Hellboy – Call of Darkness

In der neuen Verfilmung der Comicbuchreihe „Hellboy“ muss der Halbdämon (David Harbour) gegen die Pest verbreitende Hexe Nimue (Milla Jovovich) und einen Haufen anderer Monster und Mutanten kämpfen.

Menschen werden wie Stoffpuppen zerrissen, Kopfhaut wird abgezogen und Leiber werden mit Pfählen aufgespießt. Blutsburger Puppenkiste auf LSD – das klingt allerdings besser, als es tatsächlich ist. Bei der videospielhaft-künstlichen Umsetzung kommt nicht mal gescheites Splatterfeeling auf – oder sonst irgendein Gefühl. Egal, ob gut oder böse – wen interessiert’s? Alle Protagonisten sind gleichermaßen nervig und unsympathisch. Dazu Dialoge, als hätte sie ein 13-Jähriger verfasst: „Scheiße, Mann. Ich hab’ Migräne – das ist wie n Autounfall im Kopf.“

Genau wie dieser Film.

FAZIT

Viel pubertäres Gefluche, blödsinnige Story.
Schlechter Film.

USA 2019
121 min
Regie Neil Marshall
Kinostart 11. April 2019

Christo – Walking on Water

Es ist nicht leicht, Christo zu sein. Unfähige Mitarbeiter und idiotische Bürokraten, egal wo er hinkommt. Warum machen nicht einfach alle, was er sagt? Und dann diese verdammte Technik, neumodische Computerdinger, alles unnützer Schrott!

Christo ist Künstler. Durch und durch. Walking on Water ist eine Dokumentation über seine Installation „The Floating Piers“, die er im Sommer 2016 auf dem Lago d’Iseo in Italien realisiert. Ein drei Kilometer langer, leuchtend gelb bespannter Steg führt quer über den See und ermöglicht es den 1,2 Millionen Besuchern, auf dem Wasser zu laufen. Das Werk existiert nur 16 Tage lang. Es ist gleichzeitig Christos erstes Projekt nach dem Tod seiner Frau Jeanne-Claude. Die Planung hatten die beiden zwar schon 1970 begonnen, aber wie bei allen Kunstwerken des Paares dauert es Jahrzehnte bis zur Verwirklichung. Genehmigungen, Berge von Papieren, fehlende Finanzierungen und nochmals Genehmigungen. Es ist ein Kampf. Aber ist er gewonnen, beschenkt das Ehepaar die Menschheit wieder und wieder mit atemberaubend schönen, poetischen Kunstinstallationen.

Ganz unerwartet ist Walking on Water ein ziemlich rougher Dokumentarfilm. Auf mit elegischer Musik untermalte, epische Drohnenflugaufnahmen wartet man hier vergebens. Regisseur Andrey Paounov hat ein großes Talent, absurde Situationen einzufangen und sie dann gekonnt zu montieren. Sein Enblick in den Wahnsinn hinter den Kulissen der Kunstwelt könnte zwischendurch, nicht nur wegen Christos Ähnlichkeit mit Larry David, glatt eine Folge von „Curb your Enthusiasm“ sein. Ein Treffen mit lokalen Politikern und Polizeioberen wird bei ihm zu einem amüsanten Lehrstück über einschläfernde Marathonsitzungen, in denen viel geredet und nichts gesagt wird. Und ist Christos Kunstwerk endlich vollendet und die Massen strömen, ist die Arbeit noch lange nicht getan. Dann heißt es, die Hände der Schmeichler zu schütteln und mit aufgebrezelten Damen und Herren peinliche Selfies zu machen. Das lächelnd auszuhalten, ist auch eine Kunst.

FAZIT

„Unsere Werke sind alle komplett nutzlos. Wir schaffen sie nur, weil wir sie gerne anschauen möchten“. Christo

Italien / USA 2019
100 min
Regie Andrey M. Paounov
Kinostart 11. April 2019

Friedhof der Kuscheltiere

Dreißig Jahre nach der ersten Verfilmung kommt jetzt eine ebenfalls misslungene Version der unheimlichsten Stephen King-Geschichte ins Kino.

An den Schauspielern liegt es nicht, denn der Thriller ist mit Jason Clarke, John Lithgow, Amy Seimetz und der Newcomerin Jeté Laurence gut besetzt. Aber das beherrschende Thema des Romans, die Urangst, von toten Familienmitgliedern nachts heimgesucht zu werden – schon 1902 das Thema des Gruselklassikers „Die Affenpfote“ – teilt sich kaum mit.

Die Horror-Geschichte vom Vater, der sein tödlich verunglücktes Kind mittels eines alten Indianer-Hokuspokus-Friedhofs wieder ins Reich der Lebenden zurückholt, schleppt sich in dieser Neuverfilmung ohne große Überraschungen dahin. Jeden Schreckensmoment hat man schon allzu oft gesehen – inklusive der kalten Hand, die nach dem Fuß greift, der knarrenden Kellertür und dem stets flackernden Licht. Wenn dann die Leichen in der unheiligen Stätte hinter dem Tierfriedhof verscharrt werden, sieht das unglücklicherweise auch noch wie in einer 60er-Jahre-Studioproduktion der „Hammer Films“ aus: Der Bodennebel kriecht und am Himmel gewittert es. Gruseleffekte aus der Mottenkiste.

Dem Regieteam Kevin Kölsch und Dennis Widmyer gelingt es nur in wenigen Momenten, die bedrohliche Atmosphäre des Romans auf die Leinwand zu übertragen. Der neue Friedhof der Kuscheltiere  ist zwar schön düster, bleibt aber zu vorhersehbar und damit größtenteils langweilig.

FAZIT

Vielleicht lässt sich das Buch einfach nicht fürs Kino adaptieren.  Eine weitere, der unendlich vielen misslungenen Stephen King-Romanverfilmungen.

USA 2019
100 min
Regie Kevin Kölsch und Dennis Widmyer
Kinostart 04. April 2019

Willkommen in Marwen

Der Spielzeugkonzern Matell bringt nächstes Jahr „Barbie – der Film“ in die Kinos – in der Titelrolle beachtlicherweise Margot Robbie. Plastikpuppen mit Stecknadelbeinen, gespielt von Oscarpreisträgern? Die gibt’s schon jetzt im neuen Steve Carell-Film zu sehen. Willkommen in Marwen ist allerdings keine quietschbunte „Barbie meets Ken“-Lovestory, sondern die wahre Geschichte eines traumatisierten Mannes.
Mark Hogancamp wird von einer Horde Rechtsradikaler fast totgeprügelt. Aus dem Koma erwacht, fehlt ihm jegliche Erinnerung an sein früheres Leben. Zur Therapie erschafft er sich seine eigene Wirklichkeit im Garten: Marwen, ein belgisches Miniaturstädtchen im Maßstab 1:6 zur Zeit des Zweiten Weltkrieges. Dort lebt, neben bösen Nazis und einer Truppe schwer bewaffneter Frauen, auch sein Alter Ego – der coole, amerikanische Captain Hogie. Hogancamp fotografiert die barbiehaften Puppen, die das Aussehen seiner Freunde und Feinde haben, in selbst erdachten Szenen, aus denen er stets als Held hervorgeht.

Robert Zemeckis ist vor allem für den Einsatz bahnbrechender Spezialeffekte berühmt. „Zurück in die Zukunft“, „Der Tod steht ihr gut“, „Contact“ oder „Forrest Gump“ – immer wieder hat der Regisseur mit innovativen Techniken das Filmemachen revolutioniert. Bei Willkommen in Marwen werden nun erstmals computeranimierte Puppen mit den real gedrehten Augen und Mündern der Schauspieler verschmolzen. Ein fast surrealer Effekt, faszinierend, aber auch etwas spooky.

FAZIT

Visuell außergewöhnlich, dramaturgisch eher schwach. Die Charaktere bleiben klischeehaft und sind zu flach gezeichnet. Es gibt nur zwei Kategorien Mensch: entweder gütig oder grundböse. Willkommen in Marwen ist trotz seiner originellen Geschichte ein durchschnittliches Hollywoodmelodram, das hinter den Erwartungen zurückbleibt.

USA, 2019
116 min
Regie Robert Zemeckis
Kinostart 28. März 2019

Wir

1987 – ein Vergnügungspark am Strand von Santa Cruz. Die kleine Adelaide läuft ihren Eltern weg und findet sich ganz alleine in einem Spiegelkabinett wieder. Während sie durch das dunkle Labyrinth irrt, entdeckt sie zu ihrem Entsetzen, dass das, was zunächst ihr Spiegelbild zu sein scheint, in Wahrheit ihre Doppelgängerin ist. 

Dreissig Jahre später: Adelaide macht mit ihrem Mann und den beiden Kindern Strandurlaub am Ort ihres Kindheitstraumas. In der Familie herrscht leicht angespannte Atmosphäre, denn Adelaide beunruhigen eine Anhäufung seltsamer Zufälle. Die Stimmung kippt unvermittelt in blanken Horror, als nachts plötzlich vier unheimliche Gestalten in der Einfahrt des Ferienhauses stehen. Die Fremden dringen nicht nur brutal in die heile Welt der Wilsons ein, sondern sehen ihnen auch noch  verstörend ähnlich. Die doppelten Lottchen sind mit Scheren bewaffnet und ihnen steht der Sinn nach Mord.

Wir – oder „US“, wie er schön doppeldeutig im Original heißt, ist ein Film zum Zeitgeist: eine Abrechnung mit dem aktuellen, nicht nur US-amerikanischen Phänomen der geschürten Angst vor den Anderen. Weitgehend funktioniert der intelligente Horror. Besonders bei den nervenaufreibenden Szenen, die sich im Ferienhaus abspielen, erinnert der Thriller an „Funny Games“. Wie Michael Haneke, versteht es auch Jordan Peele meisterhaft, permanente Todesangst und Humor in Balance zu halten.

Aber der Regisseur meint es zu gut und hat noch mehr mitzuteilen. Wir  verlässt sich nicht auf seinen Horror, sondern belastet mit immer ausufernderen Erklärungen: Woher kommen die Doppelgänger? Was ist ihre Vorgeschichte? Warum tun sie, was sie tun? Doch durch zu viel Information verliert der Schrecken seine Kraft.

FAZIT

„Wir selbst sind unsere schlimmsten Feinde“ – dieser Satz entwickelt hier eine ganz neue Dimension.
Der Nachfolgefilm zu Peeles brillanten „Get Out“ ist ein intelligenter, größtenteils unheimlicher und überraschend vielschichtiger Thriller, der aber vor allem gegen Ende unter akuter Erklärwut leidet.

USA, 2019
117 min
Regie Jordan Peele 
Kinostart 21. März 2019

Iron Sky: The Coming Race

Nazis auf dem Mond! Hitler lebt!
Filmkenner erinnern sich, das gab’s vor Jahren schon einmal im Kino. Versprühte Iron Sky 2012 noch (mit viel gutem Willen betrachtet) den Charme des Absurden, so war es eigentlich kaum mehr als ein mittelmäßiges Trash-Filmchen – bemüht schräg und nur pseudo-provokant.

Eine eherne Filmregel lautet: Sequels müssen noch einen draufsetzen – simple Nazis auf dem Mond reichen also nicht mehr aus. Diese Vorgabe toppt Iron Sky: The Coming Race mühelos. Die Bedrohung kommt diesmal aus dem Erdinneren in Gestalt von Aliens und Dinosauriern. Konsequenter Höhepunkt des Humbugs: Adolf Hitler, der auf einem T-Rex namens Blondie reitet.

Hätte „Holmes & Watson“ nicht schon abgeräumt – Iron Sky: The Coming Race wäre dieses Jahr der Anwärter auf die „Goldene Himbeere“ für den schlechtesten Film gewesen. Nur eine Vermutung, aber genau das gehört wahrscheinlich auch zum „kultigen“ Kalkül der Macher. Gähn.

FAZIT

Eine Fortsetzung, die die Welt nicht braucht, inhaltlich und handwerklich fragwürdig.
Kleines, irritierendes Detail am Rande: die US-Präsidentin im Film ist, wie schon im Original vor sieben Jahren, eine Dame namens Sarah Palin. Das wirkt seltsam anachronistisch und man fragt sich, wie lange der Film wohl im Giftschrank lag, bevor er jetzt in die deutschen Kinos kommt.

Finnland/Deutschland/Belgien, 2019
93 min
Regie Timo Vuorensola 
Kinostart 21. März 2019

Lampenfieber

Da, wo es die unbequemste Bestuhlung Berlins gibt, spielt der neue Dokumentarfilm von Alice Agneskirchner: im Friedrichstadt-Palast. Die Filmemacherin wirft einen Blick hinter die Kulissen der mit 2.854 m² Spielfläche größten Theaterbühne der Welt. (Isch schwöre, stimmt wirklich!)
Die Herausforderungen bei der Produktion der Kinder- und Jugendshow „Spiel mit der Zeit“ werden artig chronologisch abgearbeitet: vom ersten Casting, über die intensive Probenzeit, bis zur bejubelten Premiere. Dazwischen gestreut gibt’s die üblichen Besuche zu Hause und ein paar Interviews.
„Rhythm is it!“ (2004) oder die Langzeitdoku „Adrians großer Traum“ (2010) hatten da deutlich mehr Tiefe und waren mutiger gemacht. Immerhin sind die sechs angehenden Kinderstars, deren persönliche Entwicklung, Frust und Freude der Film zeigt, gut ausgewählt. Von unbedarft über herzerwärmend bis altklug ist alles dabei. Heimlicher Star ist jedoch die Tanzlehrerin Christina Tarelkin – so patent, mit der möchte man abends mal ein Bier trinken gehen.

FAZIT

Interessantes Thema, konventionell gemachter Film.

Deutschland 2019
92 min
Regie Alice Agneskirchner
Kinostart 14. März 2019

Trautmann

Was fällt einem Briten spontan ein, wenn man ihn zu Deutschland befragt?
Fußball und Nazis – allerdings nicht zwingend in dieser Reihenfolge. Zum Glück schreibt das Leben die schönsten Geschichten. Bert Trautmann ist in dieser Hinsicht die perfekte Mischung: ein fußballspielender Ex-Nazi.

Bert Trautmann? Nie gehört? Selbst größte Kickerfans müssen da erst mal nachdenken. Der Deutsche gerät während des Zweiten Weltkriegs in englische Gefangenschaft. Nach Kriegsende bleibt er in England und wird bei Manchester City zum erfolgreichsten Torhüter seiner Zeit. Er verliebt sich in Margaret, die Tochter seines Trainers, die beiden heiraten und werden Eltern dreier Söhne. Als er 1956 im Pokalfinale trotz gebrochenen Halswirbels weiterspielt und so seinem Team den Sieg sichert, wird er zum englischen Nationalhelden.

Ein Film wie ein Überraschungsei: Trautmann ist interessantes Historiendrama, spannende Sportlerbiografie und berührende Liebesgeschichte. Natürlich wurde für den Film das wahre Leben etwas gepimpt und unpassende Details wurden ausgespart. So hatte der echte Bernhard Trautmann schon eine gescheiterte Beziehung hinter sich und war Vater einer Tochter, bevor er Margaret kennenlernte. Und auch diese Ehe hielt nur bis Ende der 1960er Jahre. Aber egal, Film ist Illusion und es ist Regisseur Marcus H. Rosenmüller zu verdanken, dass Trautmann trotz Geschichtsglättung nicht zu einem kitschigen Feelgood-Movie geworden ist. David Kross ist als Titelheld ein Glücksfall, denn er spielt die Rolle des von inneren Dämonen gepeinigten Mannes angenehm zurückhaltend und ist obendrein ein begabter Fußballer.

FAZIT

Ohne Erwartungen gesehen, positiv überrascht. Schöner Film, trotz deutscher Synchronfassung.

Deutschland/GB 2019
120 min
Regie Marcus H. Rosenmüller
Kinostart 14. März 2019

Captain Marvel

Negative Kritik an Captain Marvel  ist Meckern auf hohem Niveau. Wie gewohnt ist das neueste Kapitel im Marvel Cinematic Universe perfekt gemachtes Popkornkino. Allerdings liegt die Latte mittlerweile so hoch, sind die Fans derart verwöhnt, dass es auffällt, wenn Story und Effekte nur guter Durchschnitt sind. Captain Marvel  bietet kaum etwas, was man nicht so oder besser schon in anderen Produktionen gesehen hätte. Nach dem bahnbrechenden „Black Panther“ und witzigen „Ant-Man and the Wasp“ im vergangenen Jahr ist dies eher eine kleine Zwischenmahlzeit bis zum großen Finale in „Avengers: Endgame“.

Captain Marvel  spielt Mitte der 1990er Jahre: Zwei verfeindete Alienvölker verlagern aus irgendeinem nicht näher erläuterten Grund ihre Auseinandersetzung auf unsere Erde. Dabei spielt Carol Danvers aka Captain Marvel eine Schlüsselrolle – sie kann als Einzige den intergalaktischen Krieg beenden.

Im ersten Viertel noch auf gute Art verwirrend, beinahe wie ein Traum inszeniert, wird Captain Marvel  im weiteren Verlauf immer konventioneller. Neu ist, dass diesmal nicht die Bösewichter generisch und damit uninteressant sind, sondern die Heldin selbst. Brie Larson ist zwar eine ausgezeichnete, Oscar-gekrönte Schauspielerin, aber aus der eindimensionalen Figur Captain Marvel kann selbst sie nicht viel heraus holen. Die Titelheldin bleibt einem auch nach zwei Kinostunden seltsam egal. Das könnte daran liegen, dass der Film die klassische Entwicklungsgeschichte der Heldin dramaturgisch umgeht. Statt den gewohnten Weg vom Nobody zum Superhero zu erzählen, verfügt Captain Marvel schon von Anfang an über ihre Superkräfte. Das wird ausführlich in den mittlerweile zum Standard gehörenden „Haut glüht von innen, Energiestrahl aus Auge/Hand/Mund zerbombt alles“-Szenen gezeigt. Wenigstens bringen der digital verjüngte Samuel L. Jackson und eine niedliche Alienkatze ein bisschen Spaß in die Sache.

FAZIT

Beim Rennen um den besten weiblichen Superhelden geht DC als klarer Sieger hervor: „Wonder Woman“ hat mehr Charme, Witz und Herz als der 21. Film aus dem Marvel-Universum.

USA 2019
124 min
Regie Anna Boden & Ryan Fleck
Kinostart 07. März 2019

Kirschblüten & Dämonen

Doris Dörrie hat einen Gespensterfilm gemacht, der so unheimlich wie ein Hui Buh-Hörspiel ist.
Die Fortsetzung ihres Erfolgsfilms „Kirschblüten – Hanami“ aus dem Jahr 2008 erzählt vom einsamen Alkoholiker Karl (Golo Euler), Sohn des verstorbenen Ehepaars Rudi (Elmar Wepper) und Trudi (Hannelore Elsner) aus dem ersten Teil. Eines Tages klopft die Japanerin Yu (Aya Irizuki) an seine Tür und stellt sich mit den Worten „I am Yu“ vor – Achtung: doppeldeutig! Sie überredet ihn, gemeinsam aufs Land in sein leer stehendes Elternhaus zu fahren. Dort begegnet Karl nicht nur seinen entfremdeten Geschwistern, sondern auch den Geistern der Vergangenheit.
Kirschblüten & Dämonen erinnert an das Videoprojekt einer Selbstfindungs-Theatergruppe. Alles sehr gewollt, teils unfreiwillig komisch und plump inszeniert. Da Karl zum Beispiel immer wieder an seiner Männlichkeit zweifelt, friert ihm irgendwann der Schwanz ab. Feinsinn sieht anders aus. 
Richtig gut wird der Film nur in den Szenen mit der großartigen Birgit Minichmayr. Leider hat die aber nur einen fünf Minuten-Auftritt.

FAZIT

Regisseurin Dörrie und ihr Kameramann Hanno Lentz wollten beim Dreh möglichst frei und spontan reagieren. Aber Freiheit und Spontanität haben ihren Preis. Man muss schon Fan von Gopro-Videolook sein – Kirschblüten & Dämonen sieht wie ein sehr low-budgetiertes Kleines Fernsehspiel aus und atmet den Geist eines bemühten Experimentalfilms.

Deutschland 2019
110 min
Regie Doris Dörrie
Kinostart 7. März 2019

Escape Room

Nerdalarm: wer weiß, was sogenannte „Escape Room“-Computerspiele sind? 
Das geht so: Ein Raum, nur eine Tür – und die ist verschlossen. Der Spieler muss durch das Lösen von Rätseln den Schlüssel zur Tür finden, um weiterzukommen und am Ende zu gewinnen. Wem das zu virtuell ist, der kann diesen Nervenkitzel auch real erleben, nur dass man dazu nicht mit Chipstüte und Joggingbuxe vorm PC sitzt. Wie beim Computerspiel werden auch hier mehrere Personen in „Themenräume“ eingesperrt (z.B. Serienkiller oder Russenmafia – oder ist das dasselbe?), aus denen sie dann in vorgegebener Zeit herausfinden müssen. 
Der Film Escape Room geht nun wieder einen Schritt zurück in die Lethargie – zuschauen, statt dabei sein.
Sechs Personen, die scheinbar nichts miteinander verbindet, müssen unterschiedlich knifflige Rätsel lösen, um am Ende 10.000 $ zu kassieren. Da das alleine ein bisschen zu fad wäre, gibt’s anstelle von Punkteabzug Lebensabzug. Wer falsch reagiert, zu langsam oder schlicht zu doof ist, stirbt. Einer nach dem anderen, in guter alter „Zehn kleine Jägermeister“-Tradition. Gestalterisch einigermaßen fantasievoll umgesetzter Thriller, das offene Ende droht mit unnötiger Fortsetzung.

FAZIT

Wen Logik nicht schert, der kann hier seinen Spaß haben. Albern, aber unterhaltsam.

USA 2019
99 min
Regie Adam Robitel
Kinostart 28. Februar 2019 

Wie gut ist deine Beziehung?

Steves bester Freund Bob wurde gerade von seiner Freundin verlassen. Und das wegen eines älteren Zausels, der sich als Tantralehrer verdingt. Bei Steve schrillen die Alarmglocken. Was, wenn auch seine Lebensgefährtin Carola plötzlich Augen für andere Männer hätte und ihm untreu werden würde?
Hätte, würde, könnte: Weil er sonst nichts zu tun hat, konstruiert Steve kurzerhand seine eigenen Beziehungsprobleme. Schlechte Idee, die Erste: Er bittet ausgerechnet den an allem Unglück schuldigen Tantralehrer Harald, Carola seine Telefonnummer zuzustecken, um dann zu testen, ob sie auf den Flirtversuch einsteigt. Die wiederum wurde von ihrer besten Freundin Anette angehalten, Steve eifersüchtig zu machen…usw….usf….hört sich konstruiert an? 

Wie gut ist deine Beziehung? ist einer der Filme, bei denen man als Zuschauer ständig die Augen verdreht, weil sich die Figuren benehmen, wie man das im wahren Leben nie tun würde. Die selbst erfundenen „Probleme“ könnten sich mit einer klaren Antwort im Nu aus der Welt schaffen lassen, aber dann wäre der Film nach einer halben Stunde vorbei. Ja, da ist der Wunsch der Vater des Gedankens.

FAZIT

Laut Werbung „Eine Komödie in bester Screwball-Manier“.
In Wahrheit ist Wie gut ist deine Beziehung? seichte, im Timing oft daneben liegende Standardware. Der eigenwillige Soundtrack, der wie aus einer „Die Sendung mit der Maus“-Episode klingt, macht die Sache auch nicht besser.

Deutschland 2019
111 min
Regie Ralf Westhoff
Kinostart 28. Februar 2019 

Hard Powder

Armer Liam Neeson. So wie der Bäcker, der jeden Tag die gleichen fünf Brote backt, oder die Aldi Kassiererin, die tagaus, tagein im grellen Neonlicht Waren über den Scanner zieht, muss auch der irische Superstar Langeweile verspüren. Seit Jahren spielt er den „Rächer mit dem guten Herzen“ im immer gleichen Film. Es schadet also nichts, wenn nach Taken 1-3, The Commuter, Non-Stop (und wie sie alle heißen) mal Abwechslung ins Spiel kommt.

Hard Powder ist tatsächlich nicht die übliche Fließbandware und um einiges origineller inszeniert, als die Zug/Flugzeug/Autojagden, bei denen Liam sonst seine Feinde platt macht. Ungewöhnlich schon die Locationwahl: ein im Tiefschnee versinkender Skiort in den Rocky Mountains. Hier pfeift von früh bis spät eine steife Brise, das hat beinahe Shining-hafte Atmosphäre. Nels Coxman (Liam Neeson) ist der örtliche Schneepflugfahrer und sorgt verlässlich für freie Straßen. Sein harmonisches Familienleben mit Frau und Kind wird jäh unterbrochen, als Drogengangster seinen Sohn ermorden. Genauso stoisch wie den Schnee beseitigt er daraufhin die bösen Buben und löst nebenbei noch einen blutigen Bandenkrieg aus – Blut auf Schnee macht sich immer gut.

Sein trockener, schwarze Humor hebt Hard Powder wohltuend von der sonstigen 08/15-Konfektionsware ab. Vielleicht liegt es ja tatsächlich, wie Liam Neeson im Interview vermutet, am europäischen Regisseur. Der Norweger Hans Petter Moland beweist mit dem US-Remake seines eigenen Films Einer nach dem Anderen (2014), dass es doch noch kleine Überraschungen im ausgelutschten Rächergenre zu entdecken gibt.

FAZIT

Besser als erwartet. Und macht neugierig aufs Original, das im Norwegischen den hübschen Titel „Kraftidioten“ trägt.

USA, 2018
119 min
Regie Hans Petter Moland
Kinostart 28. Februar 2019

Der goldene Handschuh

Im Hamburg, St. Pauli der 1970er-Jahre treibt ein Frauenmörder sein Unwesen: Fritz Honka, ein erschreckend hässlicher Mann, der über Jahre hinweg ältere Prostituierte und Alkoholiker*innen aus der Kiezkneipe „Zum Goldenen Handschuh“ abschleppt, um sie dann in seiner Wohnung abzumurksen. Die zerstückelten Leichen versteckt er nach getaner Arbeit hinter der Wandverkleidung. Gegen den Verwesungsgeruch wirft er Duftbäumchen auf die Leichenteile. Wahre Geschichte – nicht schön.

Im Gegensatz zum Berlinalegewinner „Gegen die Wand“ (2004) ist Regisseur Fatih Akin mit der Verfilmung des Heinz Strunk Bestsellers kein guter Film geglückt. Die Darsteller überzeugen, doch die Inszenierung wirkt seltsam theaterhaft-künstlich und hat zwischendurch ganz schön Längen. Der goldene Handschuh ist unappetitlich wie ein Splattermovie anzusehen, doch für sein Thema erstaunlich unspannend erzählt.
Dass dem Film Frauenfeindlichkeit vorgeworfen wird, ist albern, denn keinesfalls werden hier die weiblichen Figuren schlechter als die männlichen dargestellt. Das Leben aller Protagonisten ist gleichermaßen freudlos. Genauso freudlos, wie diesen Film anzusehen.

FAZIT

Garstige Menschen machen garstige Dinge in garstiger Umgebung.

Deutschland / Frankreich 2019 
115 min
Regie Fatih Akin
Kinostart 21. Februar 2019

Mein Bester & Ich

Der steinreiche Philip (Bryan Cranston) ist nach einem Paraglidingunfall vom Hals abwärts gelähmt. Von seinen bisherigen Gutmensch-Pflegekräften hat er die Nase gründlich voll, deshalb engagiert er spontan den Ex-Gangster Dell (Kevin Hart) als neue Krankenschwester – obwohl der komplett unqualifiziert ist und eigentlich keine Lust auf den Job hat. Doch die Bezahlung ist sensationell und als Sahnehäubchen gibt es sogar noch ein Zimmer im Luxusappartment obendrauf. Wer kann dazu schon Nein sagen?
Gegensätze ziehen sich an: Nach den üblichen anfänglichen Kabbeleien lernen sich die Männer schnell zu schätzen und werden (ziemlich beste) Freunde.

Die Vorlage liefert einer der erfolgreichsten französischen Filme der letzten Jahre. Das nun in den Kinos startende US-Remake schimmelt schon seit zwei Jahren im Regal, das könnte zu denken geben. Mein Bester & Ich ist trotzdem halbwegs okay, was vor allem an seinem Hauptdarsteller liegt: Bryan Cranston ist einer der Schauspieler, die das viel zitierte Telefonbuch vorlesen könnten. Kevin Hart dagegen neigt zum overacting und hat bei Weitem nicht das Charisma des französischen Originaldarstellers Omar Sy. Und weil sie gerade sonst nichts zu tun hatte, wird Nicole Kidman in einer undankbaren Nebenrolle verheizt.

FAZIT

Zwischen tragikomisch und albern changierend, hauptsächlich wegen Bryan Cranston sehenswert.
Überflüssige Neuverfilmung – Ziemlich beste Freunde von 2011 bleibt der bessere Film.

USA 2017
126 min
Regie Neil Burger
21. Februar 2019 

Top & Flop ● Marighella ● Amazing Grace

Persönliche Gewinner- und Verliererliste: 
TOP 
Di jiu tian chang (So long, my son) ★★★★★
Systemsprenger ★★★★
La paranza dei bambini ★★★★
Grâce à Dieu ★★★★
God Exists, Her Name Is Petrunija ★★★★

FLOP
Ich war zuhause, aber 

Das war’s mit der Berlinale 2019!
Am 20. Februar geht es bei framerate.one mit der Besprechung zu „Mein Bester & Ich“ weiter.

Marighella

Es lebe die Revolution! Das Timing könnte kaum besser sein: Gerade sorgt sich die Welt, was aus Brasilien unter der Führung des ultrarechten Präsidenten Jair Bolsonaro werden soll, da zeigt die Berlinale dieses Biopic über die Gefahren einer Diktatur.
Auf den Putsch 1964 gegen die demokratisch gewählte Regierung folgten in Brasilien 21 Jahre Militärdiktatur. Die Presse wurde zensiert, Oppositionelle verhaftet, gefoltert und getötet. Mitte der 1960er-Jahre gründete Carlos Marighella eine bewaffnete Widerstandsgruppe, die in den kommenden Jahren den Kampf gegen den Staat aufnahm.
Die Rollen sind klar verteilt: hier die intellektuellen, aufrechten Revolutionäre, da die sadistischen, dauerfluchenden Putschisten. Für Zwischentöne interessiert sich Regisseur Wagner Moura weniger. 
Auch wenn’s ein bisschen schwarz-weiß gemalt ist, der Film ist ein sehr eindringliches Porträt, das klar Stellung bezieht. Mit viel Empathie setzt sich das Drama mit den persönlichen Schicksalen der Revolutionäre und der Opfer, die sie im Kampf gegen die Diktatur bringen mussten, auseinander. Der Schriftsteller und überzeugte Marxist Marighella wurde zum Staatsfeind Nr. 1 erklärt. Sein Leben endete 1969 mit der Ermordung durch die brasilianische Militärjunta.

Brasilien 2019 
155 min
Regie Wagner Moura

Amazing Grace

Erfrischend, in Zeiten, in denen jeder Telefonbesitzer perfekt stabilisierte und farbkorrigierte 4K-Filme produzieren kann, eine so roughe, handgemachte Doku auf der großen Leinwand zu sehen. 
Aretha Franklin nahm 1972 gemeinsam mit dem Southern California Community Choir in Los Angeles ihr legendäres Album „Amazing Grace“ auf. Es wurde zum erfolgreichsten Gospelalbum aller Zeiten.
Dass dieser Film fast 50 Jahre nach seiner Entstehung doch noch in die Kinos kommt und jetzt auf der Berlinale seine Premiere feiert, grenzt an ein Wunder. Nach den Dreharbeiten ließen sich die Ton- und Bildaufnahmen nicht synchronisieren. Die technischen Möglichkeiten waren Anfang der 1970er-Jahre begrenzt. Später folgte ein Rechtsstreit mit Aretha Franklin. Die nun vorliegende Version ist genau so, wie sie von Regisseur Sydney Pollack seinerzeit geplant war. Keine nachträglich eingefügten Interviews, kein Making-of, kein Schnickschnack – nur Bilder von einem mitreißenden Konzert.
Für Fans ein Muss.

USA 2019 
87 min
Regie Syney Pollack

Di jiu tian chang ● Photograph ● Lampenfieber

Der Fluss der Zeit ist relativ: Mit Fortschreiten der Berlinale werden die Filme immer länger – so fühlt es sich jedenfalls an. Man schaut auf die Uhr und erschreckt – gerade erst 45 Minuten sind vergangen. Diesbezüglicher Höhepunkt: Celle que vous croyez mit Juliette Binoche. Nach knapp einer Stunde hat die Geschichte ein befriedigendes Ende gefunden, gleich muss der Abspann kommen…doch dann geht’s erst richtig los!
Kinozeit läuft also langsamer.
Einerseits.
Andererseits war der narkoleptische Sekundenschlaf während Öndöng so erfrischend, wie sonst nur ein dreistündiger Mittagsschlaf sein kann.

Di jiu tian chang (So Long, My Son)

Na also! Am vorletzten Tag hat die Berlinale 2019 noch einmal einen richtig guten Film im Programm. Das dreistündige Melodram von Wang Xiaoshuai erzählt mit beeindruckender Beiläufigkeit und großer Ruhe eine Familiengeschichte, die sich über 30 Jahre erstreckt.
Der Weg vom Glück ins bodenlose Unglück dauert oft nur einen Augenblick. Für Yaojun und seine Frau Liyun ist es der Moment, in dem sie ihren Sohn Xingxing verlieren. Der Junge ertrinkt beim Spielen am Ufer eines Stausees. Nach dieser Tragödie zieht das Paar in die südchinesische Provinz und adoptiert dort einen Jungen, sozusagen als Ersatzkind. Doch die unausgesprochenen Schuldgefühle und die betäubende Trauer lassen auch dieses neue Leben beinahe scheitern.
Di jiu tian chang ist ein verschachtelt erzähltes Porträt chinesischer Geschichte, von den 1980er-Jahren bis zum anstrengenden Turbokapitalismus der Gegenwart reichend. Gekonnt wird hier die private Tragödie der Eltern mit der gigantischen gesellschaftlichen Veränderung Chinas verknüpft. Ein kleiner großer Film, der zutiefst berührt.

Volksrepublik China 2019
180 min
Regie Wang Xiaoshuai

Photograph

Der neue Film von Ritesh Batra. Im vergangenen Jahr überzeugte der Regisseur mit der sehr gelungenen Romanverfilmung „A sense of an ending“, seinem zweiten englischsprachigen Film nach „Lunchbox“ (2013). Mit Photograph kehrt er nun zu seinen indischen Wurzeln zurück. Straßenfotograf Rami soll von seiner Großmutter zwangsverheiratet werden. Als er eines Tages zufällig die junge Miloni trifft, fragt er sie, ob sie sich als seine Freundin ausgeben könnte. Das schüchterne Mädchen willigt ein.
Photograph ist eine bittersüße, aber recht harmlose Romanze über zwei Menschen von unterschiedlicher Herkunft. Gewöhnungsbedürftig ist die Besetzung der beiden Hauptdarsteller: „Rafi“ Nawazuddin Siddiqui, sonst in Indien eher als Actionstar bekannt, könnte locker als Vater von Sanya Malhotras „Miloni“ durchgehen.

Indien / Deutschland / USA 2019 
110 min
Regie Ritesh Batra

Lampenfieber

Da, wo man so unbequem wie nirgends sonst bei der Berlinale sitzt, spielt der neue Dokumentarfilm von Alice Agneskirchner: im Berliner Friedrichstadt-Palast. Die Filmemacherin wirft einen Blick hinter die Kulissen der größten Theaterbühne der Welt. (Der Welt! Is so, isch schwöre!)
Lampenfieber ist ein sehr konventionell gemachter Film, der die Herausforderungen bei der Arbeit mit Kindern artig abarbeitet: das erste Casting, die intensive Probenzeit, die bejubelte Premiere der Kinder- und Jugendshow „Spiel mit der Zeit“. Dazwischen gestreut gibt’s die üblichen Besuche zu Hause und ein paar Interviews. „Rhythm is it!“ oder die Langzeitdoku „Adrians großer Traum“ hatten da deutlich mehr Tiefe und waren mutiger gemacht. Immerhin sind die sechs angehenden Kinderstars, deren persönliche Entwicklung, Frust und Freude der Film zeigt, gut ausgewählt. Von unbedarft über herzerwärmend bis altklug ist alles dabei. Heimlicher Star ist jedoch die Tanzlehrerin Christina Tarelkin – so patent, mit der möchte man abends mal ein Bier trinken gehen.

Deutschland 2019 
92 min
Regie Alice Agneskirchner 

Varda par Agnès ● Elisa y Marcela ● Synonymes

Bester Platz im Berlinalekino am Potsdamer Platz: Reihe 17, Mitte rechts, viel Beinfreiheit.
Schlechtester Platz: Friedrichstadtpalast, egal wo. Folter.

Varda par Agnès (Varda by Agnès)

Spielfilmregisseurin, Dokumentarfilmerin, Fotografin, Künstlerin: Agnès Varda ist eine echte Lotte und wird oft als Schlüsselfigur des modernen Kinos bezeichnet. Dieses kurzweilige Portrait erlaubt tiefe Einblicke in ihr Schaffen und illustriert, wie sie zur Institution des französischen Kinos wurde. Von den analogen Zeiten der Nouvelle Vague bis zum digitalen Kino 2018 – die gebürtige Belgierin ist als Regisseurin schon seit 1954 im Geschäft. Varda par Agnès, die bewegenden Lebenserinnerungen einer faszinierenden und neugierig gebliebenen Frau, die sich immer mehr für andere als für sich selbst interessiert hat.

Frankreich 2018
115 min
Regie Agnès Varda 

Elisa y Marcela (Elisa und Marcela)

„Zärtliche Cousinen“ in schwarz-weiß. Die neue Netflix-Produktion Elisa y Marcela erregt gerade die Gemüter, weil der Streaming-Riese es mal wieder (nach „Roma“) gewagt hat, einen Kinofilm zu produzieren, der dann nicht im Kino läuft. Aber eben auf der Berlinale – und dann im Wettbewerb! Skandal!
„Mehrere Kinobetreiber haben den Ausschluss des Films aus dem Wettbewerb der Berlinale gefordert.“
(Tagesspiegel vom 11.02.2019)
Worum geht’s? Lesbische Liebe im erzkatholischen Spanien des angehenden 20. Jahrhunderts. Marcela (Greta Fernández) und Elisa (Natalia de Molina) feierten 1901 die erste gleichgeschlechtliche Heirat in Europa. Natürlich nicht einfach so als Braut und Braut – Marcela nahm die Identität eines Mannes an, um ihre Freundin zu heiraten. Auch dieser Film basiert auf einer wahren Geschichte.
Wenn Roma Kunst ist, dann ist Elisa y Marcela bestenfalls Kunsthandwerk. Die Bildkompositionen erinnern oft an kitschige Kalenderfotos. Und vieles, was ergreifend gemeint ist, wirkt unfreiwillig komisch. Das Pressepublikum kommentierte vor allem die softpornografischen Liebesszenen, bei denen ein toter Oktopus, Algen und natürlich die unvermeidliche, über den Körper rinnende Milch eine Rolle spielen, mit hämischem Gelächter. Bei all der Aufregung um Netflix vs. Kino hat es doch einen großen Vorteil, den Film online schauen zu können: Einfach vorspulen zur gelungeneren zweiten Hälfte von Elisa y Marcela.

Spanien 2018
113 min
Regie Isabel Coixet

Synonymes (Synonyme)

Dies ist die Geschichte eines jungen Israelis in Paris. Yoav will seine Wurzeln abschlagen, nichts soll mehr an seine Vergangenheit erinnern. Er weigert sich, auch nur ein einziges hebräisches Wort zu sprechen. Wie er mit seinem niedlich-debil-geilen Gesichtsausdruck, französische Vokabeln brabbelnd, durch die Straßen von Paris irrt, erinnert er fast ein bisschen an Joey Heindle, der den Weg zum Dschungeltelefon sucht. Synonymes ist einer der Filme, bei denen man sich zwischendurch fragt: Was genau soll das? Es ist mehr eine Aneinanderreihung von Begebenheiten, als ein strukturierter Film. Doch genau das hat einen schrägen Unterhaltungswert.

Frankreich / Israel / Deutschland 2019 
123 min
Regie Nadav Lapid

Ich war zuhause, aber ● La paranza dei bambini ● L’adieu à la nuit ● O Beautiful Night

Jetzt regen sich Journalisten und Zuschauer auf, Fatih Akins‘ neuer Film sei frauenfeindlich.
Meine Güte, es geht um Frauenmorde – frauenfeindlicher geht’s ja schon per Definition nicht!
Dass „Der goldene Handschuh“ kein guter Film ist, ist dann noch mal ein anderes Thema.

Alter Gag: der Protagonist geht über die Straße, man ahnt nichts Böses, und wird RUMMS überfahren. Die Szene kommt gefühlt in jedem zweiten Berlinale-Film vor.

Ich war zuhause, aber

Seit Tagen parkt ein Minibus von ZDFneo am Potsdamer Platz. Ist Jan Böhmermann vor Ort und plant einen Coup? Will er die Berlinaleverantwortlichen bloßstellen und sich über den Kulturbetrieb lustig machen? Wie hat er es nur geschafft, „Ich war zu Hause, aber“ in den Wettbewerb zu schleusen?
Anders ist es nicht zu erklären, dass diese Persiflage (als solche ist sie doch gemeint, oder???) ernsthaft als Beitrag auf der Berlinale läuft. Somnambule Schauspieler tragen mit hohler Stimme Sätze vor wie: „Dann erkannte ich, dass er ein Heizkörper ist. (Pause) Aber Heizkörper sehen anders aus…(Pause) Ich bin froh, dass Sie sein Lehrer sind…“. Nein, das muss man nicht verstehen. Es könnte sich aber auch um ein Lehrvideo für Sprachstudenten handeln. Die überartikulierten Sätze bleiben hallend in der Luft hängen, gerade lange genug, sodass die Schulklasse die entsprechende Übersetzung im Chor aufsagen kann: „I realized, he was a radiator“. Auweia.

Deutschland / Serbien 2019
105 min
Regie Angela Schanelec

La paranza dei bambini (Piranhas)

Der gerade mal 15-jährige Nicola übernimmt mit seiner Jungsgang die Herrschaft im Viertel Sanità in Neapel. Kohle, Designerklamotten und die neuesten Sneaker: das ist es, was zählt. Vom schnellen Reichtum geblendet, verlieren sie bald jegliche Skrupel. Was ist schon ein Menschenleben wert? In ihrer Welt geht es allein um Geld und Macht. La paranza dei bambini zeigt das hoffnungslose Bild einer Jugend mit den falschen Werten. Besonders beeindrucken die Laiendarsteller, die ihre Rollen als Minimafiosi mehr als überzeugend spielen. Der Krieg der Knöpfe ist trotz seines sozialkritischen Themas ausgesprochen unterhaltsames Kino. Guter Film!

Italien 2018
110 min
Regie Claudio Giovannesi

L’adieu à la nuit (Farewell to the Night)

Wie schön kann das Leben sein? Muriel hat eine Reitschule, betreibt eine Kirschbaumplantage und sieht aus wie Catherine Deneuve. Eines Tages kommt ihr Enkel Alex zu Besuch, der sich angeblich auf dem Weg nach Kanada befindet. Schon bald bemerkt Muriel, dass Alex sich verändert hat. Er ist zum Islam konvertiert und verhält sich ihr gegenüber seltsam distanziert. Nach und nach erkennt sie seine wahren Absichten.
Die Geschichte von der Oma, die zu drastischen Mitteln greift, um die IS-Karriere ihres Enkels zu verhindern, ist nicht frei von Klischees: hier die fröhlichen, Rotwein trinkenden Franzosen, da die verbissenen Moslems, immerzu am Predigen. Der Film ist in Kapitel unterteilt: 1. Frühlingstag, 2. Frühlingstag usw., das zieht sich zwischendurch etwas und man fragt sich, wieviele Tage hat so ein Frühling eigentlich? Problematisch ist auch die Figur des Alex. Er bleibt zu unsympathisch, weshalb man der eleganten Catherine nur halbherzig die Daumen für ihre Rettungsmission drückt. Naja.

Frankreich / Deutschland 2019 
104 min
Regie André Téchiné

O Beautiful Night

Wong Kar-Wai meets Himmel über Berlin: Das Spielfilmdebüt des Illustrators Xaver Böhm erzählt die ungewöhnliche Geschichte von Juri, einem jungen Mann, der jederzeit mit dem plötzlichen Herzstillstand rechnet. Ein klassischer Hypochonder.
Eines Nachts, die Brust schmerzt mal wieder, trifft er in einer Flipperkneipe auf einen trinkfesten Russen. Der behauptet, der TOD höchstpersönlich zu sein und stellt Juri vor die Wahl: „Willst Du sofort sterben oder vorher noch ein bisschen Spaß haben?“ Das mit dem Herzinfarkt kann dann doch noch warten und so begeben sich die Beiden auf eine schräge Tour durch das nächtliche Berlin.
Kompliment an Kamerafrau Jieun Yi und die Postproductionfirma LUGUNDTRUG: So schön menschenleer und kunstvoll stilisiert hat man die Stadt selten gesehen.
Ungewöhnlicher, humorvoller, visuell herausragender Film. Sehenswert.

Deutschland 2019  
89 min
Regie Xaver Böhm


Répertoire des villes disparues ● Vice ● Skin ● Gospod postoi, imeto i’e Petrunija

Die Berlinale-Götter ausgetrickst! Kosslick sei Dank, gibt’s ja mehrere Chancen, die Wettbewerbsfilme zu sehen: in der Wiederholung dann doch den gestern versäumten Gospod postoi, imeto i’e Petrunija geschaut!
Dafür heute Kız Kardeşler (A Tale of Three Sisters) verpasst. Dann gewinnt halt der.
Schnee, Frost, Winter – nicht bei der Berlinale, aber immerhin im Kino, zum Beispiel bei:

Répertoire des villes disparues (Ghost Town Anthology)

„Wenn in der Hölle kein Platz mehr ist, werden die Toten auf der Erde wandern.“ So reißerisch wie die Werbung 1978 zu George A. Romeros „Dawn of the Dead“ ist dieser kanadische Low-Budget-Film nicht geworden. Dafür umso ungruseliger. Man kann den Titel „Ghost Town Anthology“ durchaus wörtlich nehmen: Die kleinen Käffer auf dem Land sind so verlassen, dass sie zu Geisterstädten werden. Damit es nicht ganz so leer ist, kommen immerhin die Toten zurück, stehen dann aber nur in der Gegend rum und schauen. Das erinnert sehr an die erste Staffel der französischen Serie „Les Revenants“.  Im Gegensatz zur brillanten Serie wirkt Répertoire des villes disparues mit seinem handgemachten Krissellook sehr unfertig, mehr wie das Layout zu einem Kinofilm. Passenderweise auf 16mm gedreht, da lacht das Cineastenherz.

Kanada 2018
96 min
Regie Denis Côté

Vice  (Vice – Der zweite Mann)

Vice erzählt die Geschichte von Dick Cheney, der vom kleinen Bürokraten zu einem der einflussreichsten Männer der Welt aufstieg. Als erster US-Vizepräsident hatte er fast mehr Macht als der Präsident selbst. Vice ist vor allem ein Christian Bale-Film. In guter alter Method-Tradition hat sich der Schauspieler für die Titelrolle etliche Pfunde angefuttert und sieht dem Original – Dank ausgezeichneter Maske – verblüffend ähnlich. Verdienterweise gab’s dafür schon den Golden Globe als Hauptdarsteller in einer Komödie. Vice ist ein seltsamer Zwitterfilm. Einerseits nicht spannend genug für ein Drama und andererseits in seinem Humor zu unentschlossen, um als bissige Satire durchzugehen. Das käme wohl dabei heraus, würde man Michael Moore ein Big Budget-Movie anvertrauen und ihm dann zu viel rein quatschen.

USA 2019
132 min
Regie Adam McKay

Skin

Tattoos sind Scheiße. Das Stechen tut weh, das Entfernen noch mehr. Diese Wahrheit muss Bryon am eigenen Leib erfahren. Nach seinem Entschluss, sich von seinen rassistischen White-Supremacy-Freunden loszusagen, wartet eine schmerzhafte Enttintungsprozedur auf ihn. Bei seinem Weg ins neue Leben helfen ihm ausgerechnet schwarze Menschenrechtsaktivisten und natürlich die Liebe, denn Freundin Julie hat mit dem Nazipack ebenso abgeschlossen. Die Geschichte vom Monster, das sich befreien will und es kaum schafft, seine Vergangenheit loszuwerden, ist spannend erzählt und geht unter die Haut (haha). Hervorragend besetzt, vor allem Jamie Bell (ja, der aus „Billy Elliot“) überzeugt als bekehrter Rassist. Skin basiert auf der wahren Lebensgeschichte von Bryon Widner.

USA 2019
117 min
Regie Guy Nattiv 

Gospod postoi, imeto i’e Petrunija (God Exists, Her Name Is Petrunya)

Petrunija ist komplett überqualifiziert – aber wer ist das heutzutage nicht? Ein abgeschlossenes Studium der Geschichte interessiert niemand, die Jobsuche bleibt erfolglos. Ihr Leben ändert sich schlagartig, als am Dreikönigstag, wie jedes Jahr, die jungen Männer nach dem heiligen Kreuz tauchen, das der Pfarrer in den eisigen Fluss geworfen hat. Petrunija macht spontan mit, ist schneller als alle anderen und holt sich die Trophäe. Aber sie hat nicht mit dem verletzten Stolz der Verlierer gerechnet. Die Machomeute tobt!
Macht diese Inhaltsangabe Lust den Film zu sehen? Nein? Zu Arthouse?
Überraschung: Tenor Strugar Mievska ist eine teils melancholische, teils wütende Satire über den heutigen Zustand der mazedonischen Gesellschaft gelungen. Und damit ein richtig guter Film – lustig, traurig und nachdenklich machend. Zum Glück doch noch gesehen!

Mazedonien / Belgien / Slowenien / Kroatien / Frankreich 2019
100 min
Regie Teona Strugar Mitevska

The Operative ● Mr. Jones

Schlapp gemacht, den ersten Film des Tages sausenlassen. Natürlich wird genau der den Goldenen Bären gewinnen. Also, hier die Prophezeiung – the winner will be: Gospod postoi, imeto i‘ e Petrunija
Heute wieder Regen, kein Schnee. Nicht mal das kriegt der Senat hin.

The Operative (Die Agentin)

Leipzig, Teheran und Köln sind die exotischen Schauplätze dieses mediokren Spionagethrillers.
Rachel wird im Auftrag des Mossad für eine Undercovermission nach Teheran entsandt. Dort verliebt sie sich in Farhad, den sie eigentlich ausspähen soll. Der Job wird immer gefährlicher, deshalb beschließt sie, auszusteigen. Ihr Kontaktmann Thomas soll sie nun schnellstmöglich finden (und gegebenenfalls kaltstellen), bevor sie den Israelis gefährlich werden kann.
The Operative ist eine einigermaßen spannend erzählte Spionagegeschichte, die fast komplett aus Rückblenden besteht. Umso unbefriedigender das Ende, da sich die zwei Stunden bis dahin wie ein langes Vorspiel anfühlen. Doch dann ist mitten in der Auflösung plötzlich Schluss. Es wird ansonsten viel geredet und die komplizierte Handlung erklärt, aber das schadet nichts, denn Nahost-Spionagefilme versteht man ja sowieso nie so richtig. Diane Kruger überzeugt als undurchschaubare Spionin und Martin Freeman sieht man sowieso immer gerne. Homeland fürs Kino. Allerdings war die Serie um einiges mutiger gemacht (wenigstens in den ersten drei Staffeln).

Deutschland / Israel / Frankreich / USA 2019
120 min
Regie Yuval Adler

Mr. Jones

Der junge Journalist Gareth Jones fährt auf eigene Faust 1933 in die Ukraine. Bei seiner Reise durchs Land erlebt er die Schrecken einer gewaltigen Hungersnot. Diese humanitäre Katastrophe soll nicht an die Öffentlichkeit dringen, denn sie ist Folge von Stalins Zwangskollektivierung der Landwirtschaft. Trotz der Drohung, seine inhaftierten Landsmänner zu ermorden, publiziert Jones nach seiner Rückkehr in den Westen seine erschütternden Entdeckungen und rüttelt damit die Weltöffentlichkeit auf.
Agnieszka Holland erzählt diese wahre Geschichte in drei Kapiteln. Auch wenn’s schön gedreht und inszeniert ist, der Anfang von Mr. Jones ist relativ zäh und langatmig. Doch darauf folgt der Mittelteil und es ist beinahe so, als hätte ein neuer Film begonnen. Die Reise des Walliser Journalisten durch die Ukraine ist eine packende Geschichtslektion:  seine Entdeckungen sind erschütternd, denn die hungernden Menschen waren gezwungen, sogar ihre Toten zu essen. Seinen Kampf, diese Geschichte überhaupt publizieren zu dürfen, zeigt dann der dritte Teil des Films. George Orwell soll durch die Enthüllungen zu seinem Buch „Die Farm der Tiere“ inspiriert worden sein. Wäre es kein Kinofilm, der Stoff hätte locker für eine 10-teilige Netflix-Serie gereicht.

Polen / Großbritannien / Ukraine 2019
141 min
Regie Agnieszka Holland

Der Boden unter den Füßen ● Ut og stjæle hester ● Der goldene Handschuh ● Celle que vous croyez

Zwei Beobachtungen: Frauen werden in Berlinalefilmen mehrfach beim Urinieren auf den Boden gezeigt. Und Männer haben problematische Penisse. Hoffentlich kein Trend.
Immer noch kein Schnee.

Der Boden unter den Füßen 

Lola, Ende 20, hat ihr Leben vermeintlich fest im Griff. Karriere geht ihr über alles, die Arbeit hat höchste Priorität. Mit der gleichen Disziplin wie ihren Job verwaltet sie auch ihr Privatleben. Deshalb soll möglichst keiner von der Existenz ihrer psychisch gestörten Schwester Conny wissen. Als die einen Selbstmordversuch unternimmt, droht auch Lolas Leben aus den Gleisen zu geraten. Denn die Paranoia ihrer Schwester schleicht sich langsam auch in ihr eigenes Leben.
Interessante Geschichte – und erfrischend, dass es in einem österreichischen Film mal nicht um im Keller weggesperrte Kinder geht. Atmosphäre und Spannung sind in diesem Fall wichtiger als eine simple Auflösung. So bleibt das Ende offen und lässt ein wenig ratlos zurück: War das alles nur in ihrem Kopf? 

Österreich 2019
108 min
Regie Marie Kreutzer

Ut og stjæle hester (Out Stealing Horses)

Norwegen, 1999: Witwer Trond hat sich aus der Stadt zurückgezogen und lebt abgeschieden auf dem Land. Eine Begegnung mit einem Nachbarn, in dem er einen alten Kindheitsgefährten wiedererkennt, löst Erinnerungen an seine Jugend aus. 1948 verbrachte er gemeinsam mit seinem Vater einen ganz besonderen Sommer in den Wäldern nahe der schwedischen Grenze. Lange Nachmittage, Holzhacken, Duschen im Sommerregen. Die Lieblichkeit wird jedoch jäh von einem brutalen Unfall zerrissen. Regisseur Hans Petter Moland erzählt ein Drama um Liebe, Verlust und lebenslange Schuldgefühle. In erster Linie bleiben aber die beeindruckenden Naturaufnahmen und vor allem das ausgezeichnete Sounddesign hängen. Es kracht, knirscht, krabbelt und summt, als wäre man selbst Teil des Waldes.
Wald – der Film. So schön die Bilder und der Sound, so zäh die Erzählweise. Nach einer Stunde setzt erste Ermüdung ein. Das Leben ist ein langer, harziger Fluß.

Norwegen / Schweden / Dänemark 2019
122 min
Regie Hans Petter Moland

Der goldene Handschuh 

St. Pauli war mal ein hartes Pflaster, bevor es zur harmlosen Amüsiermeile aufgeräumt wurde. In den 1970er-Jahren trieb dort ein Frauenmörder sein Unwesen: Fritz Honka, ein erschreckend hässlicher Mann, der über Jahre ältere Prostituierte und Alkoholiker*innen aus der Kiezkneipe „Zum Goldenen Handschuh“ abschleppte, um sie dann in seiner Wohnung abzumurksen. Die zerstückelten Leichen versteckte er nach getaner Arbeit hinter der Wandverkleidung. Nicht schön.
Zur letzten Kosslick-Berlinale gibt sich Fatih Akin noch einmal die Ehre. Nur ist dem Regisseur diesmal mit der Verfilmung des Heinz Strunk-Buchs von 2016 kein zweiter Bärenkandidat geglückt. Trotz überzeugender Darsteller wirkt die Inszenierung seltsam theaterhaft und künstlich und hat ganz schön Längen. Der goldene Handschuh ist zwar unappetitlich wie ein Splatterfilm, aber trotzdem erstaunlich unspannend erzählt. So freudlos wie das Leben der Protagonisten, so freudlos ist es auch, den Serienmorden zuzusehen.

Deutschland / Frankreich 2019 
115 min
Regie Fatih Akin

Celle que vous croyez (Who You Think I Am)

Wo ist mein iPhone? Nicht nur Teenager verlieren sich zusehends in der virtuellen Welt der Social Networks, auch reifere Semester sind vor dem Absturz ins digitale Nirwana nicht gefeit. Claire, 50, befreundet sich auf Facebook mit Alex, 29. Im Profil gibt sie sich als 24-Jährige aus, Alex zeigt sich interessiert. Aber nach ein paar Wochen hin- und hergechatte will er seine Traumfrau endlich treffen. Claire versucht, ihn auf Abstand zu halten, verliert sich aber zusehends im Sog der Parallelwelt, bis ein Unglück geschieht.
Die Geschichte (bzw. die Geschichten, denn es werden gleich mehrere Varianten erzählt) schwankt zwischen belanglos, ergreifend, komisch und kitschig. Mit leichter Hand inszeniert, aber nichts Weltbewegendes. Jurypräsidentin Juliette Binoche ist der Hauptgrund, diesen sanften Thriller-Liebesfilm anzuschauen, denn die ist fabuleux! 

Frankreich 2018
101 min
Regie Safy Nebbou

Systemsprenger ● Grâce à Dieu ● Öndög ● ACID

Natürlich stinken nicht alle Festivalbesucher. Aber viele. Anders ist der Geruch nach ungelüfteter Bettwäsche, der sich in den Berlinalekinos ausbreitet, nicht zu erklären. Danke auch an die Frau, die eine sehr reife Banane im Kino verspeisen musste. Da überlagert ein übler Geruch den anderen.
Dieses Jahr kein Schnee zur Berlinale?

Systemsprenger

MAMAAAAA!!! AAAAAHHHHH! Kreisch, Strampel, Tob: der Film zum Prenzlpanther. Benni ist ein „Systemsprenger“. So nennt man Kinder, die durch alle Raster der deutschen Kinder- und Jugendhilfe fallen. Die Neunjährige schreit und prügelt sich schon nach kurzer Zeit aus jeder Pflegeeinrichtung raus. Und genau das will sie auch, denn sie möchte viel lieber bei ihrer Mutter leben.
Nora Fingscheidt ist ein extrem intensiver Film mit einer herausragenden Hauptdarstellerin gelungen. Als Zuschauer schwankt man zwischen Mitleid, Genervtheit und Hass. Das Dauer-Geschrei, aber auch die Ungerechtigkeit der Welt, geht an die Grenzen des Ertragbaren. Guter Film, großartige Schauspieler, vor allem die junge Hauptdarstellerin Helena Zengel ist jetzt schon eine würdige Bärenkandidatin.

Deutschland 2019
118 min
Regie Nora Fingscheidt

Grâce à Dieu – Gelobt sei Gott

Und noch mal leidende Kinder: François Ozons neuer Film erzählt von den Opfern des Paters Bernard Preynat, der 2016 wegen sexueller Übergriffe auf rund 70 Jungen angeklagt wurde. Die meisten der Fälle sind mittlerweile verjährt. Stellvertretend erzählt Grâce à Dieu vom Schicksal dreier erwachsener Männer, die es erst nach vielen Jahren schaffen, sich ihrem Dämon zu stellen. Sie leiden bis heute unter den Verletzungen, die ihnen der Pater ungehindert zufügen konnte. Und das trotz zahlreicher Hinweise und Beschwerden von Eltern. Der Film prangert nicht nur den Priester, sondern vor allem das Schweigen der Kirche insgesamt an. Souverän inszenierter, unaufgeregter  – dadurch umso eindringlicher – erzählter Film zu einem lange verschwiegenen Thema. 

Frankreich 2019
137 min
Regie François Ozon

Öndög

Der erste „klassische“ Berlinalefilm in diesem Jahr. So was gibt es außerhalb des Festivals höchstens im Spätprogramm bei 3sat zu sehen. Entschleunigung pur, fast zwei Stunden passiert so gut wie nichts. In eine Einstellung von Öndög hätten andere Filmemacher dreißig Schnitte gesetzt.
Das Programmheft schreibt: „Im Zentrum des Films steht eine starrsinnige Frau in menschenleerer Weite. Ihren fürsorglichen Nachbarn duldet die ansonsten autark lebende Hirtin, die von allen „Dinosaurier“ genannt wird, nur, wenn es Probleme mit ihrer Herde gibt. Für sich und ihre Zukunft hat sie einen ganz eigenen Plan, der mit der einsamen Landschaft und deren Mythen in Beziehung steht.“
Wer dafür die nötige Geduld aufbringt, wird mit lakonischem Humor und ungewöhnlichen Einblicken in eine fremde Kultur belohnt.

Mongolei  2019
100 min
Regie Wang Quan’an

ACID (KISLOTA)

„Wenn Du springen willst, spring!“
Keine gute Idee, das zu einem splitternackten Freund zu sagen, der gerade über das Balkongeländer im fünften Stock geklettert ist. Aber Pete sagt es und Vanya springt in den Tod. Auf seine Beerdigung folgt eine wilde Clubnacht und die Begegnung mit dem Künstler Vasilik. Der taucht nicht nur die Skulpturen seines Vaters in Acid/Säure, sondern hat auch Interesse, den frisch beschnittenen Penis von Petes Freund Sasha zu fotografieren. Das kann natürlich nur unter Drogeneinfluss geschehen, und weil die Flasche mit der Säure gerade so verführerisch rumsteht, trinkt Pete auch noch einen kräftigen Schluck daraus. Selbst zugefügte Schmerzen helfen gegen die Watte im Kopf.
Die unglücklichen jungen Männer, die im Mittelpunkt des Regiedebüts von Alexander Gorchilin stehen, haben die gleichen Probleme wie andere Jugendliche irgendwo sonst auf der Welt auch. Verloren und auf der ewigen Suche nach Perspektive und Orientierung im Leben.
ACID – ein streckenweise anstrengendes, aber nicht uninteressantes Porträt einer (weiteren) „lost generation“, diesmal aus Russland.

Russland 2018 
98 min
Regie Alexander Gorchilin

The Kindness of Strangers ● Gully Boy ● Heimat ist ein Raum aus Zeit

Wenn im Kino gehustet wird, als hätten die Berliner Symphoniker eine Pause zwischen zwei Sätzen gemacht, Eulen ihre Thermoskannen auspacken und geräuschvoll Stullen verspeisen, dann ist es wieder soweit: Die Berlinale hat begonnen!

The Kindness of Strangers

Mitten in der Nacht packt Clara ihre beiden Söhne ins Auto und flieht vor ihrem gewalttätigen Mann nach New York. Dort angekommen, wird sie direkt beklaut. Willkommen in der Großstadt!
The Kindness of Strangers ist genau das, was der Titel verspricht: ein Film über grundgütige Mitmenschen, wie es sie im wahren Leben selten bis nie gibt. Bei ihrer Odyssee begegnet die mittellose Clara der Krankenschwester Alice, die ihr selbstlos zwei Betten in ihrem Büro überlässt. Und als Clara wenig später für sich und ihre hungrigen Kinder im russischen Restaurant Winter Palace ein paar Häppchen klaut, lernt sie den Ex-Häftling Marc kennen, der dort als Restaurantleiter arbeitet. Auch er nimmt sich selbstlos der Kleinfamilie an und verliebt sich natürlich nebenbei in Clara.
Ein bisschen erinnert das Ganze an eine New York-Version von Love Actually. Nur dass hier statt reichem Mittelstand Obdachlose und gescheiterte Existenzen die Szenerie bevölkern. Auch Hugh Grant spielt nicht mit, dafür wenigstens Bill Nighy in einer Nebenrolle.
Mittelmaß. Passt in die Reihe der missglückten Berlinale-Eröffnungsfilme.

Dänemark / Kanada / Schweden / Deutschland / Frankreich 2019
112 min
Regie Lone Scherfig

Gully Boy

Hier spricht die pure Ignoranz: In Indien gibt es eine blühende Rap-Szene! Wer hätte das gedacht?
Das Klischee vom milden, immer lächelnden Inder wird hier (wenigstens teilweise) auf den Kopf gestellt. Harte Jungs (und Mädchen), die Kapuze tief ins Gesicht gezogenen, brüllen zornige Battle-Raps ins Mic. Nicht auf Englisch, sondern Hindi.
Hauptfigur ist Murad, 22. Der versucht sich seinem komplizierten Familienleben mittels Cannabis und Musik zu entziehen. Als er einem berühmten Rapper begegnet, ermuntert der ihn, sein Hobby zu professionalisieren. Murad beginnt eigene Songs zu produzieren. Das verändert sein ganzes Leben.

Ist das nun einfach modern inszeniert oder extrem den westlichen Sehgewohnheiten angepasst? 
Zwischendurch hat man das Gefühl, den neusten Matthias Schweighöfer-Film zu sehen. So werblich glitzert da die Sonne in die Optik, während sich junge Menschen auf alten Sofas auf dem pittoresken Hausdach lümmeln. Dazu klimpert ein seichter, aber eingängiger Gitarren-Piano Score.
Egal, Gully Boy ist ziemlich unterhaltsam und für seine Lauflänge von über zwei Stunden erstaunlich kurzweilig.

Indien 2018
148 min
Regie Zoya Akhtar

Heimat ist ein Raum aus Zeit 

Ist es etwa das, was Harald Martenstein vom Tagesspiegel als „Kunstscheiße“ bezeichnet hat? Vielleicht. Auf jeden Fall ist es kein „Film“ im herkömmlichen Sinne. Eher so etwas wie eine Kunstinstallation. Besser, man könnte die teilweise minutenlangen Einstellungen in einem Museum anschauen, dazu einen Kopfhörer auf- und gegebenenfalls wieder absetzen und so den Erzählungen des Dok-Filmers Thomas Heise lauschen. Der liest mit getragener Stimme Briefe und Tagebuchaufzeichnungen vor und erzählt so die Geschichte Deutschlands anhand seiner eigenen Familiengeschichte. Als Langfilm im Kino (und hier liegt die Betonung auf LANG, denn es sind 218 Minuten) funktioniert das nur sehr bedingt. Die in Scharen fliehenden Zuschauer sind bestimmt kein Qualitätsindiz, aber auch mit gutem Willen: Kapitulation nach 90 Minuten. Vielleicht wurde es in der dritten Stunde noch aufregender…

Das Presseheft der Berlinale sagt: „Ein großer Film, der bleibt.“

Deutschland / Österreich 2019 
218 min
Regie Thomas Heise