LIEBER THOMAS

LIEBER THOMAS

Die Komödien „Sonnenallee“ und „Good Bye, Lenin“ erwecken den Eindruck, das Leben jenseits des antifaschistischen Schutzwalls sei bunt und fröhlich gewesen. Gut 30 Jahre nach Mauerfall zeichnen Filme wie „Gundermann“ oder der im August gestartete „Nahschuss“ ein realistischeres Bild der Bürgerinnen und Bürger der Deutschen Demokratischen Republik. Schluss mit lustig.

Zwei, die von Anfang an nicht zueinander passen: Die DDR und Thomas Brasch. Mit seinem Vater Horst, SED-Parteifunktionär und stellvertretender Minister für Kultur, ist er in Hassliebe verbunden. Aus Thomas soll ein braver Staatsbürger werden, doch schon früh fühlt er sich zum Schriftsteller berufen. Als 1968 sowjetische Panzer den Prager Frühling niederwalzen, protestieren Thomas und seine Freunde mit einer Flugblattaktion in Berlin. Der junge Autor wird von seinem Vater verraten, kommt ins Gefängnis. Auf Bewährung entlassen, arbeitet Brasch zunächst als Fräser in einer Transformatorenfabrik. 1978 darf er mit seiner Frau in den Westen ausreisen. Dort dreht er mehrere Kinofilme, wird sogar nach Cannes eingeladen.

War „Das Leben der Anderen“ noch eine hollywoodgerechte Aufarbeitung des Stasi-Staates, so wählt Andreas Kleinert für „Lieber Thomas“ eine poetischere, künstlerisch freiere Herangehensweise. Das in strengem Schwarzweiß gedrehte Drama legt sich nicht auf Wahrheit oder Fiktion fest, wechselt fließend zwischen Traum und Wirklichkeit. Fast könnte man meinen, der Film sei zu DDR-Zeiten gedreht worden, so stimmig wirkt die Atmosphäre.

Intensivtäter Albrecht Schuch (wer sonst?) verkörpert die deutsch-deutsche Zerrissenheit des 2001 verstorbenen Autors und Regisseurs kongenial. Neben der großartigen Besetzung (Jella Haase, Jörg Schüttauf, Anja Schneider) sind vor allem die Szenen mit Brasch als Malocher in der Fabrik am stärksten. Die Bilder von Kameramann Johann Feindt erinnern hier an die gerade wiederentdeckten Aufnahmen des Fotografen Günter Krawutschke, der die Gesichter des Arbeiter- und Bauernstaats in seinen einzigartigen Bildern verewigte.

„Lieber Thomas“ ist nach „Familie Brasch“ bereits der zweite Film, der sich mit dem Leben der schillernden Persönlichkeit Braschs auseinandersetzt. Ein Mann mit vielen Facetten: Jude, Dichter, Sozialist, Frauenheld, Träumer, eine unangepasste Künstlerseele.

FAZIT

Sehr sehenswert.

INFOS ZUM FILM

Deutschland 2021
150 min
Regie Andreas Kleinert
Kinostart 11. November 2021

alle Bilder © Wild Bunch Germany

SCHACHNOVELLE

SCHACHNOVELLE

Die gymnasiale Oberstufe kann sich freuen: Wenn in Zukunft Stefan Zweigs Weltbestseller „Schachnovelle“ durchgenommen wird und der Lehrer den 4:3 Röhrenfernseher auf dem quietschenden Rollwagen ins Klassenzimmer fährt, dann wird (hoffentlich) nicht mehr die zähe 1960er-Verfilmung mit Curd Jürgens und Mario Adorf gezeigt, sondern diese fabelhafte Neuverfilmung von Philipp Stölzl.

Die Macher haben sich entschieden, aus der 1942 von Zweig im Exil geschriebenen Geschichte lieber ein Stück pralles Kino als langweiliges Arthouse zu machen. Die Bilder von Kameramann Thomas W. Kiennast sind groß und cineastisch, der Schnitt von Sven Budelmann virtuos und Ingo Ludwig Frenzels Soundtrack kann locker mit jeder Hollywoodproduktion mithalten. Und erst die Schauspieler: Oliver Masucci trägt den Film, spielt die vielschichtige Figur des Dr. Bartok präzise, wechselt mühelos zwischen ironisch-süffisantem Wiener Schmäh und bis zum Irrsinn gequältem Opfer. Sein Kontrahent Albrecht Schuch zeigt in einer Doppelrolle erneut, dass er zu den besten Schauspielern der jüngeren Generation gehört.

Stölzl und Drehbuchautor Eldar Grigorian interessieren sich nicht für eine artige Buchverfilmung, sie vermischen und ordnen die Geschichte neu. Das monatelange Verhör Bartoks im Hotel Metropol durch den Gestapo-Leiter Böhm, in dem der Anwalt geheime Nummernkonten preisgeben soll, ist labyrinthisch mit der Schiffsreise Bartoks von Europa nach New York verwoben. Als Zuschauer kann man bald nicht mehr zwischen Realität, Einbildung, Wahrheit und Wahnsinn unterscheiden. Ein surrealer Psychothriller, ein großer Wurf.

INFOS ZUM FILM

Deutschland 2020
111 min
Regie Philipp Stölzl
Kinostart 23. September 2021

alle Bilder © STUDIOCANAL

FABIAN ODER DER GANG VOR DIE HUNDE

FABIAN ODER DER GANG VOR DIE HUNDE

Die Kamera gleitet durch den U-Bahnhof Heidelberger Platz im heutigen Berlin. An den wartenden Fahrgästen vorbei, die Treppe hinauf, und plötzlich befinden wir uns im Berlin der 1930er-Jahre. Nüchtern, meist distanziert führt uns Jakob Fabian durch die brodelnde Großstadt. Tagsüber unterforderter Werbetexter, zieht der angehende Schriftsteller nachts mit seinem besten Freund Labude durch die Bordelle und Kneipen Berlins. Ein unsteter Geist, immer auf der Suche. Veränderung liegt in der Luft, die Weimarer Republik geht zu Ende, die Nazis sind auf dem Vormarsch. Erst die Liebe zu Cornelia Battenberg wird ein Lichtblick in Fabians Leben, stellt seine ironische Weltanschauung infrage.

Dominik Graf wählt für die Neuverfilmung von Erich Kästners gleichnamigem Roman die Stilmittel einer Independent-Produktion. Originalschauplätze in Görlitz und Bautzen stehen für das historische Berlin und Dresden, körniges Super-8-Material wechselt munter mit alten Archivaufnahmen und aufwendig eingerichteten Szenen in Altbaufluchten. Graf erzählt seine Vision vom Tanz auf dem Vulkan ohne Klischees, frei von Kitsch und verzichtet auf computergenerierten Hollywoodglanz. Das ist weit weg von „Babylon Berlin“. 

Kameramann Hanno Lentz verwendet ein fast quadratisches Bildverhältnis, das gängige Kinoformat der Zeit, in der die Geschichte spielt. Eines der kleinen, unauffälligen Details, die den Film so stimmig machen.
Tom Schilling, unser Mann für intellektuelle Slacker, ist die Idealbesetzung für den verlorenen Fabian. An seiner Seite glänzen Saskia Rosendahl, Albrecht Schuch und Meret Becker.

„Fabian oder der Gang vor die Hunde“ ist ein im besten Sinne altmodischer und zugleich sehr moderner Film. Die drei Stunden Laufzeit hätten hier und da ein paar Kürzungen vertragen, doch laut Regisseur gibt es einen Grund für die Länge: Er wollte, dass sein Film in etwa so lange dauert wie die Lektüre des Buchs.

INFOS ZUM FILM

Deutschland 2021
178 min
Regie Dominik Graf
Kinostart 05. August 2021

alle Bilder © DCM Pictures

BERLIN ALEXANDERPLATZ

Wäre Rainer Werner Fassbinder noch am Leben und würde Alfred Döblins Roman zum zweiten Mal verfilmen – vielleicht käme etwas ähnlich Aufregendes dabei heraus.

In fünf Kapiteln (plus Epilog) erzählt das Drama die düstere Geschichte vom Flüchtling Francis aus Westafrika. Im heutigen Berlin trifft er auf den durchgeknallten Drogendealer Reinhold und die Leben der beiden Männer verbinden sich zu einer verhängnisvollen Schicksalsgemeinschaft. Immer wieder versucht Reinhold, Francis für seine Zwecke einzuspannen, immer wieder widersteht der. Als sich Franz (so hat ihn Reinhold inzwischen zwecks „Germanisierung“ getauft) in das Escort-Girl Mieze verliebt, verspürt er seit Langem so etwas wie Glück.

„Berlin Alexanderplatz“ wird spalten. Regisseur Qurbani wendet sich mit seiner Verfilmung nicht an die breite Masse. So wie es Menschen gibt, die Freude an einer 3-stündigen Volksbühnen-Inszenierung haben, so wird es (hoffentlich) auch Zuschauer geben, die diesen Film lieben. Andere, die nach 20 Minuten entnervt aus dem Kino fliehen, verpassen einen der interessantesten deutschen Filme der letzten Zeit.

Welket Bungué, Jella Haase, Joachim Król – durchweg großartige Schauspieler. Aber vor allem Albrecht Schuch als Reinhold stiehlt mit seiner Präsenz jede Szene. Der Film glänzt: Kamera, Schnitt, Musik, Ausstattung – das ist alles gekonnt, von höchster Qualität und packend inszeniert. Selbst an die in der Jetztzeit befremdlich wirkenden Dialoge – Qurbani lässt seine Figuren immer wieder Originalsätze aus dem Roman sprechen – hat man sich rasch gewöhnt. 

FAZIT

Kraftstrotzendes Kino.

Deutschland / Niederlande 2020
183 min
Regie Burhan Qurbani
Kinostart 16. Juli 2020