Die dänische Gastronomin Victoria Elíasdóttir lädt am Ende der Berlinale zu gemeinsamen Abendessen in ihrem Pop-up-Restaurant. Diesmal kreiert sie ihr Dinner zum Thema Omega-3-Fettsäuren und Depressionen.
„At kindergarten we were (force)fed a tablespoon of liquid fish oil every morning. In a study they found that people who consumed more fish were less likely to experience the symptoms of depression.“
Eine hilfreiche Erkenntnis: Nach dem düsteren Deprifilm „Exil“ möchte man gleich beherzt in ein großes Fischbrötchen beißen.
EFFACER L’HISTORIQUE
(Wettbewerb)
Endlich gib’s mal was zu Lachen auf der Berlinale. Der französisch-belgische Wettbewerbsbeitrag „Effacer l’historique“ – was übersetzt „Lösche den Verlauf“ bedeutet – ist eine sehr komische Liebeserklärung an die analoge Welt. Passenderweise auf körnigem 16mm Film gedreht, macht sich die intelligente Komödie über die überbordende Digitalisierung unseres Alltags lustig. Dabei schrecken die Regisseure (zum Glück) auch nicht vor Albernheiten zurück. Drei fabelhafte Hauptdarsteller*innen (Blanche Gardin, Denis Podalydès und Corinne Masiero) spielen in den fein beobachteten, episodenhaften Szenen erwachsene Menschen, die mit den Tücken der Social-Media-Welt konfrontiert werden. „Effacer l’historique“ wirkt auf den ersten Blick wie die sehr gelungene Folge einer Sketch Show und ist in Summe daher vielleicht kein „richtiger Spielfilm“, macht aber dafür einen Heidenspaß.
Englischer Titel „Delete History“
Frankreich / Belgien 2019
110 min
Regie Benoît Delépine + Gustave Kervern
SCHWESTERLEIN
(Wettbewerb)
Was soll da noch kommen? Nina Hoss wird den silbernen Bären für die beste weibliche Hauptrolle gewinnen. Als Schwester(lein) des krebskranken Theaterschauspielers Sven entfaltet sie eine große Kraft, der ganze Film kreist um sie. Ihre Figur, die Autorin Lisa, muss sich gegen eine schier unendliche Flut an Dramen und Problemen stemmen: Ihre Mutter ist eine gefühlskalte Egoistin, ihr Ehemann will lieber Karriere in der Schweiz machen und der Regisseur ihres Bruders zweifelt an dessen Genesung und plant schon mal die nächste Spielzeit ohne ihn. Ein Stich ins Herz jedes Künstlers.
Nach „Undine“ noch ein Märchen: „Hänsel und Gretel“ zieht sich als roter Faden durch den Film. Lisa schreibt ihrem Bruder eine Neuinterpretation der Grimm’schen Geschichte auf den Leib, gleichzeitig sind die verlorenen Kinder in der Gewalt der Hexe ein allzu offensichtliches Symbol für den Kampf der Geschwister gegen den Krebs.
„Schwesterlein“ changiert zwischen Illusion und überhöhtem Realismus. Thomas Ostermeier spielt – was sonst ? – den Regisseur, Lars Eidinger eine sterbenskranke Version des Schauspielers Lars Eidinger. Über so viel Nabelschau muss man erst mal hinwegsehen. Die Station des Sterbens werden fast artig abgehakt: der letzte besoffene Technotanz, der vermeintlich freiheitsbringende Paragliding-Flug, die hässlichen Krankenhausszenen mit viel Blut und piepsenden Maschinen. Das sind bekannte Bilder, da bewegt sich das Drama auf ausgetretenen Pfaden.
„Schwesterlein“ ist harte Kost. Als Film eher Mittelmaß, als Demonstration schauspielerischen Könnens eine Wucht.
Englischer Titel „My Little Sister“
Schweiz 2020
99 min
Regie Stéphanie Chuat + Véronique Reymond
SIBERIA
(Wettbewerb)
Eine dicke nackte Frau tanzt in einer Höhle im Kreis und ruft dabei „I need a Doctor!“
Und noch ein Schauspielerfilm. Diesmal kann man Willem Dafoe als gebrochenen Mann bei seiner Reise ins Ich zuschauen. Muss man aber nicht. „Siberia“ ist ein anstrengender Wettbewerbsbeitrag, der besser im Forum aufgehoben wäre. Einziger Lichtblick: Landschaften mit jeder Menge Schnee. So was gab’s in Berlin gefühlt das letzte Mal vor 10 Jahren zu sehen.
Italien / Deutschland / Mexiko 2020
92 min
Regie Abel Ferrara
EXIL
(Panorama)
Deutschland im Sommer. Die Kamera klebt am verschwitzten Hemdkragen von Xhafer. Der Kosovo-Albaner lebt mit Frau und Töchtern in einem Reihenhaus, arbeitet als Pharmaingenieur. Könnte alles so bieder-schön integriert sein, würde sich Xhafer nicht gemobbt fühlen. Mails werden „versehentlich“ nicht weitergeleitet, die oft angemahnten Testergebnisse bleiben aus, es wird getuschelt, eines Tages hängt eine Ratte an seinem Gartentor. Sein diffuses Misstrauen gegen Kollegen, seine Frau und gegen sich selbst wächst, er steigert sich immer mehr in seinen Verfolgungswahn. Doch bald stellt sich die Frage: Ist Xhafer der Verfolgte oder ist er selbst die Bedrohung?
Hauptdarsteller Mišel Matičević gelingt es, den Charakter dieses zutiefst verunsicherten Mannes glaubhaft herauszuschälen. Sandra Hüller spielt ebenso überzeugend seine gepeinigte Ehefrau. Nach „Toni Erdmann“ würde man der hochkarätigen Schauspielerin gerne mal wieder eine etwas leichtere Rolle wünschen, denn komödiantisches Talent besitzt sie zweifellos.
„Exil“ tut weh. Giftige Ockertöne und Düsternis erzeugen eine stete Beklemmung. Das Sezieren der Psyche des Protagonisten muss man aushalten können. Verlorene Heimat, ausgeschlossen sein, Integration – „Exil“ berührt viele Themen und hängt noch lange nach. Eine düsterer Alptraum, Paranoia als Film.
Englischer Titel „Exile“
Deutschland / Belgien / Kosovo 2020
121 min
Regie Visar Morina
PALAZZO DI GIUSTIZIA
(Generation 14plus)
Chiara Bellos kommt eigentlich aus der Dok-Filmszene, das merkt man ihrem Spielfilmdebut deutlich an. Die Regisseurin ist weniger an einer stringenten Geschichte, als vielmehr an Beobachtungen ihrer Figuren interessiert. Dieser fast dokumentarische Ansatz schafft Intimität und macht den Reiz von „Palazzo di Giustizia“ aus.
Im Flur vor einem Gerichtssaals sitzen sich zwei Mädchen gegenüber. Der Vater der kleinen Luce ist ein Räuber, der Vater der älteren Domenica hat den Kumpel des Räubers auf der Flucht erschossen. Während drinnen der Prozess läuft, langweilen sich die Mädchen zusehends. Luce beginnt ihre Umgebung zu erforschen.
Der Generation 14plus-Beitrag ist eine langsam erzählte, fast sachliche Mischung aus Charakterstudie, Gerichts- und Jugendfilm.
Englischer Titel „Ordinary Justice“
Italien / Schweiz 2020
84 min
Regie Chiara Bellos