BALLADE VON DER WEISSEN KUH

BALLADE VON DER WEISSEN KUH

Kinostart 03. Februar 2022

Der Makler macht der jungen Mutter wenig Hoffnung: Witwen, Hundebesitzer oder Junkies haben in Teheran keine Chance auf eine Wohnung. Für ihre Notlage kann die alleinerziehende Mina nichts, denn ihr Ehemann Babak wurde zu Unrecht verurteilt und hingerichtet. Wie ein guter Geist taucht da plötzlich Reza auf, der behauptet, Schulden bei Babak gehabt zu haben, die er jetzt begleichen möchte. Mina ahnt nicht, dass Reza ein Geheimnis vor ihr verbirgt.

Arthousekino aus dem Iran? Keine Angst, „Ballade von der weißen Kuh“ ist viel unterhaltsamer, als es der Inhalt vermuten lässt. Das hervorragend gespielte und ausgezeichnet inszenierte Drama behandelt ein Thema, so alt wie die Menschheit: Schuld und Sühne. Im Iran führte „Ghasideyeh gave sefid“ zu Kontroversen, denn er klagt nicht nur das dortige Justizsystem an, sondern thematisiert noch ein paar weitere Tabus wie Frauenfeindlichkeit und staatliche Unterdrückung. Hauptdarstellerin Maryam Moghaddam führte gemeinsam mit Behtash Sanaeeha die Regie bei diesem stillen und doch wuchtigen Film.

„Ballade von der weißen Kuh“ feierte letztes Jahr seine Weltpremiere bei der Berlinale.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Ghasideyeh gave sefid“
Iran / Frankreich 2020
105 min
Regie Maryam Moghaddam und Behtash Sanaeeha

alle Bilder © Weltkino Filmverleih GmbH

JE SUIS KARL

JE SUIS KARL

Genau so könnte es in nicht allzu ferner Zukunft kommen: Die junge Generation hat es gründlich satt und tut sich zusammen, um ein “neues Europa” zu gründen. Dass das scheinbar nur mit rechtspopulistischen Parolen geht, ist die Kehrseite der Medaille.

Maxi ist nach einem Terroranschlag, bei dem ihre Mutter und ihre beiden Brüder ums Leben kommen, traumatisiert. Als sie auf den gutaussehenden Karl trifft, ahnt sie noch nicht, mit wem sie sich da einlässt. Karl hat große Pläne, will ganz Europa verändern. “Was wäre für dich das Schlimmste?”, fragt sie ihn. “Sinnlos zu sterben”, antwortet er. “Und das Beste?” “Sinnvoll”. Maxi verliebt sich Hals über Kopf in den charismatischen Neonazi und folgt ihm blind auf seiner Tour durch Europa.

Das neue Unheil verbirgt sich hinter hübschen Gesichtern und ist im Social Network präsent.
Christian Schochow zeigt, wie die next generation der rechten Szene ihre Follower verführt: Konzerte, Influencer-Liveberichte, aufwiegelnde Reden und ein paar free T-Shirts unters Volk geschmissen. Baby-Hitler ist ein Rockstar.
“Je Suis Karl” erzählt eine interessante, doch ein bisschen zu gehetzt abgespulte Geschichte. Vor allem Maxis Radikalisierung findet im Zeitraffertempo statt. Der Stoff hätte locker für eine Miniserie gereicht. Gegen Ende sind Drehbuchautor Thomas Wendrich dann die Pferde durchgegangen – die Zufälle häufen sich, die Handlung wirkt zusehends konstruierter. Wirklich toll sind die Schauspieler: Jannis Niewöhner kauft man das manipulative Neonazi-Arschloch voll und ganz ab. Die Schweizerin Luna Wedler hat mit ihren 21 Jahren schon mehrfach mittelmäßige Filme aufgewertet. Und es ist schön, den unterschätzten Milan Peschel endlich mal nicht in einer Klamotte zu sehen.

INFOS ZUM FILM

Deutschland / Tschechische Republik 2021
126 min
Regie Christian Schwochow
Kinostart 16. September 2021

alle Bilder © Pandora Film

FABIAN ODER DER GANG VOR DIE HUNDE

FABIAN ODER DER GANG VOR DIE HUNDE

Die Kamera gleitet durch den U-Bahnhof Heidelberger Platz im heutigen Berlin. An den wartenden Fahrgästen vorbei, die Treppe hinauf, und plötzlich befinden wir uns im Berlin der 1930er-Jahre. Nüchtern, meist distanziert führt uns Jakob Fabian durch die brodelnde Großstadt. Tagsüber unterforderter Werbetexter, zieht der angehende Schriftsteller nachts mit seinem besten Freund Labude durch die Bordelle und Kneipen Berlins. Ein unsteter Geist, immer auf der Suche. Veränderung liegt in der Luft, die Weimarer Republik geht zu Ende, die Nazis sind auf dem Vormarsch. Erst die Liebe zu Cornelia Battenberg wird ein Lichtblick in Fabians Leben, stellt seine ironische Weltanschauung infrage.

Dominik Graf wählt für die Neuverfilmung von Erich Kästners gleichnamigem Roman die Stilmittel einer Independent-Produktion. Originalschauplätze in Görlitz und Bautzen stehen für das historische Berlin und Dresden, körniges Super-8-Material wechselt munter mit alten Archivaufnahmen und aufwendig eingerichteten Szenen in Altbaufluchten. Graf erzählt seine Vision vom Tanz auf dem Vulkan ohne Klischees, frei von Kitsch und verzichtet auf computergenerierten Hollywoodglanz. Das ist weit weg von „Babylon Berlin“. 

Kameramann Hanno Lentz verwendet ein fast quadratisches Bildverhältnis, das gängige Kinoformat der Zeit, in der die Geschichte spielt. Eines der kleinen, unauffälligen Details, die den Film so stimmig machen.
Tom Schilling, unser Mann für intellektuelle Slacker, ist die Idealbesetzung für den verlorenen Fabian. An seiner Seite glänzen Saskia Rosendahl, Albrecht Schuch und Meret Becker.

„Fabian oder der Gang vor die Hunde“ ist ein im besten Sinne altmodischer und zugleich sehr moderner Film. Die drei Stunden Laufzeit hätten hier und da ein paar Kürzungen vertragen, doch laut Regisseur gibt es einen Grund für die Länge: Er wollte, dass sein Film in etwa so lange dauert wie die Lektüre des Buchs.

INFOS ZUM FILM

Deutschland 2021
178 min
Regie Dominik Graf
Kinostart 05. August 2021

alle Bilder © DCM Pictures

BERLINALE SUMMER SPECIAL – TEIL 2

BERLINALE SUMMER SPECIAL – TEIL 2

Heute geht’s in Teil 2 weiter mit dem Programm vom 13. bis 20. Juni

ENCOUNTERS

NOUS

Das Leben ist eine lange, ruhige Bahnfahrt. „RER B“ heißt ein Nahverkehrszug, der Paris und sein Umland von Norden nach Süden verbindet. Regisseurin Alice Diop hat sich vom gewöhnlichen Leben entlang dieser Bahnlinie inspirieren lassen. Ihr Film beschreibt eine zerrissene Gesellschaft in einer Art Patchwork-Porträt. „Nous“ konserviert das alltägliche Leben in französischen Vorstädten. Die Existenz all der Migranten, Außenseiter und Alten wäre ohne dieses filmische Denkmal früher oder später vergessen gewesen. Gewinner der Encounters-Reihe.

Frankreich 2021
115 min
Regie Alice Diop 
Sommer-Berlinale ab 13. Juni

PANORAMA

CENSOR

England, 1980er-Jahre: Enid nimmt ihren Job als Filmzensorin ausgesprochen ernst. Schließlich müssen die unschuldigen Zuschauer vor brutalen Splatterszenen bewahrt werden. Blutige Enthauptungen und Vergewaltigungen fallen ihrer gestrengen Schere zum Opfer. Als Enid einen besonders verstörenden Film sichtet, ruft das Erinnerungen an ihre seit Jahren verschollene Schwester hervor.

Prano Bailey-Bond liefert mit „Censor“ eine liebevolle Hommage an die Ära der unterm Videotheken-Ladentisch gehandelten VHS-Horrorfilme der 80er-Jahre. Eine echte Entdeckung ist die Hauptdarstellerin: Niamh Algars spielt Enids zunehmend verstörte Wahrnehmung perfekt, während sich die Grenzen zwischen Realität und Einbildung langsam aufheben. Leider verliert der Film in der zweiten Hälfte an Spannung. Regisseur Bailey-Bond ist zu sehr in seine David Cronenberg-Zitatensammlung verliebt, die Geschichte wird immer wirrer.

GB 2021
84 min
Regie Prano Bailey-Bond
Sommer-Berlinale ab 14. Juni

PERSPEKTIVE DEUTSCHES KINO

WOOD AND WATER

Die frisch gebackene Rentnerin Anke freut sich auf einen gemeinsamen Familienurlaub mit den Kindern, doch Sohn Max sagt in letzter Minute ab. Er sitzt in Hongkong fest, die Flughäfen sind wegen der Protestbewegung geschlossen. Seine Mutter beschließt kurzerhand, um die halbe Welt zu fliegen und ihren Sohn zu besuchen.

Wenn Mutti eine Reise tut. Jonas Bak begleitet in seinem Spielfilmdebüt die eigene Mutter vom beschaulichen Schwarzwald in die chinesische Mega-Metropole. „Wood and Water“ bleibt dabei dicht an seiner Hauptfigur. Auf ihren Erkundungen in der Fremde begegnet sie verschiedenen Menschen, versucht zarte Freundschaften zu knüpfen. So entsteht ein stilles Porträt über das Älterwerden und die damit verbundene Einsamkeit in einer chaotischen Welt.

Die etwas laienhaft vorgetragenen Dialoge erinnern an die Regiearbeiten von Klaus Lemke. Und obwohl die Inszenierung teils unbeholfen wirkt – „Wood and Water“ ist ein Zwitter aus Spiel- und Dokumentarfilm – fühlt man sich Mutter Anke bald sehr nah und schaut ihr gerne dabei zu, wie sie sich in Hongkong einlebt und dabei einiges über sich selbst herausfindet.

Deutschland / Frankreich / Hongkong 2021
79 min
Regie Jonas Bak
Sommer-Berlinale ab 16. Juni

ENCOUNTERS

BLUTSAUGER

Mariette Rissenbeek und Carlo Chatrian verfolgen konsequent ihre Vision, aus der Berlinale ein verkopftes Undergroundfilmfestival zu machen. Viel schwer verdauliche Kost, die höchste intellektuelle Ansprüche erfüllt, plumpe Unterhaltung hat da nichts verloren.

Der deutsche Encountersbeitrag „Blutsauger“ passt ganz hervorragend ins neue Muster. Ein russischer Schauspieler wartet auf seine Überseefahrt nach Amerika. Beim Strandspaziergang lernt er eine mondäne Fabrikantin kennen, die sich als Vampir entpuppt. Es wird viel über Marx und Lenin diskutiert, und obwohl die Geschichte Ende der 1920er-Jahre spielt, tauchen immer wieder Coca-Cola-Dosen oder andere moderne Elemente im Bild auf. Klingt interessanter, als es ist. Julian Radlmaiers „Blutsauger“ hat den bemühten Charme einer Filmhochschul-Abschlussarbeit, besetzt mit Laiendarstellern. Dass Corinna Harfouch in einer kleinen Nebenrolle auftaucht, lässt sich nur als Freundschaftsdienst erklären.

Deutschland 2021
128 min
Regie Julian Radlmaier
Sommer-Berlinale ab 18. Juni

PANORAMA DOKU

THE LAST FOREST

Davi Kopenawa ist Schamane und Ältester der Yanomami, einer indigenen Gemeinschaft von Ur-Einwohnern an der brasilianisch-venezolanischen Grenze. Sein Volk ist in Gefahr, denn Brasilien wird seit 2019 von einem Verbrecher regiert. Jair Bolsonaro hat (neben vielen anderen Untaten) auch dafür gesorgt, dass tausende von Goldsuchern in den bislang geschützten Lebensraum der Yanomami eindringen dürfen. Die Fremden bringen Gift, Krankheit und Tod in den Regenwald.

Luiz Bolognesis erhellender Dokumentarfilm „The Last Forest“ gibt einen Einblick in die über tausendjährige Geschichte des Naturvolks. Er lässt dabei die Betroffenen selbst zu Wort kommen und verzichtet auf belehrende Offtexte. In einigen Szenen spielen die Yanomami mythologische Erzählungen ihres Volks nach – das ist zwar ein wenig schülertheaterhaft, hat aber auch einen gewissen Charme.

Originaltitel „A Última Floresta“
Brasilien 2021
74 min
Regie Luiz Bolognesi
Sommer-Berlinale ab 19. Juni

DAS LÄUFT SONST NOCH VOM 13. BIS 20. JUNI

BAD LUCK BANGING OR LOONY PORN

Wettbewerb - Goldener Bär Bester Film

NATURAL LIGHT

Wettbewerb - Silberner Bär Beste Regie

WHEEL OF FORTUNE AND FANTASY

Wettbewerb - Silberner Bär Großer Preis der Jury

HERR BACHMANN UND SEINE KLASSE

Wettbewerb - Silberner Bär Preis der Jury

JE SUIS KARL

Berlinale Special Gala

INDUSTRY EVENT ZUM NACHLESEN

BERLINALE SUMMER SPECIAL – TEIL 1

BERLINALE SUMMER SPECIAL – TEIL 1

Die Berlinale in zwei Stufen:
Nach dem Industry Event im März geht es jetzt mit viel Sonne und niedrigen Inzidenzwerten in die zweite Runde:
Das Summer Special für das öffentliche Publikum findet vom 9. bis zum 20. Juni als Open Air-Veranstaltung in Berlin statt.

Heute Teil 1 mit dem Programm vom 09. bis 12. Juni

FORUM

ANMAßUNG

Eine echte ANMAßUNG: Großbuchstaben mit einem ß gemischt!

Stefan S., ein zurückhaltender, höflicher Mann, verziert in seiner Freizeit gerne Grußkarten mit zarter Fadenstickerei. Stefan S. ist außerdem ein brutaler Frauenmörder. Vier Jahre vor seiner Haftentlassung starten die beiden Filmemacher Wright und Kolbe eine Dokumentation über den Sexualstraftäter. Der lässt sich nur widerwillig auf den Film ein. Er möchte nicht erkannt werden. Also greifen Wright und Kolbe zu einem ungewöhnlichen Kunstgriff: Stefan S. wird von einer Kinderpuppe gespielt. Die creepy Puppenszenen sind nur ein Teil des Projekts, „Anmaßung“ rekonstruiert den Weg vom unscheinbaren Bürger zum Gewaltverbrecher.

Ein weiteres Feel-Bad-Movie auf der Berlinale. Obwohl das Thema hochgradig deprimierend ist: Man kann sich der unheimlichen Sogkraft der Geschichte nicht entziehen.

Deutschland 2021
111 min
Regie Chris Wright und Stefan Kolbe
Sommer-Berlinale ab 09. Juni

PANORAMA

GLÜCK

Alltag in einem Berliner Bordell. Im Stundenrhythmus müssen die Frauen mit Männern schlafen, zu zweit, zu dritt, ganz wie es der Kunde wünscht. Sascha arbeitet hier schon seit Jahren als Prostituierte. Der Umgang mit den Kolleginnen und der Chefin ist liebevoll entspannt. Als eine Neue anfängt, fühlt sich Sascha sofort von ihr angezogen. Maria ist Italienerin, tätowiert und unangepasst. Die beiden ungleichen Frauen verlieben sich ineinander.

Regisseurin Henrika Kull hat jahrelang in Bordellen recherchiert, das merkt man ihrem zarten Liebesfilm an. Ohne zu moralisieren, schafft „Glück“ eine Begegnung auf Augenhöhe mit den Sexarbeiterinnen. Prostitution wird als Job dargestellt, als Service, als eine Möglichkeit, Geld zu verdienen. Die „Arbeitsszenen“ wirken deshalb so glaubhaft und authentisch, weil sie bei laufendem Betrieb in einem echten Bordell gedreht wurden.

Englischer Titel “Bliss“
Deutschland 2021
90 min
Regie Henrika Kull
Sommer-Berlinale ab 09. Juni

PANORAMA

GENDERATION

Sind Sie ein Mann oder eine Frau? Ja.

Transsexualität verwirrt immer noch viele Menschen, Diskriminierung und Anfeindung sind die Folgen. 23 Jahre nach „Gendernauts“ besucht Monika Treut erneut die Protagonisten ihres vielfach preisgekrönten Dokumentarfilms. Der Zusammenhalt in der Trans-Gemeinde in San Francisco erodiert, white money hat die Stadt fest im Griff. Wohnraum ist kaum noch bezahlbar, wer nicht vorgesorgt hat, kann sich das Leben in der Bayarea nicht mehr leisten. Vier schlimme Jahre Trump-Regierung haben mehr Schaden verursacht als so manches Erdbeben. Gelder wurden gekürzt oder gestrichen, die Kulturszene kämpft ums Überleben.

Die 90er-Jahre sind noch gar nicht so lange her, und trotzdem hat sich die Welt seitdem von links auf rechts gedreht. Vieles ist glatter, professioneller, gleichzeitig unsolidarischer und kälter geworden. Monika Treut verklärt nicht, wird nicht unnötig nostalgisch. „Genderation“ ist ein freundschaftlicher Besuch im Leben der Frauen, die zu Männern wurden und der Männer, die zu Frauen wurden.

Deutschland 2021
88 min
Regie Monika Treut
Sommer-Berlinale ab 10. Juni

Toupierte Kurzhaarperücke, Ausnahmestimme und ein Tanzstil, den sich Mick Jagger bei ihr abgeschaut hat: Tina Turner – der Überstar der 1980er und 90er-Jahre. 

Klassisch, vielleicht etwas zu brav strukturiert, erzählt „Tina“ anhand von Archivaufnahmen und Interviews die außergewöhnliche Story vom Aufstieg Anna Mae Bullocks zum Weltstar mit bis heute über 180 Millionen verkauften Platten.

In der öffentlichen Wahrnehmung wird sie lange auf ihre Zeit mit Ike Turner reduziert. Kein Talkshow-Auftritt, bei dem sie nicht früher oder später nach ihrem gewalttätigen Ex-Mann befragt wird. 

Beste Entscheidung ihrer Karriere: Nach der Scheidung besteht sie darauf, den Künstlernamen „Tina Turner“ weiter führen zu dürfen. Mit bemerkenswerter Ehrlichkeit versucht sie zunächst in einem Interview mit dem People Magazine, später in einer Autobiografie (ein Bestseller) ihre Version der Geschichte darzulegen. Erst mit dem Einsetzen ihres großen Erfolgs als Solokünstlerin kann sie sich befreien. Sehenswerter Film über eine Frau, von der man schon alles zu wissen glaubte.

USA 2020
118 min
Regie Daniel Lindsay und T.J. Martin
Sommer-Berlinale ab 10. Juni

BERLINALE SPECIAL

COURAGE

„Courage“ erzählt vom Sommer 2020 während der Präsidentschaftswahlen in Weißrussland. Regisseur Aliaksei Paluyan begleitet die drei Schauspieler:innen Maryna, Pavel und Denis mit der Kamera. Familienmanagement, gemeinsame Theaterproben und der andauernde Kampf um das Recht auf Meinungsfreiheit und Demokratie bestimmen ihren Alltag. Belarus steht am Rande eines Bürgerkriegs. Immer wieder werden die friedlichen Massenproteste vom Sicherheitsapparat des Regimes brutal niedergeschlagen. Deprimierend, denn das Land ist kein weit entfernter Schurkenstaat, sondern Teil Europas. Erst vor Kurzem hat der belarussische Präsident Alexander Lukaschenko mit der erzwungenen Landung eines Flugzeugs der Welt gezeigt, was er von Demokratie hält – wenig bis gar nichts. 

Deutschland 2021
90 min
Regie Aliaksei Paluyan
Sommer-Berlinale ab 11. Juni

PERSPEKTIVE DEUTSCHES KINO

IN BEWEGUNG BLEIBEN

DDR, Januar 1988: Das Tanzstück „Keith“ von Birgit Scherzer (mit der Musik vom berühmten Köln Concert) wird an der Komischen Oper in Berlin uraufgeführt. Knapp ein Jahr später haben vier der sieben Tänzer mit der Choreografin die DDR verlassen.

Regisseur Salar Ghazi besucht für seinen Dokumentarfilm „In Bewegung bleiben“ die „Republikflüchtlinge“ 30 Jahre später. Die Erinnerungen an ihre Ausbildung, unterschnitten mit privaten VHS-Aufnahmen, geben einen interessanten und teils sentimentalen Einblick in das Lebensgefühl in Ostdeutschland vor der Wende.

Deutschland 2021
140 min
Regie Salar Ghazi
Sommer-Berlinale ab 12. Juni

DAS LÄUFT SONST NOCH VOM 09. BIS 12. JUNI

THE MAURITANIAN

Berlinale Special Gala

ALBATROS

Wettbewerb

INTRODUCTION

Wettbewerb - Silberner Bär: Bestes Drehbuch

DIE SAAT

Perspektive Deutsches Kino

MEMORY BOX

Wettbewerb

ICH BIN DEIN MENSCH

Wettbewerb - Silberner Bär Beste Hauptrolle Maren Eggert

UNA PELICULA DE POLICIAS

Wettbewerb - Silberner Bär Herausragende künstlerische Leistung

RENGETEG – MINDENHOL LÁTLAK

Wettbewerb - Silberner Bär Beste Nebenrolle Lilla Kizlinger

Vị

Encounters

INDUSTRY EVENT ZUM NACHLESEN

DER MENSCHLICHE FAKTOR

Fünf bis sechs Filme am Tag sind eben doch zu viel. Deshalb hier ein kleiner Berlinale-Nachklapp: der sehenswerte PANORAMA-Beitrag „Der menschliche Faktor“ von Ronny Trocker.
Jan und Nina leiten eine Werbeagentur in Hamburg. Die Geschäfte könnten besser laufen, deshalb nimmt Jan, ohne es mit seiner Frau abzusprechen, einen Neukunden an. Doppelt schlimm: Er missachtet nicht nur die „no politics“-Regel der Agentur, es handelt sich auch noch um eine populistische Partei – die AfD lässt grüßen. Nina ist sauer. Um die Wogen zu glätten, fahren die beiden mit ihren Kindern übers Wochenende in ihr Ferienhaus an der belgischen Küste. Doch mit der Erholung ist es schnell vorbei, als ein mysteriöser Einbruch das Familiengefüge empfindlich stört. Keiner kann eine genaue Täterbeschreibung geben – die Kinder haben nichts gesehen, Jan war einkaufen und Nina hat nur Schritte gehört.

„Der menschliche Faktor“ ist ein subtiler Psychothriller, der seine Figuren langsam in ein feines Netz aus Manipulation, wachsendem Misstrauen und subjektiver Wahrnehmung spinnt. Klingt verkopft, ist aber spannend. Der Einbruch wird aus verschiedenen ineinanderfließenden Perspektiven gezeigt. Was gerade noch klar schien, ist durch die Sicht eines anderen Familienmitglieds plötzlich wieder infrage gestellt. So behauptet der achtjährige Sohn Max, der Vater habe sich während des Vorfalls versteckt. Und die vagen Aussagen von Nina lassen bei der Polizei Zweifel aufkommen, ob es den Einbruch überhaupt gegeben hat.

Ronny Trocker ist ein fesselndes Familiendrama mit hervorragender Besetzung gelungen: Mark Waschke (immer gut) überzeugt als verunsichertes Alphatier Jan und die wunderbare Schweizerin Sabine Timoteo als Nina möchte man sowieso gerne öfters sehen. Falls sich auch irgendwer fragt: Woher kenne ich Sabine Timoteo noch mal? Die hat in der Andreas Steinhöfel-Romanverfilmung „Die Mitte der Welt“ die Mutter gespielt.

FAZIT

„Der menschliche Faktor“ feierte im Sommer 2020 seine Premiere beim Sundance Film Festival. Da es sich um eine Koproduktion des „Kleines Fernsehspiel“ handelt, stehen die Chancen gut, dass er demnächst im ZDF zu sehen sein wird. Wahrscheinlich um 23.30 Uhr – für einen 20.15 Uhr-Sendeplatz ist er einfach zu gut.

INFOS ZUM FILM

Deutschland / Italien / Dänemark 2021
102 min
Regie Ronny Trocker
Demnächst im Kino oder Fernsehen

alle Bilder © Klemens Hufnagl / zischlermann filmproduktion

BERLINALE 2021 – TAG 5

Geschafft! Die Streaminale hatte große Vorteile: kein Verschlafen, keine verpasste U-Bahn, keine Ausreden. Zum ersten Mal wurden ganz bestimmt ALLE Wettbewerbsbeiträge gesichtet. Obwohl – stimmt gar nicht: „Fabian oder Der Gang vor die Hunde“ mit Tom Schilling und „Nebenan“, das Regiedebüt von Daniel Brühl, standen im Stream nicht zur Verfügung. Die Trauer hält sich in Grenzen.

Fazit: sehr verkopft, viel Oberstufen-Video-AG. Die Sehnsucht nach großem Kino konnte die Berlinale dieses Jahr nicht erfüllen. Film darf neben Hirn und manchmal Herz auch gerne Auge und Bauch berühren. Nächstes Mal bitte mehr Mut zur gesunden Mischung.

Herzlichen Glückwunsch an die Gewinner:

Goldener Bär: „Babardeală cu bucluc sau porno balamuc“ von Radu Jude
Silberner Bär – Großer Preis: „Guzen to sozo“ von Ryusuke Hamaguchi
Silberner Bär: „Herr Bachmann und seine Klasse“ von Maria Speth
Beste Regie: Dénes Nagy für „Természetes fény“
Beste Schauspielerische Leistung Hauptrolle: Maren Eggert in „Ich bin dein Mensch“
Beste Schauspielerische Leistung Nebenrolle: Lilla Kizlinger in „Rengeteg – mindenhol látlak“
Bestes Drehbuch: Hong Sangsoo für „Inteurodeoksyeon“
Herausragende Künstlerische Leistung: Yibrán Asuad für die Montage von
„Una película de policías“

WETTBEWERB

UNA PELÍCULA DE POLICÍAS

Die Vorspannmusik ist eine hübsche Hommage an die 1970er-Jahre US-Polizeifilme. Danach bleibt lange unklar, ob man hier gerade echten oder gespielten Polizisten bei der Arbeit zuschaut. Nach gut der Hälfte die Auflösung: Zwei Schauspieler*innen wollen herausfinden, was es braucht, ein Cop in Mexiko-City zu sein. Die beiden tauchen so tief in ihre Rollen, dass sich die Grenzen zwischen Realität und Fiktion auflösen. Film im Film, der immer wieder die Erzählperspektive wechselt. Alonso Ruizpalacios schafft mit seinem Verwirrspiel einen interessanten Einblick in die korrupte und gefährliche Welt der mexikanischen Polizei.

Englischer Titel „A Cop Movie“
Mexiko 2021
107 min
Regie Alonso Ruizpalacios

WETTBEWERB

HERR BACHMANN UND SEINE KLASSE

Da wird Flecki Fleckenstein ganz neidisch: Dieter Bachmann ist ein Lehrer, wie man ihn sich wünscht. Empathisch und engagiert gibt er seinen Schüler:innen, die aus verschiedenen Ländern stammen und teilweise kaum Deutsch sprechen, das Gefühl, an seiner Schule ein neues Zuhause gefunden zu haben. Er tut das, was ein guter Lehrer tun sollte: die Jugendlichen sanft auf ihren Weg ins Erwachsenenleben leiten, ihnen Möglichkeiten aufzeigen und Freiheiten lassen.

Mit 3,5 Stunden Laufzeit (🙄) vielleicht ein klitzekleines bisschen zu lang geraten, aber dafür wachsen einem Herr Bachmann und seine Schüler so sehr ans Herz, dass man am Ende des Schuljahres mit ihnen gemeinsam ein Tränchen verdrückt. Maria Speths einfühlsamer Dokumentarfilm hat den Silbernen Bären gewonnen.

Englischer Titel „Mr Bachmann and His Class“
Deutschland 2021
217 min
Regie Maria Speth

BERLINALE SPEZIAL

THE MAURITANIAN

Ist er schuldig oder unschuldig? Mohamedou Ould Slahi sitzt im Gefangenenlager Guantánamo Bay ein, er wird verdächtigt, an den Terroranschlägen von 9/11 beteiligt gewesen zu sein. Jahrelang wartet er auf einen Prozess, bis sich die Anwältin Nancy Hollander seines Falls annimmt und damit einen Kampf gegen das System beginnt. 
Am stärksten ist „The Mauritanian“ in den Rückblenden, die die Vorgeschichte Slahis erzählen. Die Recherche und der Weg zum Prozess – das ist solide inszeniertes Mainstreamkino, das gab es so ähnlich schon tausendmal in anderen Gerichtsfilmen zu sehen. Jodie Foster, Benedict Cumberbatch und der herausragende Tahar Rahim als ambivalenter Terrorverdächtiger machen „The Mauritanian“ zu keinem bahnbrechenden, aber trotzdem sehenswerten Politthriller. Die wahre, schreiend ungerechte Geschichte basiert auf dem 2015 erschienenen Buch „Guantánamo-Tagebuch“, das Slahi in Gefangenschaft schrieb und das zum Bestseller wurde. 

England 2021
130 min
Regie Kevin Macdonald

BERLINALE 2021 – TAG 4

Ein Wort zum Plakat- und Logodesign: Bravo Kinder! Hier hatte eindeutig die LOBI-AG ihre Tatzen im Spiel. Hübsch und handgemacht, um Klassen besser, als das bemüht künstlerische Grafikfiasko vom letzten Jahr.

WETTBEWERB

GUZEN TO SOZO

Zwischenbilanz: In allen – ALLEN – Wettbewerbsfilmen wird geraucht. Manchmal mehr (Inteurodeoksyeon), manchmal weniger (Petite Maman). Geraucht und geredet, möchte man sagen. Denn Geschwätzigkeit ist das andere Laster in diesem Berlinalejahr. Vielleicht eine neue Form der sozialen Interaktion: Statt sich in Kneipen zu treffen und zu reden, schaut man Filme an, in denen die Schauspieler reden. Und reden. Und reden.
In drei verschiedenen, nicht miteinander verknüpften Episoden erzählt „Guzen To Sozo“ von Frauen und Männer, die über ihre Beziehungen sprechen. Regisseur Ryusuke Hamaguchi scheint ein großer Bewunderer von Woody Allen zu sein. Wie sein unerreichtes Vorbild lässt auch er seine Figuren in teils skurrile Situationen stolpern. Nur mit dem Unterschied, dass „Guzen To Sozo“ visuell sehr tranig daherkommt.

Englischer Titel „Wheel of Fortune and Fantasy“
Japan 2021
121 min
Regie Ryusuke Hamaguchi

WETTBEWERB

GHASIDEYEH GAVE SEFID

Der Makler macht der jungen Mutter wenig Hoffnung: Witwen, Hunde- oder Katzenbesitzer und Junkies haben in Teheran keine Chance. Für ihre Notlage kann Mina nichts, denn ihr Ehemann Babak wurde zu Unrecht für ein Verbrechen hingerichtet. Wie ein guter Geist taucht da plötzlich Reza auf, der behauptet, Schulden bei Babak gehabt zu haben, die er jetzt begleichen möchte. Mina ahnt nicht, dass Reza ein dunkles Geheimnis vor ihr verbirgt.
Schuld und Sühne – ein klassisches Filmsujet, hervorragend besetzt und meisterhaft inszeniert. „Ballad of a White Cow“ führt im Iran zu Kontroversen, schließlich hinterfragt er kritisch das dortige Justizsystem und thematisiert nebenbei noch weitere Tabus, wie Frauenfeindlichkeit und staatliche Unterdrückung.
Hauptdarstellerin Maryam Moghaddam führte gemeinsam mit Behtash Sanaeeha die Regie bei diesem stillen und doch wuchtigen Film.

Englischer Titel „Ballad of a White Cow“
Iran / Frankreich 2020
105 min
Regie Behtash Sanaeeha, Maryam Moghaddam

BERLINALE SPEZIAL

JE SUIS KARL

Genau so könnte es in nicht allzu ferner Zukunft kommen: Die junge Generation hat es gründlich satt und tut sich zusammen, um ein „neues Europa“ zu gründen. Dass das scheinbar nur mit rechtspopulistischen Parolen geht, ist die Kehrseite der Medaille.
Maxi ist nach einem Terroranschlag traumatisiert, sie hat ihre Mutter und ihre beiden Brüder verloren. Da tritt der charismatische Karl in ihr Leben. Der hat große Pläne, will ganz Europa verändern. „Was wäre für dich das Schlimmste?“, fragt sie ihn. „Sinnlos zu sterben“, antwortet er. „Und das Beste?“ „Sinnvoll“. Maxi verliebt sich Hals über Kopf in den charismatischen Neonazi und folgt ihm blind auf seiner Tour durch Europa. Das neue Unheil verbirgt sich hinter hübschen Gesichtern und ist im Social Network präsent.
Christian Schochow zeigt realistisch, wie die next generation der rechten Szene ihre Follower verführen könnte: Konzerte, Influencer-Liveberichte, aufwiegelnde Reden und ein paar free T-Shirts unters Volk geschmissen. Baby-Hitler ist ein Rockstar.
„Je Suis Karl“ erzählt eine interessante Geschichte, doch alles passiert ein bisschen zu schnell. Vor allem Maxis Radikalisierung findet im Zeitraffertempo statt, der Stoff hätte locker für ein paar Folgen einer Miniserie gereicht. Gegen Ende sind Drehbuchautor Thomas Wendrich dann die Pferde durchgegangen – die Zufälle häufen sich, die Handlung wirkt zusehends konstruierter. Wirklich toll sind die Schauspieler: Jannis Niewöhner kauft man das manipulative Neonazi-Arschloch voll und ganz ab. Die Schweizerin Luna Wedler hat mit ihren 21 Jahren schon mehrfach mittelmäßige Filme aufgewertet. Und es ist schön, den unterschätzten Milan Peschel endlich mal nicht in einer Klamotte zu sehen.

Deutschland / Tschechische Republik 2021
126 min
Regie Christian Schwochow

BERLINALE SHORTS

DEINE STRASSE

Zum Schluss noch eine Kurzfilm-Perle: Die von Sibylle Berg erzählte Geschichte, wie es dazu kam, dass es in Bonn eine Straße namens „Saime-Gençe-Ring“ gibt.

Schweiz 2020
7 min
Regie Güzin Kar

BERLINALE 2021 – TAG 3

Halbzeit. Unvorstellbar, dass vor einem Jahr noch Hundertschaften maskenloser Menschen im Kino saßen und gemeinsam gehustet haben. Früher war eben doch nicht alles besser. Bleibt die Hoffnung, dass sich das Virus bis zum Sommer verzogen hat. Husch, husch.

WETTBEWERB

PETITE MAMAN

Schräge Idee: Nach dem Tod ihrer Großmutter hilft Nelly ihren Eltern beim Ausräumen des Hauses. Beim Spielen im Wald lernt sie die gleichaltrige Marion kennen, die sich als ihre Mutter im Kindesalter entpuppt. Vergangenheit trifft Gegenwart. „Petite Maman“ wirkt wie eine zarte, sehr französische Antwort auf die Netflixserie „Dark“. Der neue Film von Céline Sciamma erzählt vom Erwachsenwerden, von Trauerbewältigung und Abschiedsschmerz. Schön.

Frankreich 2021
72 min
Regie Céline Sciamma

WETTBEWERB

RENGETEG – MINDENHOL LÁTLAK

Die nervös verwackelte Kamera bleibt konsequent nah auf den Gesichtern und Händen der Protagonisten. Es passiert fast nichts im neuen Film von Bence Fliegauf, dafür wird unendlich viel geredet. „Rengeteg – Mindenhol Látlak“ ist eine Soap-Opera in Hörspielform. Visuell eher quälend, bereitet es doch ein voyeuristisches Vergnügen, den Gesprächen zu lauschen.
Die poetischere Beschreibung steht wie immer im Pressetext:
„Ein Mann spricht mit dem Kleiderschrank – weshalb? Wenn Menschen Sphären sind, können sie sich je begegnen?“

Englischer Titel „Forest – I See You Everywhere“
Ungarn 2020
112 min
Regie Bence Fliegauf

WETTBEWERB

RAS VKHEDAVT, RODESAC CAS VUKUREBT?

Was wir sehen, wenn wir zum Himmel schauen, bleibt bis zum Ende ungeklärt – Blau vielleicht? Schwarz sieht der Zuschauer, wenn er den eingeblendeten Anweisungen in diesem Film folgt: ein erster Glockenton signalisiert, man solle die Augen schliessen, ein zweiter, wann man sie wieder öffnen darf. So viel Interaktion war selten. Nach fünf Minuten wandert der Blick zur Uhr und es stellt sich die bange Frage, wie man die noch folgenden 145 überstehen soll. Schön, dass es auch mittelmässige Studentenfilme in das Wettbewerbsprogramm schaffen. Gewinnt bestimmt den Goldenen Bären.

Deutscher Titel „Was sehen wir, wenn wir zum Himmel schauen?“
Deutschland / Georgien 2021
150 min
Regie Alexandre Koberidz

BERLINALE SPEZIAL

LIMBO

Ein Jungpolizist und sein erfahrener Partner sind einem obsessiven, besonders brutalen Frauenmörder auf der Spur. Müll, abgetrennte Hände und überall Schmeißfliegen – Hongkong zeigt sich hier von seiner schmutzigsten Seite.
Der neue Film von Soi Cheang (Dog Bite Dog) ist ein stylisher, in schwarz-weiß gedrehter Cop-Thriller – spannend bis zuletzt und teils exzessiv brutal. Das schreit nach US-Remake: Russell Crowe und Joseph Gordon-Levitt bitte für die Hauptrollen besetzen. 

Hongkong, China / Volksrepublik China 2021
118 min
Regie Soi Cheang

BERLINALE 2021 – TAG 2

Alles anders – diesmal gibt es (zum ersten Mal) keine einzige US-amerikanische Produktion im Wettbewerb. Dafür einen Film mit den Worten „Sau“ und „Porno“ im Titel, das ist Entschädigung genug.

WETTBEWERB

TERMÉSZETES FÉNY

Der ungarische Regisseur Dénes Nagy erzählt eine winterliche Geschichte aus dem Zweiten Weltkrieg. „Natural Light“ ist ein filmisches Gemälde, schlammfarben, fahl und stimmungsvoll. Ein Film über wortkarge Soldaten im Wald, die von einem moralischen Dilemma ins nächste geraten. Schwere Kost für die Sichtung am heimischen Computer, so was gehört ins dunkle Kino auf die große Leinwand. Meanwhile wächst die Sehnsucht nach leichter Unterhaltung.

Englischer Titel „Natural Light“
Ungarn / Lettland / Frankreich / Deutschland 2020
103 min
Regie Dénes Nagy

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BABARDEALĂ CU BUCLUC SAU PORNO BALAMUC

„Schlampe!“, die Empörungswelle der Eltern schlägt hoch. Ein Video, das eine junge Lehrerin beim Sex mit ihrem Ehemann zeigt, ist viral gegangen. Kein echter Skandal, eher eine private Peinlichkeit. Doch schon Dirty Harry wusste: Meinungen sind wie Arschlöcher, jedermann hat eins. Das trifft in einer von Social-Media verzerrten Welt umso mehr zu. Jeder kann alles sagen, posten und kommentieren, die nächste große Verschwörungstheorie lauert schon um die Ecke.
„Bad Luck Banging or Loony Porn“, so der englische Titel, zeichnet ein düsteres Bild von unserer modernen, übersexualisierten Gesellschaft.  In drei Kapiteln – deprimierend und lustig zugleich – hält Regisseur Jude seinen rumänischen Mitbürgern gnadenlos den Spiegel vors Gesicht.

Englischer Titel „Bad Luck Banging or Loony Porn“
Rumänien / Luxemburg / Kroatien / Tschechische Republik 2021
106 min
Regie Radu Jude

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ALBATROS

Étretat, eine malerische Gemeinde in der Normandie: Laurent (ausgezeichnet: Jérémie Renier) ist Vorgesetzter einer Polizeieinheit und hat täglich vom Versicherungsbetrug über Kindesmissbrauch bis zum Mopedfahren ohne Helm mit einem bunten Programm an Delikten zu tun. Als er einen verzweifelten Landwirt vom Selbstmord abhalten will, kommt es zur Katastrophe.

Gleich zu Beginn gibt es eine Szene, die als Omen für das Schicksal von Laurent gedeutet werden kann: Ein lebensmüder Mann springt vom Felsplateau und kracht in eine gerade am Strand stattfindende Fotosession. Gerade noch banale Normalität, die urplötzlich zerstört wird. So stark die erste Hälfte mit den Alltagsbeschreibungen der Polizisten, so einschläfernd die zweite. Nachdem die Tragödie geschehen ist, switcht der Film in eine seltsam melancholische „Der Mann und das Meer“-Studie, die in einem schalen Happy End ausfranst.

Englischer Titel „Drift Away“
Frankreich 2020
115 min
Regie Xavier Beauvois

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INTEURODEOKSYEON

Da setzt der erste Kopfschmerz ein: Der neue Film von Hong Sang-soo sieht aus, als wäre er auf U-Matic Lowband mit einer Kamera gedreht worden, bei der das Auflagemaß nicht richtig eingestellt ist. Zu sehen sind Koreaner, die viel rauchen – in Korea und an Berlins hässlichstem Ort, dem Potsdamer Platz. Ist schwarz/weiß und nur 66 Minuten lang – muss Kunst sein.

Englischer Titel „Introduction“
Republik Korea 2020
66 min
Regie Hong Sang-soo

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THE SCARY OF SIXTY-FIRST

Über Verstorbene soll man nichts Schlechtes sagen – eine Empfehlung, die Regisseurin Dasha Nekrasova herzlich wenig juckt. Das Debüt der Podcast-Moderatorin ist eine Abrechnung mit dem Milliardär Jeffrey Epstein – und gleichzeitig eine Reminiszenz an die grobkörnigen Psycho-Horror-Filme der 1970er-Jahre. „The Scary of Sixty-First“ besticht durch seinen handgemachten (um nicht zu sagen amateurhaften) Independent-Look. Krude, wirr und trotzdem einigermaßen unterhaltsam.

USA 2020
81 min
Regie Dasha Nekrasova

PANORAMA

LE MONDE APRÈS NOUS

Die Welt nach uns – nein, das ist keine apokalyptische Zukunftsvision, sondern der Titel von Labidis Erstlingsroman. Als sich der bitterarme Jung-Schriftsteller in die niedliche Schauspielschülerin Elisa verliebt, träumt er von der großen Liebe. Sehr entspannt erzählt Louda Ben Salah-Cazanas in seinem Spielfilmdebüt von einer jungen Migranten-Generation in Frankreich, hin- und hergerissen zwischen dem Kampf ums banale Überleben und der großen Sehnsucht nach mehr. Lieben, leben, rauchen – très français.

Englischer Titel “ The World After Us“
Frankreich 2021
85 min
Regie Louda Ben Salah-Cazanas

PERSPEKTIVE DEUTSCHES KINO

DIE SAAT

Rainer ist Bauarbeiter und muss mit seiner Familie aufs Land ziehen, die Stadt ist zu teuer geworden. Seine 13-jährige Tochter Doreen lernt dort Mara kennen, die keinen guten Einfluss ausübt und ihre neue Freundin sogar zum Diebstahl verführt. Auch bei Rainer auf der Arbeit läuft es zunehmend  schlechter. Als sein neuer Vorgesetzter einen älteren Mitarbeiter feuert, brennen bei Rainer die Sicherungen durch. Eine Familie unter Druck: Hanno Koffler, Anna Blomeier und Dora Zygouri spielen die Kleinfamilie im zweiten Spielfilm von Mia Maariel Meyer. Das Drehbuch zu diesem intensiven und sehenswerten Familiendrama hat die Regisseurin gemeinsam mit Hauptdarsteller Hanno Koffler geschrieben.

Englischer Titel “ The Seed“
Deutschland 2021
100 min
Regie Mia Maariel Meyer

BERLINALE 2021 – TAG 1

Kurzes Jammern: Buhuhu – Die Berlinale findet in diesem Jahr nur im Wohnzimmer statt, wenigstens der erste Teil, das sogenannte „Industry Event“. Keine große Leinwand, kein Gruppenerlebnis, keine schlechten Snacks im Foodcourt. Dafür muss man sich nicht mehr schamvoll aus dem Kino schleichen, sondern kann einfach vorspulen, wenn es zu langweilig wird.
Das große Publikumsfestival folgt im Juni – dann hoffentlich ohne Coronaeinschränkungen.

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ICH BIN DEIN MENSCH

Frauen arbeiten in deutschen Berlinale-Beiträgen offenbar gerne im Museum: Letztes Jahr gab Paula Beer als Undine die Historikerin, diesmal arbeitet Maren Eggert als Alma am Pergamonmuseum. Um Fördermittel zu ergattern, nimmt sie an einem außergewöhnlichen Experiment teil: Drei Wochen lang muss sie mit Tom (Dan „Downton Abbey“ Stevens), einem sehr menschlichen Roboter zusammen leben. Der soll sich dank KI in den perfekten Lebenspartner verwandeln. Doch einen guten Flirt zu programmieren, bleibt auch in dieser Zukunftsvision schwierig. „Deine Augen sind wie Bergseen, in denen ich versinken möchte.“ Mit Poesie aus der Mottenkiste kann Tom das verhärtete Herz von Alma nicht öffnen. Maria Schraders nicht uncharmanter Film mäandert zwischen theaterhafter Künstlichkeit und leisem, intelligentem Humor. Das ist unterhaltsam, packt aber nie so ganz.
„Ich bin dein Mensch“ ist einer von vier (!) deutschen Wettbewerbsbeiträgen, am Freitag gibt es noch „Herr Bachmann und seine Klasse“ zu besprechen. “Fabian oder Der Gang vor die Hunde” mit Tom Schilling und “Nebenan”, das Regiedebut von Daniel Brühl, stehen im Stream leider nicht zur Verfügung.

Englischer Titel „I’m Your Man“
Deutschland 2021
105 min
Regie Maria Schrader

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MEMORY BOX

Seit „Bridges of Madison County“ ein beliebter Drehbuchkniff: Die Kinder kramen in den Hinterlassenschaften der Eltern und finden dabei heraus, dass die auch mal ein Leben jenseits der bekannten Familienstrukturen hatten. „Memory Box“ ist eine Fortentwicklung, eine tiefer gehende, sozusagen 2.0-Version dieser Idee. Die libanesische Regisseurin und Künstlerin Joana Hadjithomas schickt zwischen 1982 und 1988, im Alter von 13 bis 18 Jahren ihrer besten Freundin regelmäßig Kassetten, Briefe und Fotos nach Frankreich. Sechs Jahre lang erzählen sich die Mädchen bis ins kleinste Detail von ihrem Leben. Die eine aus Paris, die andere aus dem libanesischen Bürgerkrieg. Aus dieser wahren Geschichte ist nun „Memory Box“ entstanden. In ihrem teils experimentellen Drama verbinden die Regisseurinnen dokumentarische mit fiktionalen und rekonstruierten Elementen zu einem visuell aufregenden Mix. Herausgekommen ist ein ergreifender und erkenntnisreicher Film, der sich mit den elementaren Fragen beschäftigt: Wie wichtig sind Erinnerungen? Wie beeinflusst die Vergangenheit die Gegenwart? Sehenswert.

Frankreich / Libanon / Kanada / Katar 2021
100 min
Regie Joana Hadjithomas, Khalil Joreige

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Vị

Ein nigerianischer Mann lebt mit vier Vietnamesinnen in den Slums von Ho-Chi-Minh-City. Die Tage dröppeln so vor sich hin: Die meiste Zeit sind alle nackt, bereiten Speisen zu oder waschen sich gegenseitig. Einmal sitzt eine Schnecke auf dem Penis des Mannes. Zwischendurch essen er und sein Sohn Wassermelone im Videochat. 
Lê Bảos Erstlingswerk wirkt wie ein filmgewordenes Kunstprojekt und ist eine Kontemplation in Blau und Braun. Jedenfalls schön anzusehen.

Englischer Titel „Taste“
Vietnam / Singapur / Frankreich / Thailand / Deutschland / Taiwan 2021
97 min
Regie Lê Bảo

BERLINALE SPEZIAL

TIDES

Mad Max im Wattenmeer: Schreckliche Geheimnisse und schicksalhafte Entscheidungen – verpackt in einem Sci-Fi-Thriller mit Öko-Kritik – produziert vom Hollywood-Schwaben Roland Emmerich. Das lässt nichts Gutes erahnen.
Die Menschen haben die Erde endgültig kaputt gemacht. Deshalb fliehen ein paar Reiche auf den must-have-Planeten aller modernen Science-Fiction-Filme „Kepler“ (guter Hundename). Zwei Generationen später kehrt eine Gruppe Auserwählter zur mittlerweile überfluteten Erde zurück, denn da soll wieder Leben möglich sein.
Inhaltlich werden dicke Bretter gebohrt: Kolonialismus, Ausbeutung, das Brandschatzen der Erde, der Klimakollaps, das Ende des Patriarchats und natürlich der elendigliche Überlebenswille der Menschheit. Relativ rasch verflacht der Film zum konventionellen Gut-gegen-Böse-Drama mit absehbarem Ende. Dass „Tides“ trotzdem ganz okay geworden ist, liegt vor allem an der stimmungsvollen Kamera von Markus Förderer und der souveränen Regie von Tim Fehlbaum.

Deutschland / Schweiz 2021
104 min
Regie Tim Fehlbaum