenhügel findet sie irritierende Antworten.

In diesem Film wird viel gewürgt. Männer würgen Frauen, Frauen würgen Männer und manchmal würgen sich Menschen auch ganz alleine selbst. Klingt ein bisschen wie ein Edgar-Wallace-Streifen aus den 60ern. Für das verschwurbelte ZDF-Kleine-Fernsehspiel entschädigen nur die Schauspieler: Sandra Hüller als Marlene ist wie immer gut, hat hier jedoch fast nichts zu tun. Gro Swantje Kohlhof überzeugt als Tochter am Rande des Nervenzusammenbruchs. Marion Kracht und August Schmölzer spielen die Hotelbesitzer zwar schön zwielichtig, scheinen sich aber aus einem ganz anderen Film hierher verirrt zu haben.

Endlich mal wieder ein Vorurteil bestätigt: Deutsche können keine gescheiten Horrorfilme drehen! Es ist schon eine Kunst, einen Brei zu versalzen und gleichzeitig fade schmecken zu lassen. Das heillos überfrachtete Drehbuch bedient sich großzügig bei allerlei Genreklassikern wie „The Conjouring“ und „The Shining“, ohne etwas aufregend Neues daraus zu machen.

FAZIT

Heimathorror im Provinzhotel.

Deutschland 2020
102 min
Regie Michael Venus
Kinostart 29. Oktober 2020

alle Bilder © Edition Salzgeber

THE MORTUARY – JEDER TOD HAT EINE GESCHICHTE

Rechtzeitig zu Halloween kommt nicht nur eine 4K-Abtastung des George A. Romero-Zombie-Klassikers „Dawn of the Dead“ in die Kinos, sondern auch diese erfrischend altmodisch gemachte Horror-Anthologie. Vier gruselige Kurzgeschichten, von einer Rahmenhandlung eingefasst, in der ein furchterregender Leichenbestatter einem jungen Mädchen von den schaurigsten Todesfällen der vergangenen Jahrzehnte erzählt.

„The Mortuary“ steigert seinen Horror effektvoll von Episode zu Episode und sieht dabei auch noch fabelhaft aus. Regisseur und Drehbuchautor Ryan Spindell siedelt seine Geschichten in den 1950er bis 1980er-Jahren an: Was Set-Design, Kamera und Kostümbild hier aus einem überschaubaren Budget rausgeholt haben, ist wirklich phänomenal. Der Film verzichtet dabei dankenswerterweise auf den Einsatz von CGI, erzielt eine ungleich stärkere Wirkung mit analogen, handgemachten Effekten. Ein positiver Trend, der schon „Scary Stories to Tell in the Dark“ sehenswert gemacht hat.

Fun-Fact: Ryan Spindell führte 2015 bei dem 20-minütigen Film „The Babysitter Murders“ Regie. Da Kurzfilme selten Zuschauer finden und bestenfalls ein Festival-Dasein fristen, hat er seine liebevolle Hommage an die 1980er-Slasher-Filme nun in seinen ersten Langfilm „The Mortuary“ integriert. Eine Zweitverwertung sozusagen, die clever mit den anderen Geschichten verwoben, in einem überraschenden Twist endet – was will man zum Kürbisgruselfest mehr, außer vielleicht dem Rezept für eine leckere Suppe?

KÜRBISSUPPE

1 kindskopfgroßer Hokkaidokürbis
2 Zwiebeln
3 Knoblauchzehen
1 Dose Kokosmilch
1 Liter Gemüsebrühe
1 Stück Ingwer
Butter, Öl
Kürbiskerne, Kürbiskernöl
Salz, Pfeffer, Zucker

Den Kürbis waschen (Hokkaido muss nicht geschält werden) und mit einem großen Messer vierteln.
Die widerlichen Eingeweide (Kerne und Fasern) mit einem Löffel auskratzen.
Den Kürbis in daumengroße Stücke zerteilen.
In einem großen Topf die geschälten, in grobe Stücke zerschnittenen Zwiebeln und den Knoblauch im Butter/Ölgemisch andünsten. Den Kürbis dazugeben, kurz mitbraten. Dann den geschälten und geschnittenen Ingwer dazugeben.

Mit der Brühe (frisch ist gut – aus dem Glas oder als aufgelöster Brühwürfel geht auch) ablöschen.
Bei geschlossenem Deckel köcheln lassen. Nach ca. 15 Minuten die Kokosmilch dazugeben.
Noch mal 5 Minuten köcheln lassen.

In der Zwischenzeit eine halbe Folge einer Serie schauen (z. B. „The Boys“ Season 2) oder die Kürbiskerne (aus der Tüte, nicht die schleimigen aus dem gerade zerschnittenen Hokkaido) ohne Öl in der Pfanne rösten.
Die fertig gekochte Suppe (die Kürbisstücke sollten beim Gabeltest weich sein) mit dem Rührstab rücksichtslos pürieren. Mit Salz, Pfeffer und ggfs. einer Prise Zucker abschmecken.
Die Suppe in tiefen Tellern mit einem Schuss Kürbiskernöl verzieren und ein paar geröstete Kerne draufgeben. Mahlzeit!

Originaltitel „The Mortuary Collection“
USA 2019
111 min
Regie Ryan Spindell
Kinostart 22. Oktober 2020

alle Bilder © Capelight Pictures

KAJILLIONAIRE

Produziert von Brad Pitt! Ja, DEM Brad Pitt, bei dem Carsten Maschmeyer seine Frau mal im Badezimmer festgestellt hat, dass die Beleuchtung nicht ausreicht. Die Hauptrollen mit Evan Rachel Wood (Westworld), Debra Winger (Zeit der Zärtlichkeit), Richard Jenkins (Shape of Water) und Gina Rodriguez (Deepwater Horizon) hochkarätig besetzt! „Kajillionaire“ klingt wie das nächste große Ding aus Hollywood. Was für eine Überraschung, dass Miranda July trotz der versammelten Prominenz keinen Blockbuster, sondern eine kleine, absurde Tragikomödie gedreht hat. Die Regisseurin dürfte Eingeweihten bislang höchstens als Performance- und Konzept-Künstlerin bekannt sein.

Old Dolio greift im Vorbeigehen ganz automatisch in das Münzfach des öffentlichen Telefons. Es könnten ja noch ein paar Cent darin liegen. Das Mädchen und ihre Eltern, Robert und Theresa, halten sich mit kleinen Gaunereien und Diebstählen über Wasser. Da sie seit Monaten mit der Miete im Rückstand sind, droht ihnen nun die Kündigung. Zeit, ein etwas größeres Ding zu drehen. 
Als das schrullige Trio bei einer Flugreise (auch diese wird nur aus betrügerischen Gründen unternommen) die aufgekratzte Latina Melanie kennenlernt, verändert sich die Familiendynamik gründlich. Vor allem Old Dolio spürt plötzlich eine große Leere und beginnt sich nach Liebe und einer normalen Familie zu sehnen.

Anfangs ganz schön deprimierend, der toxischen Beziehung zwischen introvertierter Tochter und lieblosen Eltern zuzuschauen. Erst das Auftauchen der exaltierten Melanie injiziert den Figuren und damit dem Film eine gewisse Leichtigkeit.
„Kajillionaire“ nimmt einige überraschende Wendungen, manchmal unerwartet, bisweilen bizarr – Wes Anderson läßt grüßen. Viele Einfälle funktionieren gut, andere erscheinen bemüht oder albern, ein bisschen „hit and miss“.  Evan Rachel Wood und Debra Winger sind in hässlichen Klamotten, ungeschminkt und mit trocken-struppigem Haar kaum wiederzuerkennen. Selten waren Hollywoodstars so erfrischend unvorteilhaft auf der Kinoleinwand zu sehen – das ist entweder komplett uneitel oder eine Bewerbung um den nächsten Oscar.

Originaltitel „Kajillionaire“
USA 2020
106 min
Regie Miranda July
Kinostart 22. Oktober 2020

alle Bilder © Universal Pictures Germany

THE BEACH HOUSE

Wenn sich der Zuschauer weder um die Handlung noch um die Charaktere schert, dann ist das keine glückliche Kombination. „The Beach House“ ist eine Super-Low-Budget-Produktion, die aussieht, als hätten sich ein paar Freunde übers Wochenende in einem Ferienhaus getroffen und spontan beschlossen, einen Horrorfilm zu drehen, ohne zu wissen, wie man so was macht.

Die „Geschichte“: Randall will mit seiner Highschoolfreundin Emily ein paar romantische Tage im Strandhaus seines Vaters verbringen. Dort treffen sie auf die Turners, Freunde von Randalls Vater. Die vier beschließen, einen gemütlichen Abend miteinander zu verbringen. Zum Essen gibts Austern und Haschisch-Schokolade. Später zieht dichter Nebel auf, Schleim tropft aus den Wasserhähnen und alle werden zu Zombies außer Emily, denn die mag keine Meeresfrüchte. Ende.

Die Infizierten können sich vor lauter Kotzattacken kaum von der Stelle bewegen – was ihre Bedrohlichkeit stark minimiert – und nach der endgültigen Zombifizierung werden ihre Augen ganz milchig. Warum außerdem überdimensionale Dumplings am Strand rumliegen und Emily sich einen langen Wurm aus dem Fuß zieht, bleibt ebenso unerklärt wie die Frage, weshalb dieser wirre Cocktail aus „Invasion of the Body Snatchers“, „The Fog“ und „Dawn of the Dead“ produziert wurde. Macht alles keinen Sinn.

Originaltitel „The Beach House“
USA 2019
88 min
Regie Jeffrey A. Brown
Kinostart 22. Oktober 2020

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I AM GRETA

Greta Thunberg Superstar. Ist es nun gutes oder unglückliches Timing, ausgerechnet in Corona-Zeiten eine Doku über die schwedische Umweltaktivistin in die Kinos zu bringen? Der Sieg über den Virus hat auf der Liste der zu lösenden Menschheitsprobleme den Top-Spot übernommen, Umweltschutz ist dabei ein wenig in Vergessenheit geraten. Eine filmische Gedächtnisauffrischung schadet also nicht.

„I am Greta“ erzählt die Geschichte eines Mädchens, das mit 15 Jahren anfängt, freitags einfach nicht mehr in die Schule zu gehen. Was als einsamer Protest vor dem schwedischen Parlament beginnt, weitet sich schon bald zu einer globalen Jugendbewegung aus. Wo immer Greta mittlerweile auftaucht, wird sie wie ein Rockstar gefeiert. Politiker schmücken sich mit ihrer Anwesenheit, sogar der Papst empfängt die junge Schwedin. Aber bringt all die Öffentlichkeit etwas? Hat sich die Menschheit tatsächlich geändert? Greta zweifelt und fragt immer wieder: Funktioniert mein Mikrofon? Hört ihr mich überhaupt?

Greta tapfer auf hoher See, Greta inniglich schmusend mit ihrem Pferd, Greta wütend auf dem UNO-Klimagipfel in New York – „How dare you!“ Die Macher wissen genau, was die Fans sehen und hören wollen. Gerade als man dem Film vorwerfen möchte, zu manipulativ zu sein, zu viel Starkult aufzubauen, kommen die Mit-Verursacher der zerstörten Umwelt zu Wort: Die Sympathieträger Trump und Bolsonaro, zwei mächtige Männer, die sich nicht entblöden, ein sechzehnjähriges Mädchen mit Asperger-Syndrom vor der Weltöffentlichkeit schlecht zu reden. Eine Erinnerung, dass der Kampf noch lange nicht gewonnen ist.

Originaltitel „I am Greta“
Schweden / Deutschland / USA / GB 2020
97 min
Regie Nathan Grossman
Kinostart 16. Oktober 2020

DER GEHEIME GARTEN

Niemand mag arrogante Klugscheißer. Das muss auch die 10-jährige Mary Lennox (Dixie Egerickx) erkennen. Obwohl sie gerade beide Eltern verloren hat, bringt kaum jemand Mitgefühl für die hochnäsige Waise auf. Ihr einziger Verwandter ist der trübsinnige Onkel Archibald (Colin Firth), der als Witwer mit seinem kränklichen Sohn ein düsteres Landgut in Yorkshire, England bewohnt. Um der gestrengen Aufsicht von Haushälterin Mrs. Medlock (Julie Walters) zu entfliehen, erkundet Mary die neblig-graue Moorlandschaft rund um das Anwesen auf eigene Faust. Dabei stößt sie zufällig auf einen verwunschenen „geheimen“ Garten. Gemeinsam mit ihrem Cousin und ihrem neugewonnen Freund Dickon entdeckt sie dort eine magische Welt, die nicht nur ihr eigenes Leben komplett verändert.

Das 1911 erschienene Buch „The Secret Garden“ von Frances Hodgson Burnett wurde schon unzählige Male verfilmt. Diese Version von Marc Munden ist eine interessante Mischung aus Hitchcocks Gothic-Horror-Klassiker „Rebecca“ und kunterbuntem Schlumpfhausen-Film geworden. Eine Mixtur mit ein paar Schwächen: Die zickige Mary nervt zu Beginn sehr und der jauchzende Geigen-Score hätte auch ein paar Gänge zurückschalten können. Aber visuell ist „Der geheime Garten“ ein Rausch, die farbenprächtigen Bilder wirken wie lebendig gewordene Gemälde. Besonders die prachtvoll üppigen Gartenszenen erwecken umgehend den Wunsch nach einer eigenen grünen Parzelle (schöner Traum).

FAZIT

Angenehm ernsthafter Kinderfilm um Verlust, Trauer und Magie. 

Originaltitel „The Secret Garden“
Großbritannien 2019
100 min
Regie Marc Munden
Kinostart 15. Oktober 2020

ES IST ZU DEINEM BESTEN

Alles zu deinem Besten, Liebes! Von Generation zu Generation meinen es die Eltern stets gut mit den Kindern, auch wenn die schon längst erwachsen sind. Die Väter Arthur, Kalle und Yus (gespielt von Heiner Lauterbach, Jürgen Vogel und Hilmi Sözer) bilden da keine Ausnahme. Ihre Töchter sind zwar keine kleinen Mädchen mehr, doch wenn der neue Freund so gar nicht den väterlichen Vorstellungen entspricht, ist Ärger vorprogrammiert. Als Klub der „Super-Schwäger“ planen die drei, die unliebsamen Schwiegersöhne in spe aus dem Weg zu räumen. Keine gute Idee, wie sich bald herausstellt.

Ja, der Film könnte auch „Väter der Klamotte“ heißen.

Ja, Trailer, Plakat und Inhaltsangabe lassen das Schlimmste vermuten.

Ja, der Film ist visuell so aufregend wie ein ZDF-Fernsehfilm.

Aber:

„Es ist zu deinem Besten“ ist tatsächlich lustig.

Und besonders Heiner Lauterbach beweist wieder mal (wie schon in „Enkel für Anfänger“), dass er einen ausgeprägten Sinn für trockenen Witz hat.

Die Vorlage liefert der spanische Erfolgsfilm „Es por tu bien“ – haben die Deutschen also alles wieder nur abgekupfert? Na und (bei Königin)? Warum sollte man Geschichten, die in anderen Ländern schon das Publikum ins Kino gezogen haben, nicht für den hiesigen Markt copy/pasten? Hat schon hervorragend und sehr erfolgreich bei „Das perfekte Geheimnis“ geklappt.

FAZIT

Eine Komödie ohne Aussage und tieferen Sinn, manchmal platt, aber oft sehr lustig.

Deutschland 2019
90 min
Regie Marc Rothemund
Kinostart 08. Oktober 2020