BERLINALE 2022 – TAG 1

BERLINALE 2022 – TAG 1

Dieses Jahr wird das Leben wild und gefährlich, denn die Berlinale findet wieder live in den Kinos statt. Die eigentlich geniale Aufteilung von digitalem Event für die Filmindustrie und Outdoor-Sommerfestspielen für das Publikum war eine einmalige Sache, nun heißt es: geimpft, geboostert, getestet plus Maske und halbe Besetzung: 2G+++.

Noch bevor es richtig losgeht, hat die Berlinale ihr erstes Skandälchen: Das neue System verlangt, auch Presse-Akkreditierte müssen sich vorher online Platzkarten sichern. Die Sitze im Kinosaal werden vom System per Zufall vergeben, und dass Computer nicht besonders schlau sind, ist bekannt. So kommt es, dass die hinteren Reihen A bis F gut gefüllt sind, während die restlichen 14 Reihen nach vorne komplett leer bleiben. Grotesk. Vor Beginn des Eröffnungsfilms erhebt sich plötzlich ein Zuschauer und ruft wutentbrannt: „This is crazy! Don’t let them treat you like this! Ignore the rules! Choose your own seat! There is nothing they can do if we all stick together. Let’s fight this!“ Außer einer jungen Frau, die Bravo rufend nach vorne stolpert, bewegt sich niemand von seinem Platz. Denn es droht der Saalverweis. Kein Thursday for Future. Aber recht hat der tapfere Demonstrant natürlich (scheinbar hatte er in Cannes schon einen ähnlichen Auftritt), leider bellt er den falschen Baum an. Vielleicht sollte er lieber bei der Festivalleitung zur Revolution aufrufen…

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PETER VON KANT

3.5/5

François Ozon liebt Rainer Werner Fassbinder. Nach der kongenialen Verfilmung des Fassbinder-Theaterstücks „Tropfen auf heiße Steine“ (2000) feiert nun sein Remake des 1972 entstandenen Films „Die bitteren Tränen der Petra von Kant“ Premiere in Berlin.

Peter von Kant, ein erfolgreicher Filmregisseur, ist ein echtes Scheusal. Seinen stummen Diener und Assistenten Karl behandelt er wie Dreck. Eines Tages lernt er den jungen Amir kennen. Peter verliebt sich unsterblich in den sexy 24-Jährigen. Er will Amir eine Karriere im Filmgeschäft ermöglichen, lädt ihn ein, bei sich zu wohnen. Neun Monate später ist aus dem schüchternen Jungen ein manipulativer, launischer Star geworden, der sich bald darauf von Peter trennt. 

Das lieb gewonnene Vorurteil, Eröffnungsfilme der Berlinale wären immer schlecht, wird dieses Jahr nicht bestätigt: „Peter von Kant“ ist ein echter Ozon – stilsicher, artifiziell und ungewöhnlich. Anders als in Fassbinders Film ist hier die Titelrolle männlich besetzt. Das beschert der Geschichte vom cholerischen Filmregisseur eine neue Ebene, denn Peter von Kant ist ganz offensichtlich dem echten Fassbinder nachempfunden. Die Titelrolle spielt Denis Ménochet, der bereits zweimal für Ozon vor der Kamera stand. Der Eröffnungsfilm ist ein etwas zu wortreiches (weniger euphemistisch: geschwätziges) aber ausgezeichnet gespieltes Kammerspiel.

Frankreich 2021
84 min
Regie François Ozon

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RIMINI

3/5

Rex Gildo und Werner Böhm können davon ein Lied singen: Wenn sich Schlagerstars nicht gerade totsaufen oder aus Badezimmerfenstern springen, dann enden sie entweder im Möbelmarkt oder am Ballermann. Nicht viel besser ist das Schicksal von Richie Bravo, der verdient sein Geld in Rimini.

Die besten Jahre liegen hinter ihm – das Jackett passt nur noch mit Mieder und sein Repertoire gibt er mittlerweile in Hotelhallen zum Besten. Doch Richie weiß, was Fans (und Frauen) wünschen: viel öligen Charme und noch mehr körperliche Zuwendung. Eines Tages steht seine erwachsene Tochter vor ihm und verlangt Geld, denn Papa hat sich seit 18 Jahren nicht gemeldet, geschweige denn Unterhalt gezahlt.

Was ist der Superlativ von deprimierend? Rimini im Winter. Eine Stimmung, die der österreichische Film von Ulrich Seidl perfekt einfängt. Trauriger Ort, trauriger Typ: Richie Bravo ist ein Wrack, er säuft und raucht Kette. Von den bemitleidenswerten Auftritten vor greisem Publikum wechselt die Geschichte immer wieder zu wenig erbaulichen Sexszenen mit Richie und älteren Damen. Fanservice der besonderen Art. Daneben erzählt der Regisseur die Geschichte von Richies dementem Vater, der in einem Pflegeheim dahinvegetiert und alte Nazilieder singt. Tragisch und lustig zugleich.

Österreich / Frankreich / Deutschland 2022
114 min
Regie Ulrich Seidl

BERLINALE SPECIAL GALA

INCREDIBLE BUT TRUE

2/5

Unglaublich, aber wahr: Im Keller von Maries und Alans Haus verbirgt sich etwas Rätselhaftes. Wenn man doch nur darüber reden könnte! Doch Marie will das Geheimnis für sich behalten, besonders vor Alans Chef. Der hat sich in Japan einen iPenis einpflanzen lassen. Klingt seltsam? Ist es auch.

In der Fernsehserie „Black Mirror“ würde Quentin Dupieuxs satirische Zeitreisegeschichte nur als mittelmäßige Folge durchgehen. Achtung, SPOILER: Im Keller des Hauses befindet sich eine Luke zu einem Schacht. Steigt man den hinab, landet man wieder im Obergeschoss des Hauses. So weit, so seltsam. Klettert man dann wieder zurück, so sind 12 Stunden vergangen, gleichzeitig ist man aber 3 Tage jünger geworden. Marie beschließt, die skalpellfreie Verjüngungskur umfassend zu nutzen.

Bleibt die Frage: Was soll das? Als Satire auf den Beautywahn ist der Film nicht scharf genug, als Fantasygeschichte zu lahm und als Komödie zu unlustig. Ein paar Szenen funktionieren –  besonders zu Beginn, als der Makler dem Paar das Haus präsentiert und in höchster Umständlichkeit das Kellergeheimnis erklären will. Doch je länger die Geschichte läuft, desto uninteressanter wird sie. Zum Schluss gibt es einen minutenlangen Zusammenschnitt, dialoglos auf Musik, fast so, als hätten die Macher nicht mehr gewusst, was sie mit dem restlichen Material anfangen sollen. Trotz seiner kurzen 74 Minuten ist das unglaubliche, aber wahre Geheimnis vor allem gegen Ende erstaunlich zäh.

Originaltitel „Incroyable mais vrai“
Frankreich / Belgien 2021
74 min
Regie Quentin Dupieux

PANORAMA

BEAUTIFUL BEINGS

4/5

Für den 14-jährigen Balli läuft es denkbar schlecht: Er lebt in einem runtergekommenen Haus bei seiner drogenabhängigen Mutter, ein Auge wurde ihm „versehentlich“ vom Stiefvater weggeschossen, in der Schule wird er regelmäßig gemobbt. Kein schönes Leben. Als Balli die gleichaltrigen Addi, Konni und Siggi kennenlernt, entwickelt sich langsam eine Freundschaft zwischen den vier Jungs.

Der Film des isländischen Regisseurs wirkt wie eine zeitgemäße Interpretation von „Stand By Me“. Nur um einiges rougher und näher an der Wirklichkeit. Der Kontrast könnte nicht größer sein: Zu Hause dominieren die Väter, allesamt Looser – vom Trinker bis zum brutalen Schläger ist alles dabei. Auf der anderen Seite steht die oft (typisch pubertär) Grenzen austestende Freundschaft zwischen den Jungs, die immer wieder überraschend zärtliche Momente hat.
Regisseur Guðmundsson ist ein bewegendes, in stimmungsvollen Bildern gedrehtes Coming-Of-Age-Drama geglückt mit vier tollen Newcomern.

Originaltitel „Berdreymi“
Island / Dänemark / Schweden / Niederlande / Tschechische Republik 2022
123 min
Regie Guðmundur Arnar Guðmundsson

PANORAMA

NOBODY'S HERO

3.5/5

In französischen Clermont-Ferrand verliebt sich der ungelenke Médéric in Isadora, eine 50-jährige Prostituierte. Als das Städtchen Schauplatz eines Terroranschlags wird, flüchtet sich der junge Obdachlose Selim in Médérics Gebäude und löst damit eine kollektive Paranoia unter den Hausbewohnern aus. Ist das der gesuchte Islamist? Médéric ist hin- und hergerissen zwischen seinem Mitgefühl für Selim und dem Wunsch, die Affäre mit Isadora fortzusetzen.
Figuren, Konstruktion und Stimmung erinnern an einen Roman von Michel Houellebecq. Eine Geschichte, wie aus dem Leben: so grotesk, dass sie sehr wahrscheinlich ist.

Originaltitel „Viens je t’emmène“
Frankreich 2022

100 min
Regie Aliaksei Paluyan

BALLADE VON DER WEISSEN KUH

BALLADE VON DER WEISSEN KUH

Kinostart 03. Februar 2022

Der Makler macht der jungen Mutter wenig Hoffnung: Witwen, Hundebesitzer oder Junkies haben in Teheran keine Chance auf eine Wohnung. Für ihre Notlage kann die alleinerziehende Mina nichts, denn ihr Ehemann Babak wurde zu Unrecht verurteilt und hingerichtet. Wie ein guter Geist taucht da plötzlich Reza auf, der behauptet, Schulden bei Babak gehabt zu haben, die er jetzt begleichen möchte. Mina ahnt nicht, dass Reza ein Geheimnis vor ihr verbirgt.

Arthousekino aus dem Iran? Keine Angst, „Ballade von der weißen Kuh“ ist viel unterhaltsamer, als es der Inhalt vermuten lässt. Das hervorragend gespielte und ausgezeichnet inszenierte Drama behandelt ein Thema, so alt wie die Menschheit: Schuld und Sühne. Im Iran führte „Ghasideyeh gave sefid“ zu Kontroversen, denn er klagt nicht nur das dortige Justizsystem an, sondern thematisiert noch ein paar weitere Tabus wie Frauenfeindlichkeit und staatliche Unterdrückung. Hauptdarstellerin Maryam Moghaddam führte gemeinsam mit Behtash Sanaeeha die Regie bei diesem stillen und doch wuchtigen Film.

„Ballade von der weißen Kuh“ feierte letztes Jahr seine Weltpremiere bei der Berlinale.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Ghasideyeh gave sefid“
Iran / Frankreich 2020
105 min
Regie Maryam Moghaddam und Behtash Sanaeeha

alle Bilder © Weltkino Filmverleih GmbH

JE SUIS KARL

JE SUIS KARL

Genau so könnte es in nicht allzu ferner Zukunft kommen: Die junge Generation hat es gründlich satt und tut sich zusammen, um ein “neues Europa” zu gründen. Dass das scheinbar nur mit rechtspopulistischen Parolen geht, ist die Kehrseite der Medaille.

Maxi ist nach einem Terroranschlag, bei dem ihre Mutter und ihre beiden Brüder ums Leben kommen, traumatisiert. Als sie auf den gutaussehenden Karl trifft, ahnt sie noch nicht, mit wem sie sich da einlässt. Karl hat große Pläne, will ganz Europa verändern. “Was wäre für dich das Schlimmste?”, fragt sie ihn. “Sinnlos zu sterben”, antwortet er. “Und das Beste?” “Sinnvoll”. Maxi verliebt sich Hals über Kopf in den charismatischen Neonazi und folgt ihm blind auf seiner Tour durch Europa.

Das neue Unheil verbirgt sich hinter hübschen Gesichtern und ist im Social Network präsent.
Christian Schochow zeigt, wie die next generation der rechten Szene ihre Follower verführt: Konzerte, Influencer-Liveberichte, aufwiegelnde Reden und ein paar free T-Shirts unters Volk geschmissen. Baby-Hitler ist ein Rockstar.
“Je Suis Karl” erzählt eine interessante, doch ein bisschen zu gehetzt abgespulte Geschichte. Vor allem Maxis Radikalisierung findet im Zeitraffertempo statt. Der Stoff hätte locker für eine Miniserie gereicht. Gegen Ende sind Drehbuchautor Thomas Wendrich dann die Pferde durchgegangen – die Zufälle häufen sich, die Handlung wirkt zusehends konstruierter. Wirklich toll sind die Schauspieler: Jannis Niewöhner kauft man das manipulative Neonazi-Arschloch voll und ganz ab. Die Schweizerin Luna Wedler hat mit ihren 21 Jahren schon mehrfach mittelmäßige Filme aufgewertet. Und es ist schön, den unterschätzten Milan Peschel endlich mal nicht in einer Klamotte zu sehen.

INFOS ZUM FILM

Deutschland / Tschechische Republik 2021
126 min
Regie Christian Schwochow
Kinostart 16. September 2021

alle Bilder © Pandora Film

FABIAN ODER DER GANG VOR DIE HUNDE

FABIAN ODER DER GANG VOR DIE HUNDE

Die Kamera gleitet durch den U-Bahnhof Heidelberger Platz im heutigen Berlin. An den wartenden Fahrgästen vorbei, die Treppe hinauf, und plötzlich befinden wir uns im Berlin der 1930er-Jahre. Nüchtern, meist distanziert führt uns Jakob Fabian durch die brodelnde Großstadt. Tagsüber unterforderter Werbetexter, zieht der angehende Schriftsteller nachts mit seinem besten Freund Labude durch die Bordelle und Kneipen Berlins. Ein unsteter Geist, immer auf der Suche. Veränderung liegt in der Luft, die Weimarer Republik geht zu Ende, die Nazis sind auf dem Vormarsch. Erst die Liebe zu Cornelia Battenberg wird ein Lichtblick in Fabians Leben, stellt seine ironische Weltanschauung infrage.

Dominik Graf wählt für die Neuverfilmung von Erich Kästners gleichnamigem Roman die Stilmittel einer Independent-Produktion. Originalschauplätze in Görlitz und Bautzen stehen für das historische Berlin und Dresden, körniges Super-8-Material wechselt munter mit alten Archivaufnahmen und aufwendig eingerichteten Szenen in Altbaufluchten. Graf erzählt seine Vision vom Tanz auf dem Vulkan ohne Klischees, frei von Kitsch und verzichtet auf computergenerierten Hollywoodglanz. Das ist weit weg von „Babylon Berlin“. 

Kameramann Hanno Lentz verwendet ein fast quadratisches Bildverhältnis, das gängige Kinoformat der Zeit, in der die Geschichte spielt. Eines der kleinen, unauffälligen Details, die den Film so stimmig machen.
Tom Schilling, unser Mann für intellektuelle Slacker, ist die Idealbesetzung für den verlorenen Fabian. An seiner Seite glänzen Saskia Rosendahl, Albrecht Schuch und Meret Becker.

„Fabian oder der Gang vor die Hunde“ ist ein im besten Sinne altmodischer und zugleich sehr moderner Film. Die drei Stunden Laufzeit hätten hier und da ein paar Kürzungen vertragen, doch laut Regisseur gibt es einen Grund für die Länge: Er wollte, dass sein Film in etwa so lange dauert wie die Lektüre des Buchs.

INFOS ZUM FILM

Deutschland 2021
178 min
Regie Dominik Graf
Kinostart 05. August 2021

alle Bilder © DCM Pictures

DER MENSCHLICHE FAKTOR

Fünf bis sechs Filme am Tag sind eben doch zu viel. Deshalb hier ein kleiner Berlinale-Nachklapp: der sehenswerte PANORAMA-Beitrag „Der menschliche Faktor“ von Ronny Trocker.
Jan und Nina leiten eine Werbeagentur in Hamburg. Die Geschäfte könnten besser laufen, deshalb nimmt Jan, ohne es mit seiner Frau abzusprechen, einen Neukunden an. Doppelt schlimm: Er missachtet nicht nur die „no politics“-Regel der Agentur, es handelt sich auch noch um eine populistische Partei – die AfD lässt grüßen. Nina ist sauer. Um die Wogen zu glätten, fahren die beiden mit ihren Kindern übers Wochenende in ihr Ferienhaus an der belgischen Küste. Doch mit der Erholung ist es schnell vorbei, als ein mysteriöser Einbruch das Familiengefüge empfindlich stört. Keiner kann eine genaue Täterbeschreibung geben – die Kinder haben nichts gesehen, Jan war einkaufen und Nina hat nur Schritte gehört.

„Der menschliche Faktor“ ist ein subtiler Psychothriller, der seine Figuren langsam in ein feines Netz aus Manipulation, wachsendem Misstrauen und subjektiver Wahrnehmung spinnt. Klingt verkopft, ist aber spannend. Der Einbruch wird aus verschiedenen ineinanderfließenden Perspektiven gezeigt. Was gerade noch klar schien, ist durch die Sicht eines anderen Familienmitglieds plötzlich wieder infrage gestellt. So behauptet der achtjährige Sohn Max, der Vater habe sich während des Vorfalls versteckt. Und die vagen Aussagen von Nina lassen bei der Polizei Zweifel aufkommen, ob es den Einbruch überhaupt gegeben hat.

Ronny Trocker ist ein fesselndes Familiendrama mit hervorragender Besetzung gelungen: Mark Waschke (immer gut) überzeugt als verunsichertes Alphatier Jan und die wunderbare Schweizerin Sabine Timoteo als Nina möchte man sowieso gerne öfters sehen. Falls sich auch irgendwer fragt: Woher kenne ich Sabine Timoteo noch mal? Die hat in der Andreas Steinhöfel-Romanverfilmung „Die Mitte der Welt“ die Mutter gespielt.

FAZIT

„Der menschliche Faktor“ feierte im Sommer 2020 seine Premiere beim Sundance Film Festival. Da es sich um eine Koproduktion des „Kleines Fernsehspiel“ handelt, stehen die Chancen gut, dass er demnächst im ZDF zu sehen sein wird. Wahrscheinlich um 23.30 Uhr – für einen 20.15 Uhr-Sendeplatz ist er einfach zu gut.

INFOS ZUM FILM

Deutschland / Italien / Dänemark 2021
102 min
Regie Ronny Trocker
Demnächst im Kino oder Fernsehen

alle Bilder © Klemens Hufnagl / zischlermann filmproduktion

BERLINALE 2021 – TAG 5

Geschafft! Die Streaminale hatte große Vorteile: kein Verschlafen, keine verpasste U-Bahn, keine Ausreden. Zum ersten Mal wurden ganz bestimmt ALLE Wettbewerbsbeiträge gesichtet. Obwohl – stimmt gar nicht: „Fabian oder Der Gang vor die Hunde“ mit Tom Schilling und „Nebenan“, das Regiedebüt von Daniel Brühl, standen im Stream nicht zur Verfügung. Die Trauer hält sich in Grenzen.

Fazit: sehr verkopft, viel Oberstufen-Video-AG. Die Sehnsucht nach großem Kino konnte die Berlinale dieses Jahr nicht erfüllen. Film darf neben Hirn und manchmal Herz auch gerne Auge und Bauch berühren. Nächstes Mal bitte mehr Mut zur gesunden Mischung.

Herzlichen Glückwunsch an die Gewinner:

Goldener Bär: „Babardeală cu bucluc sau porno balamuc“ von Radu Jude
Silberner Bär – Großer Preis: „Guzen to sozo“ von Ryusuke Hamaguchi
Silberner Bär: „Herr Bachmann und seine Klasse“ von Maria Speth
Beste Regie: Dénes Nagy für „Természetes fény“
Beste Schauspielerische Leistung Hauptrolle: Maren Eggert in „Ich bin dein Mensch“
Beste Schauspielerische Leistung Nebenrolle: Lilla Kizlinger in „Rengeteg – mindenhol látlak“
Bestes Drehbuch: Hong Sangsoo für „Inteurodeoksyeon“
Herausragende Künstlerische Leistung: Yibrán Asuad für die Montage von
„Una película de policías“

WETTBEWERB

UNA PELÍCULA DE POLICÍAS

Die Vorspannmusik ist eine hübsche Hommage an die 1970er-Jahre US-Polizeifilme. Danach bleibt lange unklar, ob man hier gerade echten oder gespielten Polizisten bei der Arbeit zuschaut. Nach gut der Hälfte die Auflösung: Zwei Schauspieler*innen wollen herausfinden, was es braucht, ein Cop in Mexiko-City zu sein. Die beiden tauchen so tief in ihre Rollen, dass sich die Grenzen zwischen Realität und Fiktion auflösen. Film im Film, der immer wieder die Erzählperspektive wechselt. Alonso Ruizpalacios schafft mit seinem Verwirrspiel einen interessanten Einblick in die korrupte und gefährliche Welt der mexikanischen Polizei.

Englischer Titel „A Cop Movie“
Mexiko 2021
107 min
Regie Alonso Ruizpalacios

WETTBEWERB

HERR BACHMANN UND SEINE KLASSE

Da wird Flecki Fleckenstein ganz neidisch: Dieter Bachmann ist ein Lehrer, wie man ihn sich wünscht. Empathisch und engagiert gibt er seinen Schüler:innen, die aus verschiedenen Ländern stammen und teilweise kaum Deutsch sprechen, das Gefühl, an seiner Schule ein neues Zuhause gefunden zu haben. Er tut das, was ein guter Lehrer tun sollte: die Jugendlichen sanft auf ihren Weg ins Erwachsenenleben leiten, ihnen Möglichkeiten aufzeigen und Freiheiten lassen.

Mit 3,5 Stunden Laufzeit (🙄) vielleicht ein klitzekleines bisschen zu lang geraten, aber dafür wachsen einem Herr Bachmann und seine Schüler so sehr ans Herz, dass man am Ende des Schuljahres mit ihnen gemeinsam ein Tränchen verdrückt. Maria Speths einfühlsamer Dokumentarfilm hat den Silbernen Bären gewonnen.

Englischer Titel „Mr Bachmann and His Class“
Deutschland 2021
217 min
Regie Maria Speth

BERLINALE SPEZIAL

THE MAURITANIAN

Ist er schuldig oder unschuldig? Mohamedou Ould Slahi sitzt im Gefangenenlager Guantánamo Bay ein, er wird verdächtigt, an den Terroranschlägen von 9/11 beteiligt gewesen zu sein. Jahrelang wartet er auf einen Prozess, bis sich die Anwältin Nancy Hollander seines Falls annimmt und damit einen Kampf gegen das System beginnt. 
Am stärksten ist „The Mauritanian“ in den Rückblenden, die die Vorgeschichte Slahis erzählen. Die Recherche und der Weg zum Prozess – das ist solide inszeniertes Mainstreamkino, das gab es so ähnlich schon tausendmal in anderen Gerichtsfilmen zu sehen. Jodie Foster, Benedict Cumberbatch und der herausragende Tahar Rahim als ambivalenter Terrorverdächtiger machen „The Mauritanian“ zu keinem bahnbrechenden, aber trotzdem sehenswerten Politthriller. Die wahre, schreiend ungerechte Geschichte basiert auf dem 2015 erschienenen Buch „Guantánamo-Tagebuch“, das Slahi in Gefangenschaft schrieb und das zum Bestseller wurde. 

England 2021
130 min
Regie Kevin Macdonald

BERLINALE 2021 – TAG 4

Ein Wort zum Plakat- und Logodesign: Bravo Kinder! Hier hatte eindeutig die LOBI-AG ihre Tatzen im Spiel. Hübsch und handgemacht, um Klassen besser, als das bemüht künstlerische Grafikfiasko vom letzten Jahr.

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GUZEN TO SOZO

Zwischenbilanz: In allen – ALLEN – Wettbewerbsfilmen wird geraucht. Manchmal mehr (Inteurodeoksyeon), manchmal weniger (Petite Maman). Geraucht und geredet, möchte man sagen. Denn Geschwätzigkeit ist das andere Laster in diesem Berlinalejahr. Vielleicht eine neue Form der sozialen Interaktion: Statt sich in Kneipen zu treffen und zu reden, schaut man Filme an, in denen die Schauspieler reden. Und reden. Und reden.
In drei verschiedenen, nicht miteinander verknüpften Episoden erzählt „Guzen To Sozo“ von Frauen und Männer, die über ihre Beziehungen sprechen. Regisseur Ryusuke Hamaguchi scheint ein großer Bewunderer von Woody Allen zu sein. Wie sein unerreichtes Vorbild lässt auch er seine Figuren in teils skurrile Situationen stolpern. Nur mit dem Unterschied, dass „Guzen To Sozo“ visuell sehr tranig daherkommt.

Englischer Titel „Wheel of Fortune and Fantasy“
Japan 2021
121 min
Regie Ryusuke Hamaguchi

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GHASIDEYEH GAVE SEFID

Der Makler macht der jungen Mutter wenig Hoffnung: Witwen, Hunde- oder Katzenbesitzer und Junkies haben in Teheran keine Chance. Für ihre Notlage kann Mina nichts, denn ihr Ehemann Babak wurde zu Unrecht für ein Verbrechen hingerichtet. Wie ein guter Geist taucht da plötzlich Reza auf, der behauptet, Schulden bei Babak gehabt zu haben, die er jetzt begleichen möchte. Mina ahnt nicht, dass Reza ein dunkles Geheimnis vor ihr verbirgt.
Schuld und Sühne – ein klassisches Filmsujet, hervorragend besetzt und meisterhaft inszeniert. „Ballad of a White Cow“ führt im Iran zu Kontroversen, schließlich hinterfragt er kritisch das dortige Justizsystem und thematisiert nebenbei noch weitere Tabus, wie Frauenfeindlichkeit und staatliche Unterdrückung.
Hauptdarstellerin Maryam Moghaddam führte gemeinsam mit Behtash Sanaeeha die Regie bei diesem stillen und doch wuchtigen Film.

Englischer Titel „Ballad of a White Cow“
Iran / Frankreich 2020
105 min
Regie Behtash Sanaeeha, Maryam Moghaddam

BERLINALE SPEZIAL

JE SUIS KARL

Genau so könnte es in nicht allzu ferner Zukunft kommen: Die junge Generation hat es gründlich satt und tut sich zusammen, um ein „neues Europa“ zu gründen. Dass das scheinbar nur mit rechtspopulistischen Parolen geht, ist die Kehrseite der Medaille.
Maxi ist nach einem Terroranschlag traumatisiert, sie hat ihre Mutter und ihre beiden Brüder verloren. Da tritt der charismatische Karl in ihr Leben. Der hat große Pläne, will ganz Europa verändern. „Was wäre für dich das Schlimmste?“, fragt sie ihn. „Sinnlos zu sterben“, antwortet er. „Und das Beste?“ „Sinnvoll“. Maxi verliebt sich Hals über Kopf in den charismatischen Neonazi und folgt ihm blind auf seiner Tour durch Europa. Das neue Unheil verbirgt sich hinter hübschen Gesichtern und ist im Social Network präsent.
Christian Schochow zeigt realistisch, wie die next generation der rechten Szene ihre Follower verführen könnte: Konzerte, Influencer-Liveberichte, aufwiegelnde Reden und ein paar free T-Shirts unters Volk geschmissen. Baby-Hitler ist ein Rockstar.
„Je Suis Karl“ erzählt eine interessante Geschichte, doch alles passiert ein bisschen zu schnell. Vor allem Maxis Radikalisierung findet im Zeitraffertempo statt, der Stoff hätte locker für ein paar Folgen einer Miniserie gereicht. Gegen Ende sind Drehbuchautor Thomas Wendrich dann die Pferde durchgegangen – die Zufälle häufen sich, die Handlung wirkt zusehends konstruierter. Wirklich toll sind die Schauspieler: Jannis Niewöhner kauft man das manipulative Neonazi-Arschloch voll und ganz ab. Die Schweizerin Luna Wedler hat mit ihren 21 Jahren schon mehrfach mittelmäßige Filme aufgewertet. Und es ist schön, den unterschätzten Milan Peschel endlich mal nicht in einer Klamotte zu sehen.

Deutschland / Tschechische Republik 2021
126 min
Regie Christian Schwochow

BERLINALE SHORTS

DEINE STRASSE

Zum Schluss noch eine Kurzfilm-Perle: Die von Sibylle Berg erzählte Geschichte, wie es dazu kam, dass es in Bonn eine Straße namens „Saime-Gençe-Ring“ gibt.

Schweiz 2020
7 min
Regie Güzin Kar

BERLINALE 2021 – TAG 3

Halbzeit. Unvorstellbar, dass vor einem Jahr noch Hundertschaften maskenloser Menschen im Kino saßen und gemeinsam gehustet haben. Früher war eben doch nicht alles besser. Bleibt die Hoffnung, dass sich das Virus bis zum Sommer verzogen hat. Husch, husch.

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PETITE MAMAN

Schräge Idee: Nach dem Tod ihrer Großmutter hilft Nelly ihren Eltern beim Ausräumen des Hauses. Beim Spielen im Wald lernt sie die gleichaltrige Marion kennen, die sich als ihre Mutter im Kindesalter entpuppt. Vergangenheit trifft Gegenwart. „Petite Maman“ wirkt wie eine zarte, sehr französische Antwort auf die Netflixserie „Dark“. Der neue Film von Céline Sciamma erzählt vom Erwachsenwerden, von Trauerbewältigung und Abschiedsschmerz. Schön.

Frankreich 2021
72 min
Regie Céline Sciamma

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RENGETEG – MINDENHOL LÁTLAK

Die nervös verwackelte Kamera bleibt konsequent nah auf den Gesichtern und Händen der Protagonisten. Es passiert fast nichts im neuen Film von Bence Fliegauf, dafür wird unendlich viel geredet. „Rengeteg – Mindenhol Látlak“ ist eine Soap-Opera in Hörspielform. Visuell eher quälend, bereitet es doch ein voyeuristisches Vergnügen, den Gesprächen zu lauschen.
Die poetischere Beschreibung steht wie immer im Pressetext:
„Ein Mann spricht mit dem Kleiderschrank – weshalb? Wenn Menschen Sphären sind, können sie sich je begegnen?“

Englischer Titel „Forest – I See You Everywhere“
Ungarn 2020
112 min
Regie Bence Fliegauf

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RAS VKHEDAVT, RODESAC CAS VUKUREBT?

Was wir sehen, wenn wir zum Himmel schauen, bleibt bis zum Ende ungeklärt – Blau vielleicht? Schwarz sieht der Zuschauer, wenn er den eingeblendeten Anweisungen in diesem Film folgt: ein erster Glockenton signalisiert, man solle die Augen schliessen, ein zweiter, wann man sie wieder öffnen darf. So viel Interaktion war selten. Nach fünf Minuten wandert der Blick zur Uhr und es stellt sich die bange Frage, wie man die noch folgenden 145 überstehen soll. Schön, dass es auch mittelmässige Studentenfilme in das Wettbewerbsprogramm schaffen. Gewinnt bestimmt den Goldenen Bären.

Deutscher Titel „Was sehen wir, wenn wir zum Himmel schauen?“
Deutschland / Georgien 2021
150 min
Regie Alexandre Koberidz

BERLINALE SPEZIAL

LIMBO

Ein Jungpolizist und sein erfahrener Partner sind einem obsessiven, besonders brutalen Frauenmörder auf der Spur. Müll, abgetrennte Hände und überall Schmeißfliegen – Hongkong zeigt sich hier von seiner schmutzigsten Seite.
Der neue Film von Soi Cheang (Dog Bite Dog) ist ein stylisher, in schwarz-weiß gedrehter Cop-Thriller – spannend bis zuletzt und teils exzessiv brutal. Das schreit nach US-Remake: Russell Crowe und Joseph Gordon-Levitt bitte für die Hauptrollen besetzen. 

Hongkong, China / Volksrepublik China 2021
118 min
Regie Soi Cheang

BERLINALE 2021 – TAG 2

Alles anders – diesmal gibt es (zum ersten Mal) keine einzige US-amerikanische Produktion im Wettbewerb. Dafür einen Film mit den Worten „Sau“ und „Porno“ im Titel, das ist Entschädigung genug.

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TERMÉSZETES FÉNY

Der ungarische Regisseur Dénes Nagy erzählt eine winterliche Geschichte aus dem Zweiten Weltkrieg. „Natural Light“ ist ein filmisches Gemälde, schlammfarben, fahl und stimmungsvoll. Ein Film über wortkarge Soldaten im Wald, die von einem moralischen Dilemma ins nächste geraten. Schwere Kost für die Sichtung am heimischen Computer, so was gehört ins dunkle Kino auf die große Leinwand. Meanwhile wächst die Sehnsucht nach leichter Unterhaltung.

Englischer Titel „Natural Light“
Ungarn / Lettland / Frankreich / Deutschland 2020
103 min
Regie Dénes Nagy

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BABARDEALĂ CU BUCLUC SAU PORNO BALAMUC

„Schlampe!“, die Empörungswelle der Eltern schlägt hoch. Ein Video, das eine junge Lehrerin beim Sex mit ihrem Ehemann zeigt, ist viral gegangen. Kein echter Skandal, eher eine private Peinlichkeit. Doch schon Dirty Harry wusste: Meinungen sind wie Arschlöcher, jedermann hat eins. Das trifft in einer von Social-Media verzerrten Welt umso mehr zu. Jeder kann alles sagen, posten und kommentieren, die nächste große Verschwörungstheorie lauert schon um die Ecke.
„Bad Luck Banging or Loony Porn“, so der englische Titel, zeichnet ein düsteres Bild von unserer modernen, übersexualisierten Gesellschaft.  In drei Kapiteln – deprimierend und lustig zugleich – hält Regisseur Jude seinen rumänischen Mitbürgern gnadenlos den Spiegel vors Gesicht.

Englischer Titel „Bad Luck Banging or Loony Porn“
Rumänien / Luxemburg / Kroatien / Tschechische Republik 2021
106 min
Regie Radu Jude

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ALBATROS

Étretat, eine malerische Gemeinde in der Normandie: Laurent (ausgezeichnet: Jérémie Renier) ist Vorgesetzter einer Polizeieinheit und hat täglich vom Versicherungsbetrug über Kindesmissbrauch bis zum Mopedfahren ohne Helm mit einem bunten Programm an Delikten zu tun. Als er einen verzweifelten Landwirt vom Selbstmord abhalten will, kommt es zur Katastrophe.

Gleich zu Beginn gibt es eine Szene, die als Omen für das Schicksal von Laurent gedeutet werden kann: Ein lebensmüder Mann springt vom Felsplateau und kracht in eine gerade am Strand stattfindende Fotosession. Gerade noch banale Normalität, die urplötzlich zerstört wird. So stark die erste Hälfte mit den Alltagsbeschreibungen der Polizisten, so einschläfernd die zweite. Nachdem die Tragödie geschehen ist, switcht der Film in eine seltsam melancholische „Der Mann und das Meer“-Studie, die in einem schalen Happy End ausfranst.

Englischer Titel „Drift Away“
Frankreich 2020
115 min
Regie Xavier Beauvois

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INTEURODEOKSYEON

Da setzt der erste Kopfschmerz ein: Der neue Film von Hong Sang-soo sieht aus, als wäre er auf U-Matic Lowband mit einer Kamera gedreht worden, bei der das Auflagemaß nicht richtig eingestellt ist. Zu sehen sind Koreaner, die viel rauchen – in Korea und an Berlins hässlichstem Ort, dem Potsdamer Platz. Ist schwarz/weiß und nur 66 Minuten lang – muss Kunst sein.

Englischer Titel „Introduction“
Republik Korea 2020
66 min
Regie Hong Sang-soo

ENCOUNTERS

THE SCARY OF SIXTY-FIRST

Über Verstorbene soll man nichts Schlechtes sagen – eine Empfehlung, die Regisseurin Dasha Nekrasova herzlich wenig juckt. Das Debüt der Podcast-Moderatorin ist eine Abrechnung mit dem Milliardär Jeffrey Epstein – und gleichzeitig eine Reminiszenz an die grobkörnigen Psycho-Horror-Filme der 1970er-Jahre. „The Scary of Sixty-First“ besticht durch seinen handgemachten (um nicht zu sagen amateurhaften) Independent-Look. Krude, wirr und trotzdem einigermaßen unterhaltsam.

USA 2020
81 min
Regie Dasha Nekrasova

PANORAMA

LE MONDE APRÈS NOUS

Die Welt nach uns – nein, das ist keine apokalyptische Zukunftsvision, sondern der Titel von Labidis Erstlingsroman. Als sich der bitterarme Jung-Schriftsteller in die niedliche Schauspielschülerin Elisa verliebt, träumt er von der großen Liebe. Sehr entspannt erzählt Louda Ben Salah-Cazanas in seinem Spielfilmdebüt von einer jungen Migranten-Generation in Frankreich, hin- und hergerissen zwischen dem Kampf ums banale Überleben und der großen Sehnsucht nach mehr. Lieben, leben, rauchen – très français.

Englischer Titel “ The World After Us“
Frankreich 2021
85 min
Regie Louda Ben Salah-Cazanas

PERSPEKTIVE DEUTSCHES KINO

DIE SAAT

Rainer ist Bauarbeiter und muss mit seiner Familie aufs Land ziehen, die Stadt ist zu teuer geworden. Seine 13-jährige Tochter Doreen lernt dort Mara kennen, die keinen guten Einfluss ausübt und ihre neue Freundin sogar zum Diebstahl verführt. Auch bei Rainer auf der Arbeit läuft es zunehmend  schlechter. Als sein neuer Vorgesetzter einen älteren Mitarbeiter feuert, brennen bei Rainer die Sicherungen durch. Eine Familie unter Druck: Hanno Koffler, Anna Blomeier und Dora Zygouri spielen die Kleinfamilie im zweiten Spielfilm von Mia Maariel Meyer. Das Drehbuch zu diesem intensiven und sehenswerten Familiendrama hat die Regisseurin gemeinsam mit Hauptdarsteller Hanno Koffler geschrieben.

Englischer Titel “ The Seed“
Deutschland 2021
100 min
Regie Mia Maariel Meyer

BERLINALE 2021 – TAG 1

Kurzes Jammern: Buhuhu – Die Berlinale findet in diesem Jahr nur im Wohnzimmer statt, wenigstens der erste Teil, das sogenannte „Industry Event“. Keine große Leinwand, kein Gruppenerlebnis, keine schlechten Snacks im Foodcourt. Dafür muss man sich nicht mehr schamvoll aus dem Kino schleichen, sondern kann einfach vorspulen, wenn es zu langweilig wird.
Das große Publikumsfestival folgt im Juni – dann hoffentlich ohne Coronaeinschränkungen.

WETTBEWERB

ICH BIN DEIN MENSCH

Frauen arbeiten in deutschen Berlinale-Beiträgen offenbar gerne im Museum: Letztes Jahr gab Paula Beer als Undine die Historikerin, diesmal arbeitet Maren Eggert als Alma am Pergamonmuseum. Um Fördermittel zu ergattern, nimmt sie an einem außergewöhnlichen Experiment teil: Drei Wochen lang muss sie mit Tom (Dan „Downton Abbey“ Stevens), einem sehr menschlichen Roboter zusammen leben. Der soll sich dank KI in den perfekten Lebenspartner verwandeln. Doch einen guten Flirt zu programmieren, bleibt auch in dieser Zukunftsvision schwierig. „Deine Augen sind wie Bergseen, in denen ich versinken möchte.“ Mit Poesie aus der Mottenkiste kann Tom das verhärtete Herz von Alma nicht öffnen. Maria Schraders nicht uncharmanter Film mäandert zwischen theaterhafter Künstlichkeit und leisem, intelligentem Humor. Das ist unterhaltsam, packt aber nie so ganz.
„Ich bin dein Mensch“ ist einer von vier (!) deutschen Wettbewerbsbeiträgen, am Freitag gibt es noch „Herr Bachmann und seine Klasse“ zu besprechen. “Fabian oder Der Gang vor die Hunde” mit Tom Schilling und “Nebenan”, das Regiedebut von Daniel Brühl, stehen im Stream leider nicht zur Verfügung.

Englischer Titel „I’m Your Man“
Deutschland 2021
105 min
Regie Maria Schrader

WETTBEWERB

MEMORY BOX

Seit „Bridges of Madison County“ ein beliebter Drehbuchkniff: Die Kinder kramen in den Hinterlassenschaften der Eltern und finden dabei heraus, dass die auch mal ein Leben jenseits der bekannten Familienstrukturen hatten. „Memory Box“ ist eine Fortentwicklung, eine tiefer gehende, sozusagen 2.0-Version dieser Idee. Die libanesische Regisseurin und Künstlerin Joana Hadjithomas schickt zwischen 1982 und 1988, im Alter von 13 bis 18 Jahren ihrer besten Freundin regelmäßig Kassetten, Briefe und Fotos nach Frankreich. Sechs Jahre lang erzählen sich die Mädchen bis ins kleinste Detail von ihrem Leben. Die eine aus Paris, die andere aus dem libanesischen Bürgerkrieg. Aus dieser wahren Geschichte ist nun „Memory Box“ entstanden. In ihrem teils experimentellen Drama verbinden die Regisseurinnen dokumentarische mit fiktionalen und rekonstruierten Elementen zu einem visuell aufregenden Mix. Herausgekommen ist ein ergreifender und erkenntnisreicher Film, der sich mit den elementaren Fragen beschäftigt: Wie wichtig sind Erinnerungen? Wie beeinflusst die Vergangenheit die Gegenwart? Sehenswert.

Frankreich / Libanon / Kanada / Katar 2021
100 min
Regie Joana Hadjithomas, Khalil Joreige

ENCOUNTERS

Vị

Ein nigerianischer Mann lebt mit vier Vietnamesinnen in den Slums von Ho-Chi-Minh-City. Die Tage dröppeln so vor sich hin: Die meiste Zeit sind alle nackt, bereiten Speisen zu oder waschen sich gegenseitig. Einmal sitzt eine Schnecke auf dem Penis des Mannes. Zwischendurch essen er und sein Sohn Wassermelone im Videochat. 
Lê Bảos Erstlingswerk wirkt wie ein filmgewordenes Kunstprojekt und ist eine Kontemplation in Blau und Braun. Jedenfalls schön anzusehen.

Englischer Titel „Taste“
Vietnam / Singapur / Frankreich / Thailand / Deutschland / Taiwan 2021
97 min
Regie Lê Bảo

BERLINALE SPEZIAL

TIDES

Mad Max im Wattenmeer: Schreckliche Geheimnisse und schicksalhafte Entscheidungen – verpackt in einem Sci-Fi-Thriller mit Öko-Kritik – produziert vom Hollywood-Schwaben Roland Emmerich. Das lässt nichts Gutes erahnen.
Die Menschen haben die Erde endgültig kaputt gemacht. Deshalb fliehen ein paar Reiche auf den must-have-Planeten aller modernen Science-Fiction-Filme „Kepler“ (guter Hundename). Zwei Generationen später kehrt eine Gruppe Auserwählter zur mittlerweile überfluteten Erde zurück, denn da soll wieder Leben möglich sein.
Inhaltlich werden dicke Bretter gebohrt: Kolonialismus, Ausbeutung, das Brandschatzen der Erde, der Klimakollaps, das Ende des Patriarchats und natürlich der elendigliche Überlebenswille der Menschheit. Relativ rasch verflacht der Film zum konventionellen Gut-gegen-Böse-Drama mit absehbarem Ende. Dass „Tides“ trotzdem ganz okay geworden ist, liegt vor allem an der stimmungsvollen Kamera von Markus Förderer und der souveränen Regie von Tim Fehlbaum.

Deutschland / Schweiz 2021
104 min
Regie Tim Fehlbaum

SCHWESTERLEIN

Nina Hoss hätte bei der diesjährigen Berlinale eigentlich den silbernen Bären für die beste weibliche Hauptrolle verdient. Als Schwester(lein) des krebskranken Theaterschauspielers Sven entfaltet sie eine große Kraft, der ganze Film kreist um sie. Ihre Figur, die Autorin Lisa, muss sich gegen eine schier unendliche Flut an Dramen und Problemen stemmen: Ihre Mutter ist eine gefühlskalte Egoistin, ihr Ehemann will lieber Karriere in der Schweiz machen und der Regisseur ihres Bruders zweifelt an dessen Genesung und plant schon mal die nächste Spielzeit ohne ihn.

Nach „Undine“ (mit der tatsächlichen Gewinnerin des Bärens, Paula Beer) noch ein Märchen: „Hänsel und Gretel“ zieht sich als roter Faden durch den Film. Lisa schreibt ihrem Bruder eine Neuinterpretation der Grimm’schen Geschichte auf den Leib, gleichzeitig sind die verlorenen Kinder in der Gewalt der Hexe ein allzu offensichtliches Symbol für den Kampf der Geschwister gegen den Krebs.

„Schwesterlein“ changiert zwischen Illusion und überhöhtem Realismus. Thomas Ostermeier spielt – was sonst ? – den Regisseur, Lars Eidinger eine sterbenskranke Version des Schauspielers Lars Eidinger. Über so viel Nabelschau muss man erst mal hinwegsehen. Die Station des Sterbens werden fast artig abgehakt: der letzte besoffene Technotanz, der vermeintlich freiheitsbringende Paragliding-Flug, die hässlichen Krankenhausszenen mit viel Blut und piepsenden Maschinen. Das sind bekannte Bilder, da bewegt sich das Drama auf ausgetretenen Pfaden.

FAZIT

„Schwesterlein“ ist harte Kost. Als Film eher Mittelmaß, als Demonstration schauspielerischen Könnens eine Wucht.

Schweiz 2020
99 min
Regie Stéphanie Chuat und Véronique Reymond
Kinostart 29. Oktober 2020

alle Bilder © Weltkino Filmverleih GmbH

SCHLAF

Flugbegleiterin Marlene leidet unter wiederkehrenden Albträumen. Irgendwann schnappt sie über, verfällt in eine Art Schockstarre. Ihre Tochter Mona will helfen und macht sich auf die Suche in die Vergangenheit ihrer Mutter. In einem 70er-Jahre Dorfhotel namens Sonnenhügel findet sie irritierende Antworten.

In diesem Film wird viel gewürgt. Männer würgen Frauen, Frauen würgen Männer und manchmal würgen sich Menschen auch ganz alleine selbst. Klingt ein bisschen wie ein Edgar-Wallace-Streifen aus den 60ern. Für das verschwurbelte ZDF-Kleine-Fernsehspiel entschädigen nur die Schauspieler: Sandra Hüller als Marlene ist wie immer gut, hat hier jedoch fast nichts zu tun. Gro Swantje Kohlhof überzeugt als Tochter am Rande des Nervenzusammenbruchs. Marion Kracht und August Schmölzer spielen die Hotelbesitzer zwar schön zwielichtig, scheinen sich aber aus einem ganz anderen Film hierher verirrt zu haben.

Endlich mal wieder ein Vorurteil bestätigt: Deutsche können keine gescheiten Horrorfilme drehen! Es ist schon eine Kunst, einen Brei zu versalzen und gleichzeitig fade schmecken zu lassen. Das heillos überfrachtete Drehbuch bedient sich großzügig bei allerlei Genreklassikern wie „The Conjouring“ und „The Shining“, ohne etwas aufregend Neues daraus zu machen.

FAZIT

Heimathorror im Provinzhotel.

Deutschland 2020
102 min
Regie Michael Venus
Kinostart 29. Oktober 2020

alle Bilder © Edition Salzgeber

UNDINE

Die gute Nachricht: am 2. Juli machen die Kinos wieder auf!
Die schlechte: „Die Känguru-Chroniken“ feiern ihren re-release. So unoriginell wie der neue Titel „Die Känguru-Chroniken Reloaded“, so unoriginell ist die Idee, dem Film eine 3D-Einstellung hinzuzufügen. Framerate warnte bereits im März mit einem Stern vor der einfältigen Klamotte.

Ein um einiges intelligenteres Kinoerlebnis bietet der neue Film von Christian Petzold.
Undine (Paula Beer) lebt in Berlin, arbeitet als Stadthistorikerin. Als ihr Freund Johannes (Jacob Matschenz) mit ihr Schluss macht, teilt sie ihm lakonisch mit, dass sie ihn nun töten müsse. Kurz darauf 
begegnet sie dem Industrietaucher Christoph (Franz Rogowski), die beiden verlieben sich Hals über Kopf.

Undine ist eine mythologische Figur, eine Nymphe, die mit ihrem Gesang die Männer verzaubert. Eine Seele erlangt sie nur, wenn sie sich mit einem Menschen vermählt. Der Haken an der Sache: Untreue Gatten bringt sie um.

Christian Petzold dichtet den Mythos von der geheimnisvollen Wasserfrau zum modernen Märchen im heutigen Berlin um. Das funktioniert über weite Strecken erstaunlich gut. Der Film hat zugleich etwas Traumhaftes und Realistisches. Paula Beer verleiht der Figur Undine mit wassergewellten Locken eine rätselhafte Aura. Und keiner kann so überzeugend den leicht tumben und gleichzeitig sensiblen Arbeiter spielen wie Franz Rogowski.

„Undine“ ist ein hintergründiger, aber seltsam spröder Liebesfilm. Insgesamt eher eine zarte Fingerübung, ein nicht uninteressantes Experiment.

FAZIT

Der etwas andere Berlinfilm. Paula Beer gewann den silbernen Bären für die beste weibliche Hauptrolle bei der diesjährigen Berlinale.

Deutschland 2020
90 min
Regie Christian Petzold 
Kinostart 02. Juli 2020

Weekly Update 03 – diesmal mit *unbezahlter Werbung

Im zweiten Stock übt das unbegabte Kind seit drei Stunden die Titelmelodie von „Der Herr der Ringe“ auf der Trompete. Wer wird heute zuerst einen Schreianfall bekommen, der Junge oder seine Mutter? Oben rollt die Psychologin Weinfässer durch die Wohnung. Das macht sie jeden Tag, oft bis 3 Uhr morgens. So laut, dass man kein Auge zu macht. „ZU“ ist übrigens das Un-Wort des Jahres. Alles ist zu, außer den Augen. Auch die Kinos sind weiterhin zu. Vielleicht muss Framerate bald „die 5 besten Science-Fiction-Filme auf Netflix“ oder kurz und knapp irgendwelche Serien besprechen. Bis es hoffentlich nie so weit ist, gibts erstmal weitere VoD Neuerscheinungen und Brot.

Brot? Ja KOMMA Brot! Das allerbeste Brot der Stadt kann man derzeit in „Die Weinerei“, einem charmanten Weinladen in der Veteranenstraße 17, Berlin-Mitte kaufen. Mehl, Salz, Hefe, Wasser und viel Liebe: Mehr Inhaltsstoffe braucht es nicht. Innen saftig weich, außen eine herrlich dunkle Kruste. Knurps, fünf Sterne! *

Zum Preis von etwas mehr als zwei Broten (9,99 €) kann man ab sofort den Berlinale Gewinner 2019 „Synonymes“ streamen und tut dabei auch noch Gutes: Grandfilm teilt den Gewinn 50/50 mit den wegen Corona geschlossenen Independent-Kinos, die bisher die Filme des Verleihers gezeigt haben. Und der bereits letzte Woche erwähnte Club Salzgeber erweitert ab 09. April sein Portfolio mit dem mexikanischen Film „This is not Berlin“. *

SYNONYMES

Schlechter kanns für Yoav kaum laufen: Die Wohnung, in der er unterkommen soll, ist komplett unmöbliert und leer. Weil es so kalt ist, nimmt er erst mal ein Bad. Kaum in der Wanne, werden ihm alle seine Sachen gestohlen. Tom Mercier spielt Yoav, einen unzufriedenen jungen Mann, der aus Tel Aviv nach Paris flieht, um dort ein neues Leben zu beginnen. Er will seine Wurzeln kappen, nichts soll ihn an seine Vergangenheit erinnern. Yoav weigert sich, auch nur ein einziges hebräisches Wort zu sprechen. Sein ständiger Begleiter ist ein französisches Wörterbuch. So kommuniziert er mit den verschiedenen Menschen, die seinen Weg kreuzen. Wie er mit seinem niedlich-debil-geilen Gesichtsausdruck, französische Vokabeln brabbelnd, durch die Straßen von Paris irrt, erinnert er fast ein bisschen an Trash-König Joey Heindle, der sich verlaufen hat. 

Ein Pluspunkt des Films ist sein trockener Humor. Nervig dagegen ist das unüberhörbare Rascheln der Drehbuchseiten. Das Verhalten der Figuren dient oft nur der Geschichte, wirkt dadurch artifiziell und zu gewollt. „Synonymes“ basiert auf den eigenen Erfahrungen von Autor und Regisseur Nadav Lapidist. Eine Aneinanderreihung von Momentaufnahmen, manche geglückt, manche weniger. 

FAZIT

Die Berlinale-Jury entschied, „Synonymes“ sei der beste Films des Festivals 2019 und verlieh ihm den Goldenen Bären.

Originaltitel „Synonyms“
Frankreich / Israel / Deutschland 2019
123 min
Regie Nadav Lapid 
Ab sofort als VoD auf Grandfilms für 9,99 €

THIS IS NOT BERLIN

Ein Junge mit langen Haaren steht verloren inmitten einer heftigen Massenschlägerei. Der Blick geht ins Leere, er fällt in Ohnmacht. 

Mexiko City, 1986. Ein Außenseiter in der Schule, zu Hause nervt seine in Depressionen versunkene Mutter: der 17-jährige Carlos gehört nirgendwo richtig dazu. Das mit dem in Ohnmacht fallen ist zwar uncool, dafür ist er am Lötkolben ein Held. Der kleine Daniel Düsentrieb bastelt in seiner Freizeit die verrücktesten Maschinen zusammen. Als er den Synthesizer einer Band repariert und damit deren Auftritt rettet, wird er zum Dank mit in den angesagten Klub „Azteca“ genommen. Während ganz Mexiko der WM entgegenfiebert, entdeckt Carlos dort zusammen mit seinem besten Freund Geza die Welt der Subkultur: Video-Art, Punk-Performance, sexuelle Ambivalenz und Drogen. 
Klingt wie ein gewöhnliches Abendprogramm im Berlin der 80er Jahre. But this is not Berlin, it’s Mexiko! Wer hätte gedacht, dass es da vor 35 Jahren genauso wild und künstlerisch aufregend zuging, wie in der damals noch geteilten Hauptstadt? Die Underground-Kultur der Zeit haben Regisseur Sama und sein Kameramann Altamirano perfekt wieder zum Leben erweckt. Sexuell freizügige Nacktkunst-Aktionen und Jeder-mit-jedem-Herumgeschlafe sind erfrischend offen und unverklemmt inszeniert.

„This is not Berlin“ mischt sehr viel – ein bisschen zu viel – schräge Kunst mit einer etwas generischen Coming-Of-Age-Story über einen Jungen, dem die Augen für eine neue Welt geöffnet werden. Am Ende verstolpert sich die Handlung zu sehr in Klischees von Eifersucht und betrogener Freundschaft, das hätte es gar nicht gebraucht. Bis dahin ist „This is not Berlin“ ein unkonventioneller Film über Selbstfindung, Freundschaft, Liebe und das Erwachsenwerden.

FAZIT

Interessante Zeitreise in die 80er – wurde bereits auf mehreren Festivals ausgezeichnet.

Originaltitel „Esto no es Berlín“
Mexiko 2019
109 min
Regie Hari Sama
Spanische OF mit deutschen UT
Ab 09. April als VoD auf Club Salzgeber für 4,90 €

HIGHLIGHTS BERLINALE 2020 ● IRRADIÉS ● SHEYTAN VOJUD NADARAD

Das hat Framerate im Wettbewerbsprogramm 2020 am besten gefallen:
„Berlin Alexanderplatz“
„First Cow“
„Schwesterlein“ (schauspielerisch)
Und im Panorama:
„Shirley“
„Exil“

Der allgemeine Kritikerliebling „Never Rarely Sometimes Always“ war auch nicht schlecht, wenngleich die Rollenverteilung in grundböse Männer und gütige Frauen ein wenig zu plump war.

Das Fazit zur Berlinale: gleichbleibender Puls mit leichten Ausschlägen nach unten und nach oben.

Und sonst?
Aufgrund eines Betriebsausflugs ist es der Framerate-Redaktion leider nicht möglich, die letzten beiden Wettbewerbsbeiträge* zu sichten. Der Vollständigkeit halber gibt es wenigstens einen Copy/Paste-Auszug aus dem wie immer lyrischen Pressetext.
(*Nachtrag: NATÜRLICH hat „Sheytan Vojud Nadarad“ den goldenen Bären gewonnen, war ja klar…)

Schon am Montag, den 2. März geht’s bei Framerate mit „Der Unsichtbare“ weiter, einem sehr gelungenen Horrorthriller mit Elisabeth Moss.

IRRADIÉS

(Wettbewerb)

Pressetext: „Jede Tragödie ist einzigartig, doch die Wiederholung erzeugt jenes dumpfe Rauschen, vor dem es kein Entrinnen gibt. „Irradiés“ ist gemacht von Menschen, die körperliche und psychische Irradiationen von Krieg überlebt haben, und jenen ans Herz gelegt, die glauben, gegen solche immun zu sein.
„Irradiés“ ist kein Opus für die Kunstgalerie, sondern ein extremer, notwendiger Film, der mit unnachgiebiger Wucht in Auge und Herz dringt.“

Englischer Titel „Irradiated“
Frankreich / Kambodscha 2020
88 min
Regie Rithy Panh

SHEYTAN VOJUD NADARAD

(Wettbewerb)

Pressetext: „Die vier Geschichten, aus denen „Sheytan vojud nadarad“ besteht, sind Variationen über die Themen moralische Kraft und Todesstrafe. Sie fragen danach, bis zu welchem Grad individuelle Freiheit unter einem despotischen Regime und scheinbar unentrinnbaren Bedrohungen möglich ist. Mohammad Rasoulof verknüpft sie narrativ nur lose, dennoch sind sie auf unerschütterliche und tragische Art miteinander verbunden. Angesichts der organisierten Unterdrückung scheint es nur eine Wahl zu geben: zwischen Widerstand und Überleben. Trotzdem fordert uns jede der abrupt abbrechenden Geschichten auf, darüber nachzudenken, wie Männer und Frauen auch in solchen Situationen ihre Freiheit behaupten können.

Englischer Titel „There Is No Evil“
Deutschland / Tschechische Republik / Iran 2020
150 min
Regie Mohammad Rasoulof

RIZI ● CHARLATAN

Meist ist es ein älterer, korpulenter Herr im dunklen Mantel. Die Haare grau meliert, Schuppen auf den Schultern, Brille. Man steht vor dem noch verschlossenen CinemaXx, eingeklemmt zwischen hundert Wartenden. Es riecht nach ungelüftetem Wollpulli. Sobald sich die Türen öffnen, schiebt, drückt und drängelt der Mann, bis der Weg abgeschnitten ist. Auf der Treppe zum Saal bewegt er sich dann plötzlich zeitlupenlangsam – verständlich, denn die sms muss genau jetzt beantwortet werden. Das Ganze gibt es noch als Variation mit kleinwagengroßem Rucksack auf dem Rücken.

RIZI

(Wettbewerb)

Apropos älterer Herr: Achtung, SPOILER! Es folgt die komplette Handlung des Films „Rizi“.
Ein Mann hat Schmerzen. Er starrt in den Regen, nimmt ein Bad, geht zur Akupunktur. Ein jüngerer Mann bereitet in einem spartanisch eingerichteten Raum Speisen zu. Er putzt das Gemüse, heizt die Kohlen an.
Das alles wird in minutenlangen Einstellungen in Echtzeit gezeigt. Nach etwas 45 Minuten kommt Bewegung in die Sache. Allerdings nicht auf der Leinwand, sondern im Kino. Zuschauer flüchten aus dem Saal.
Der ältere Mann liegt inzwischen nackt auf einem Hotelbett. Der jüngere Mann massiert ihn. Man fragt sich besorgt, ob es eine 30- oder 90-Minuten-Behandlung wird. Dann, nach weiteren 10 Minuten der erlösende Schnitt. Ach nein, die Einstellungsgröße hat sich nur geändert, die Massage geht weiter, wird zum Happy End gebracht. Die beiden Männer gehen noch eine Kleinigkeit in einem Rote-Lampen-Laden essen. Das Leben geht weiter. Der Junge kocht Suppe, der Alte fotografiert Fische und schläft.

Nach 127 Minuten ein müder Interpretationsversuch: Einsamkeit in der Großstadt? Liebe ist käuflich?

Englischer Titel „Days“
Taiwan 2019
127 min
Regie Tsai Ming-Liang

CHARLATAN

(Berlinale Special Gala)

Ein bisschen Urin in einem Glas (transparent muss es sein!) gegen das Licht gehalten – und schon kann Jan Mikolášek eine Diagnose stellen. Ein paar Kräutermischungen zum Tee aufgebraut, Patient gesund, fertig! So ein Wunderheiler würde heutzutage Millionen verdienen, Mikolášek hat das Pech, in der Tschechoslowakei zur falschen Zeit zu leben. In den Jahren des Poststalinismus ist er den Machthabern ein Dorn im Auge, wegen eines konstruierten Verbrechens werden er und sein Assistent František vor Gericht gestellt.

„Charlatan“ erzählt zum einen die Lebensgeschichte eines Wunderheilers oder eben Scharlatans – kommt auf den Standpunkt an – und zum anderen eine Liebesgeschichte. Mikolášek und František waren beide mit Frauen verheiratet, führten aber jahrelang eine heimliche, homosexuelle  Beziehung.

Agnieszka Hollands Film ist ein konventionell gemachtes aber lehrreiches und halbwegs spannendes Biopic.

Tschechische Republik / Irland / Polen / Slowakische Republik 2020
118 min
Regie Agnieszka Holland

BERLIN ALEXANDERPLATZ ● THE ROADS NOT TAKEN ● DAU. NATASHA ● SUK SUK

Liebstes Fotoobjekt bei der Berlinale ist weder Sigourney Weaver noch Johnny Depp, sondern (Tusch!) der geschlossene Vorhang im Kino. Bevor er sich verlässlich zur nächsten Premiere öffnet, werden Hunderte Handys im Saal gezückt, um den wahlweise roten oder weißen Stofflappen digital zu verewigen. Die Bilder werden dann umgehend auf den üblichen sozialen Plattformen gepostet, schließlich sollen die Follower neidisch werden. Aber auf was genau? Jetzt mal ehrlich: Fotos von geschlossenen Vorhängen will keiner sehen! Dann doch lieber hübsche Dackelbilder…

BERLIN ALEXANDERPLATZ

(Wettbewerb)

„Berlin Alexanderplatz“ ist ein Film mit Eiern! Wäre Rainer Werner Fassbinder noch am Leben und würde Alfred Döblins Roman zum zweiten Mal verfilmen – vielleicht käme etwas ähnlich Aufregendes dabei heraus.

In fünf Kapiteln (plus Epilog) erzählt das Drama die düstere Geschichte vom Flüchtling Francis aus Westafrika. Im heutigen Berlin trifft er auf den durchgeknallten Drogendealer Reinhold und die Leben der beiden Männer verbinden sich zu einer verhängnisvollen Schicksalsgemeinschaft. Immer wieder versucht Reinhold, Francis für seine Zwecke einzuspannen, immer wieder widersteht er.  Als sich Franz (so hat ihn Reinhold inzwischen zwecks „Germanisierung“ getauft) in das Escort-Girl Mieze verliebt, verspürt er seit Langem so etwas wie Glück.

„Berlin Alexanderplatz“ wird spalten. Regisseur Qurbani wendet sich mit seiner Verfilmung nicht an die breite Masse. So wie es Menschen gibt, die Freude an einer 3-stündigen Volksbühnen-Inszenierung haben, so wird es (hoffentlich) auch Zuschauer geben, die diesen Film lieben. Andere, die nach 20 Minuten entnervt aus dem Kino fliehen, verpassen einen der interessantesten deutschen Filme der letzten Zeit.

Welket Bungué, Jella Haase, Joachim Król – durchweg großartige Schauspieler. Aber vor allem Albrecht Schuch als Reinhold stiehlt mit seiner Präsenz jede Szene. Der Film glänzt: Kamera, Schnitt, Musik, Ausstattung – das ist alles gekonnt, von höchster Qualität und packend inszeniert. Selbst an die in der Jetztzeit befremdlich wirkenden Dialoge – Qurbani lässt seine Figuren immer wieder Originalsätze aus dem Roman sprechen – hat man sich rasch gewöhnt. 

„Berlin Alexanderplatz“ ist Kunst, filmgewordenes Theater, kraftstrotzendes Kino. Ein ernst zu nehmender Anwärter auf den Goldenen Bären.

Deutschland / Niederlande 2020
183 min
Regie Burhan Qurbani

THE ROADS NOT TAKEN

(Wettbewerb)

Life is not fair. Wenn man wochenlang täglich mehrere künstlerisch wertvolle Arthouse-Filme sieht, wird man zwangsläufig irgendwann müde. Wäre Sally Potters ambitionierter Film doch nur zu Anfang der Berlinale gelaufen!

Leo hingegen ist am Ende – hilflos, sprachlos, apathisch. Er weiß nicht, wer er ist, seine sich liebevoll kümmernde Tochter Molly erkennt er auch nicht mehr. Plötzlich springt die Handlung: Leo ist mit Dolores in Mexiko verheiratet, beide trauern um ihren toten Sohn. Dann wieder ein Sprung: Leo als Schriftsteller auf einer griechischen Insel, der kein Ende für seinen Roman findet.

„The Roads Not Taken“ ist eine Montage verschiedener Parallelentwürfe eines Lebens, die Leo in seinem Kopf durchwandert. Sally Potter vermischt die verschiedenen Versionen, die Leo in sich trägt, mit der entglittenen Realität seines Daseins. Klingt verkopft? Ist es auch. Aber Javier Bardem spielt – was auch sonst? – grandios.

GB 2020
85 min
Regie Sally Potter

DAU. NATASHA

(Wettbewerb)

DAU? Was issn das eigentlich? Laut Google „die scherzhafte Abkürzung für dümmster anzunehmender Besucher“ Nein, das kann es nicht sein. Damen Armband Uhr? Das klingt auch nicht nach Kunst. 
Die ZEIT erklärte im Herbst 2018: „DAU ist der Titel eines Kunst-Größenwahn-Projektes, das aus 700 Stunden Filmrohmaterial besteht, aber weit mehr ist als ein Film, nämlich eine Lebensform, ein Realexperiment, eine Liveinstallation.“

DAU ist also so eine Art gigantisches „Big Brother“-Projekt. Im Falle des Wettbewerbsbeitrags „DAU. Natasha“ eine Simulation des totalitären Systems unter Stalin: Natasha und Olga arbeiten in der Kantine eines geheimen sowjetischen Forschungsinstituts. Hier treffen sich die Angestellten des Instituts und ausländische Gäste wie Luc Bigé. Mit ihm beginnt Natasha eine Affäre – das hat Konsequenzen.

Echte Schläge, echter Sex, echte Kotze – mit einem herkömmlichen Spielfilm hat Ilya Khrzhanovskiys DAU-Projekt wenig zu tun. Die improvisierenden Laiendarsteller geben einen ungeschönten Einblick in die menschliche Psyche. Das ist weniger spektakulär als erwartet, aber auch nicht uninteressant.

Deutschland / Ukraine / GB / Russland 2020
145 min
Regie Ilya Khrzhanovskiy + Jekaterina Oertel

SUK SUK

(Panorama)

Pak steht am Ende seines Berufslebens. Bei der Suche nach anonymem Sex trifft der Taxifahrer auf Hoi. Mit dem Pensionär beginnt er eine zärtliche Liebesaffäre.

Alt, verheiratet, Großvater und schwul. Und das in China, wo Homosexualität von Seiten der Familie und Gesellschaft immer noch stigmatisiert werden.

„Suk Suk“ basiert auf Oral-History-Aufzeichnungen. Die Diskriminierung und Isolation älterer Menschen wird feinfühlig und humorvoll dargestellt. Eine subtile, gut beobachtete Studie, die nur von ihrem kitschigen Soundtrack unterminiert wird.

Hongkong / China 2019
92 min
Regie Ray Yeung

DOMANGCHIN YEOJA ● FAVOLACCE ● NEVER RARELY SOMETIMES ALWAYS ● SCHLAF

Das passt ja: Morgens am Nordbahnhof scheint die Sonne, 10 Minuten später am Berlinale Palast grauer Himmel, es regnet. Der Potsdamer Platz hat sich in eine Ghost Town verwandelt. Meist gehörter Satz: „Also, ich war gestern in den Arkaden, das ist ja geisterhaft…“ Hier ist mittlerweile weniger los als zu Mauerzeiten. Deshalb die Aufforderung an alle Filmemacher, bevor der große Umbau losgeht: Nutzt die Kulisse und dreht eine Endzeit-Zombieapokalypse! Oder einen Gespensterfilm? Der kann nur besser als der deutsche Beitrag „Schlaf“ werden…

DOMANGCHIN YEOJA

(Wettbewerb)

?

Das kommt davon, wenn man um 7 Uhr beim batterieschwachen Wecker zu oft die Snooze-Taste drückt…verschlafen!
Dabei klingt der Text im Presseheft vielversprechend, wie eine filmische Fortsetzung des köstlichen Schlummers:
 
„Lange Einstellungen und ein dialog- und zoomlastiger Stil reduzieren alles auf die Essenz. Auch der Titel „Die Frau, die rannte“ bleibt mysteriös: Wer genau ist die Frau, die rannte? Wovor rennt sie weg und warum?“
 
War das nun ausgerechnet das lang ersehnte Highlight des schwachen Wettbewerbs 2020? Wir werden es erst bei der Preisverleihung erfahren…
 

Englischer Titel „The Woman Who Ran“
Korea 2019
77 min
Regie Hong Sangsoo

FAVOLACCE

(Wettbewerb)

„Kinder an die Macht!“ Der Forderung von Herbert Grönemeyer möchte man uneingeschränkt zustimmen, denn die Erwachsenen in „Favolacce“ sind dauerfrustriert und zu nichts zu gebrauchen. Die Mütter gescheiterte Existenzen, seltsam abwesend, sei es mental oder physisch. Die Väter allesamt unfähige Egomanen, denen das Hirn in die Hose gerutscht ist. Nur die Kinder haben Verstand, strahlen so etwas wie Freude und Unbeschwertheit aus. Doch das trügt, denn in der sengenden Sommerhitze einer Reihenhaussiedlung am Rande Roms entfaltet sich eine Katastrophe in Zeitlupe.

Der zweite Spielfilm der Brüder D’Innocenzo entwickelt eine starke Sogkraft, es wird böse enden, das ist zu spüren, und doch hofft man bis zuletzt auf Katharsis. Der Erzähler aus dem Off entschuldigt sich am Ende für das düstere Märchen – er hätte gerne von weniger deprimierenden Ereignissen berichtet. Verstörend.

Englischer Titel „Bad Tales“
Italien / Schweiz 2020
98 min
Regie Fabio + Damiano D’Innocenzo

NEVER RARELY SOMETIMES ALWAYS

(Wettbewerb)

Und noch mehr aus der toxischen Männerwelt: Die 17-jährige Autumn ist schwanger und will eine Abtreibung. Da das in ihrem Heimatkaff nur mit Einwilligung der Eltern geht, fährt sie mit ihrer Cousine nach New York.

Never, Rarely, Sometimes, Always – also: niemals, selten, manchmal, immer – zwischen diesen Antwortmöglichkeiten soll Autumn bei einem Multiple-Choice-Test in der Abtreibungsklinik wählen. Eine beklemmende, starke Szene, in der man zu verstehen beginnt, weshalb das Mädchen so schlecht gelaunt durchs Leben geht.

Eliza Hittmans Film folgt der inzwischen gängigen These, dass (fast) alle Männer Schweine und Frauen prima sind. Bis auf eine Figur verhalten sich die Männer in „Never Rarely Sometimes Always“ übergriffig und fies. Und selbst der einzige sympathische Kerl lässt sich geborgtes Geld mit einer Knutscherei vergelten.

Trotz des schwarz-weiß gezeichneten Weltbilds schaut man dem gut beobachteten, lakonisch erzählten Teenagerdrama  gespannt zu.

USA 2020
101 min
Regie Eliza Hittman

SCHLAF

(Perspektive Deutsches Kino)

Schon Tessa Horakh wusste: „Frauen können das eben nicht!“ In diesem Fall muss es richtigerweise heissen: „Deutsche können das eben nicht!“ Nämlich gescheite Horrorfilme drehen. Es ist schon eine Kunst, einen Brei zu versalzen und gleichzeitig fade schmecken zu lassen. Das heillos überfrachtete Drehbuch bedient sich großzügig bei allerlei Genreklassikern wie „The Conjouring“ und „The Shining“, ohne etwas Aufregendes daraus zu machen.

Flugbegleiterin Marlene leidet unter wiederkehrenden Albträumen. Irgendwann schnappt sie über und verfällt in eine Art Schockstarre. Ihre Tochter Mona macht sich auf die Suche und findet irritierende Antworten in einem 70er-Jahre Dorfhotel namens Sonnenhügel.

In diesem Film wird viel gewürgt. Männer würgen Frauen, Frauen würgen Männer und manchmal würgen sich Menschen auch ganz alleine selbst. Klingt ein bisschen wie ein Edgar-Wallace-Streifen aus den 60ern. Für das verschwurbelte ZDF-Kleine-Fernsehspiel entschädigen nur die Schauspieler: Sandra Hüller als Marlene ist wie immer gut, hat hier jedoch fast nichts zu tun. Gro Swantje Kohlhof überzeugt als Tochter am Rande  des Nervenzusammenbruchs. Und August Schmölzer spielt den Hotelbesitzer zwar schön zwielichtig, scheint sich aber aus einem ganz anderen Film hierher verirrt zu haben.

Englischer Titel „Sleep“
Deutschland 2020
102 min
Regie Michael Venus

EFFACER L’HISTORIQUE ● SCHWESTERLEIN ● SIBERIA ● EXIL ● PALAZZO DI GIUSTIZIA

Die dänische Gastronomin Victoria Elíasdóttir lädt am Ende der Berlinale zu gemeinsamen Abendessen in ihrem Pop-up-Restaurant. Diesmal kreiert sie ihr Dinner zum Thema Omega-3-Fettsäuren und Depressionen.
„At kindergarten we were (force)fed a tablespoon of liquid fish oil every morning. In a study they found that people who consumed more fish were less likely to experience the symptoms of depression.“
Eine hilfreiche Erkenntnis: Nach dem düsteren Deprifilm „Exil“ möchte man gleich beherzt in ein großes Fischbrötchen beißen.

EFFACER L’HISTORIQUE

(Wettbewerb)

Endlich gib’s mal was zu Lachen auf der Berlinale. Der französisch-belgische Wettbewerbsbeitrag „Effacer l’historique“ – was übersetzt „Lösche den Verlauf“ bedeutet – ist eine sehr komische Liebeserklärung an die analoge Welt. Passenderweise auf körnigem 16mm Film gedreht, macht sich die intelligente Komödie über die überbordende Digitalisierung unseres Alltags lustig. Dabei schrecken die Regisseure (zum Glück) auch nicht vor Albernheiten zurück. Drei fabelhafte Hauptdarsteller*innen (Blanche Gardin, Denis Podalydès und Corinne Masiero) spielen in den fein beobachteten, episodenhaften Szenen erwachsene Menschen, die mit den Tücken der Social-Media-Welt konfrontiert werden. „Effacer l’historique“ wirkt auf den ersten Blick wie die sehr gelungene Folge einer Sketch Show und ist in Summe daher vielleicht kein „richtiger Spielfilm“, macht aber dafür einen Heidenspaß.

Englischer Titel „Delete History“
Frankreich / Belgien 2019
110 min
Regie Benoît Delépine + Gustave Kervern

SCHWESTERLEIN

(Wettbewerb)

Was soll da noch kommen? Nina Hoss wird den silbernen Bären für die beste weibliche Hauptrolle gewinnen. Als Schwester(lein) des krebskranken Theaterschauspielers Sven entfaltet sie eine große Kraft, der ganze Film kreist um sie. Ihre Figur, die Autorin Lisa, muss sich gegen eine schier unendliche Flut an Dramen und Problemen stemmen: Ihre Mutter ist eine gefühlskalte Egoistin, ihr Ehemann will lieber Karriere in der Schweiz machen und der Regisseur ihres Bruders zweifelt an dessen Genesung und plant schon mal die nächste Spielzeit ohne ihn. Ein Stich ins Herz jedes Künstlers.

Nach „Undine“ noch ein Märchen: „Hänsel und Gretel“ zieht sich als roter Faden durch den Film. Lisa schreibt ihrem Bruder eine Neuinterpretation der Grimm’schen Geschichte auf den Leib, gleichzeitig sind die verlorenen Kinder in der Gewalt der Hexe ein allzu offensichtliches Symbol für den Kampf der Geschwister gegen den Krebs.

„Schwesterlein“ changiert zwischen Illusion und überhöhtem Realismus. Thomas Ostermeier spielt – was sonst ? – den Regisseur, Lars Eidinger eine sterbenskranke Version des Schauspielers Lars Eidinger. Über so viel Nabelschau muss man erst mal hinwegsehen. Die Station des Sterbens werden fast artig abgehakt: der letzte besoffene Technotanz, der vermeintlich freiheitsbringende Paragliding-Flug, die hässlichen Krankenhausszenen mit viel Blut und piepsenden Maschinen. Das sind bekannte Bilder, da bewegt sich das Drama auf ausgetretenen Pfaden.

„Schwesterlein“ ist harte Kost. Als Film eher Mittelmaß, als Demonstration schauspielerischen Könnens eine Wucht.

Englischer Titel „My Little Sister“
Schweiz 2020
99 min
Regie Stéphanie Chuat + Véronique Reymond

SIBERIA

(Wettbewerb)

Eine dicke nackte Frau tanzt in einer Höhle im Kreis und ruft dabei „I need a Doctor!“

Und noch ein Schauspielerfilm. Diesmal kann man Willem Dafoe als gebrochenen Mann bei seiner Reise ins Ich zuschauen. Muss man aber nicht. „Siberia“ ist ein anstrengender Wettbewerbsbeitrag, der besser im Forum aufgehoben wäre. Einziger Lichtblick: Landschaften mit jeder Menge Schnee. So was gab’s in Berlin gefühlt das letzte Mal vor 10 Jahren zu sehen.

Italien / Deutschland / Mexiko 2020
92 min
Regie Abel Ferrara

EXIL

(Panorama)

Deutschland im Sommer. Die Kamera klebt am verschwitzten Hemdkragen von Xhafer. Der Kosovo-Albaner lebt mit Frau und Töchtern in einem Reihenhaus, arbeitet als Pharmaingenieur. Könnte alles so bieder-schön integriert sein, würde sich Xhafer nicht gemobbt fühlen. Mails werden „versehentlich“ nicht weitergeleitet, die oft angemahnten Testergebnisse bleiben aus, es wird getuschelt, eines Tages hängt eine Ratte an seinem Gartentor. Sein diffuses Misstrauen gegen Kollegen, seine Frau und gegen sich selbst wächst, er steigert sich immer mehr in seinen Verfolgungswahn. Doch bald stellt sich die Frage: Ist Xhafer der Verfolgte oder ist er selbst die Bedrohung?

Hauptdarsteller Mišel Matičević gelingt es, den Charakter dieses zutiefst verunsicherten Mannes glaubhaft herauszuschälen. Sandra Hüller spielt ebenso überzeugend seine gepeinigte Ehefrau. Nach „Toni Erdmann“ würde man der hochkarätigen Schauspielerin gerne mal wieder eine etwas leichtere Rolle wünschen, denn komödiantisches Talent besitzt sie zweifellos. 

„Exil“ tut weh. Giftige Ockertöne und Düsternis erzeugen eine stete Beklemmung. Das Sezieren der Psyche des Protagonisten muss man aushalten können. Verlorene Heimat, ausgeschlossen sein, Integration – „Exil“ berührt viele Themen und hängt noch lange nach. Eine düsterer Alptraum, Paranoia als Film.

Englischer Titel „Exile“
Deutschland / Belgien / Kosovo 2020
121 min
Regie Visar Morina

PALAZZO DI GIUSTIZIA

(Generation 14plus)

Chiara Bellos kommt eigentlich aus der Dok-Filmszene, das merkt man ihrem Spielfilmdebut deutlich an. Die Regisseurin ist weniger an einer stringenten Geschichte, als vielmehr an Beobachtungen ihrer Figuren interessiert. Dieser fast dokumentarische Ansatz schafft Intimität und macht den Reiz von „Palazzo di Giustizia“ aus.

Im Flur vor einem Gerichtssaals sitzen sich zwei Mädchen gegenüber. Der Vater der kleinen Luce ist ein Räuber, der Vater der älteren Domenica hat den Kumpel des Räubers auf der Flucht erschossen. Während drinnen der Prozess läuft, langweilen sich die Mädchen zusehends. Luce beginnt ihre Umgebung zu erforschen. 

Der Generation 14plus-Beitrag ist eine langsam erzählte, fast sachliche Mischung aus Charakterstudie, Gerichts- und Jugendfilm.

Englischer Titel „Ordinary Justice“
Italien / Schweiz 2020
84 min
Regie Chiara Bellos

THE ASSISTANT ● UNDINE ● TODOS OS MORTOS ● FUTUR DREI ● LAS NIÑAS ● LUA VERMELLA ● SHIRLEY

Ein Hinweis an alle Eulen und Uhus in Reihe 1 bis 10: Lautes Flüstern nervt! Egal in welcher Sprache. Es nervt in der Sauna, im Kino noch mehr. Und: Auch wenn ihr eure Handys noch so nah vors Gesicht haltet, das Licht stört die anderen trotzdem. Daher: Handy aus, Schnabel zu.

THE ASSISTANT

(Panorama)

Nach „My Salinger Year“ ein weiterer Film über die stillen Leiden der Assistenten. Diesmal geht es jedoch weniger kuschelig zu, „The Assistant“ ist harter Realismus. Harvey Weinstein wird zwar namentlich nie erwähnt, doch es ist relativ schnell klar, auf wen Regisseurin Kitty Green hier anspielt.

Jane ist morgens die Erste und abends die Letzte im Büro eines mächtigen Medienmoguls. Reisen organisieren, Termine buchen, das Büro aufräumen, die wütende Gattin am Telefon beruhigen – Janes Tag ist vollgepackt. Als immer wieder junge Frauen bei ihrem Chef ein- und ausgehen, will sie nicht länger wegschauen, sie vermutet Missbrauch. Sie vertraut sich einem Kollegen an, doch der bügelt ihre Bedenken ab. Das System funktioniert. Die (männlichen) Mitarbeiter diktieren ihr sogar den Wortlaut einer Entschuldigungsmail in den Computer. 

Dieser Film gehört Hauptdarstellerin Julia Garner. Wie sie mit reduzierter Mimik Angst, Zweifel und stille Wut ausdrückt, ist beeindruckend. „The Assistant“ erzählt in streng komponierten Bildern eine  Geschichte vom Wegschauen und von Repression am Arbeitsplatz. Die Handlung spielt vor #MeToo – ob sich inzwischen viel geändert hat, ist fraglich.

USA 2019
90 min
Regie Kitty Green

UNDINE

(Wettbewerb)

So, jetzt wird mal mit angelesenen Hintergrundinformation geprotzt: Undine ist eine mythologische Figur, eine Nymphe, die mit ihrem Gesang die Menschen verzaubert. Eine Seele erlangt sie nur, wenn sie sich mit einem Menschen vermählt. Der Haken an der Sache: Untreue Gatten bringt sie um.

Dieses Wissen hilft, Christian Petzolds neuen Film „Undine“ besser zu verstehen. Der Regisseur dichtet den Mythos von der geheimnisvollen Wasserfrau zum modernen Märchen im heutigen Berlin um. Das funktioniert erstaunlich gut. Der Film hat zugleich etwas Märchenhaftes und Realistisches. Paula Beer verleiht der Figur Undine mit wassergewellten Locken eine somnambule Aura. Und keiner kann so überzeugend den leicht tumben und gleichzeitig sensiblen Arbeiter spielen wie Franz Rogowski.

„Undine“ ist eher eine Fingerübung, ein interessantes Experiment, der etwas andere Berlinfilm. Regisseur Petzold übertreibt’s zwischendurch ein wenig mit der platten Symbolik – insgesamt ist ihm zwar ein zarter Liebesfilm aus dem Hier und Jetzt gelungen, es bleibt aber seltsam spröde.

Deutschland 2020
90 min
Regie Christian Petzold 

TODOS OS MORTOS

(Wettbewerb)

Frauen stehen im Mittelpunkt des brasilianischen Films „Todos os mortos“. Brasilien 1899, kurz nach Abschaffung der Sklaverei. Die drei Frauen der Soares-Familie stehen am Rand des Ruins und versuchen, sich mühsam an die neuen Verhältnisse anzupassen. Die Mutter ist vom alten Schlag, lässt sich immer noch gerne bedienen. Ihre beiden Töchter, die eine Nonne, die andere eine verwirrte Pianistin, sind auch keine große Stütze. Parallel wird die Geschichte der Nascimento-Familie erzählt, ehemals Sklaven der Soares.

Das hätte was werden können, denn das Thema ist eigentlich interessant. Schade nur, dass der Film wie eine langatmige Telenovela für Intellektuelle wirkt. Fehlt nur noch die dramatische Musik kurz vor der Werbepause. „Todos os Mordes“ läuft rätselhafterweise im Wettbewerb und gewinnt bestimmt den goldenen Bären.

Englischer Titel „All the Dead Ones“
Brasilien / Frankreich 2020
120 min
Regie Caetano Gotardo

FUTUR DREI

(Panorama)

4 Sterne für die Story plus 2 Sterne für die künstlerische Ambition = 3 Sterne für „Futur Drei“
Parvis ist der Sohn iranischer Einwanderer in Niedersachsen. Er verbummelt sein Leben zwischen Tanzen gehen, jobben und anonymen Grindr-Dates (dem Gay-Equivalent zu Tinder). Als er in einem Flüchtlingsheim Sozialstunden ableisten muss, verliebt er sich in Amon, der mit seiner Schwester aus dem Iran geflüchtet ist. Die drei verbindet bald eine intensive Freundschaft und Beziehung.

Wie viele Panorama-Beiträge in diesem Jahr erzählt auch „Futur Drei“ von Heimat und Ausgrenzung, diesmal im queeren Milieu. Obwohl Parvis‘ Familie seit vielen Jahren in Deutschland lebt, hat sie sich nie wirklich integriert. Parvis dagegen fühlt sich deutsch und nicht als Iraner – ein interessanter Zwiespalt. 

Die ersten zwei Drittel des Films sind spannend und geben einen angenehm unklischeeigen Einblick. Gegen Ende hat dann wohl irgendwer beschlossen, dass es „künstlerisch“ werden muss. Diese eher wahllos eingestreuten Vignetten hätten für sich genommen vielleicht einen ambitionierten Kurzfilm ergeben. Doch das gewollt Experimentelle fügt sich nicht in die bis dahin präzise und geradlinige Erzählung. Schade, es wäre sonst ein richtig guter Film geworden. 

Englischer Titel „No Hard Feelings“
Deutschland 2020
92 min
Regie Faraz Shariat

LAS NIÑAS

(Generation Kplus)

Celia muss schweigen. Im Chor darf sie nur die Lippen bewegen, ihre Mutter hat keinen Nerv für die Fragen und Nöte der Tochter und in der konservativen Nonnenschule soll sie auch schön artig sein. Erst Brisa, die neue Mitschülerin aus Barcelona, weckt die Rebellin in Celia. Das bisher so artige Mädchen beginnt, unbequeme Fragen zu stellen.

Nicht umsonst läuft Pilar Palomeros Debut im Rahmen der Generation Kplus. „Las Niñas“ verlangt seinen Zuschauern ab, sich ganz und gar auf die Welt der Heranwachsenden einzulassen. Langes, stilles Brüten, Schminkversuche mit den Freundinnen, unbeholfene Flirts mit einem Jungen oder die erste Zigarette. Für Menschen jenseits der 18 gibt es ein paar gelungene Momente und quälende Erinnerungen an die eigene Jugend, aber wie bei der Pubertät wünscht man sich bald, dass das Ganze ein Ende hat.

Englischer Titel „Schoolgirls“
Spanien 2020
97 min
Regie Pilar Palomero

LUA VERMELLA

(Forum)

Auch für anstrengende Experimentalfilme ist auf der Berlinale Platz: Ein Stausee, eine schroffe Küstenlandschaft, tosendes Wasser. Menschen wie zu Säulen erstarrt, den Blick nach unten gerichtet. Ihre Gedanken als innerer Monolog gesprochen. Nach und nach werden sie mit weißen Tüchern abgedeckt, verstummen. Wie Gespenster stehen die Bewohner eines galicischen Küstenortes in der Gegend herum. Der Pressetext erklärt: „Die fragmentarische Erzählung lotet das Verhältnis zwischen Mensch und Umwelt aus.“ Aha. Das ganze Spektakel dauert geschlagene 84 Minuten und ist wohl Kunst. Ermüdend.

Englischer Titel „Red Moon Tide“
Spanien 2019
84 min
Regie Lois Patiño

SHIRLEY

(Encounters)

Noch schnell ein Nachschlag, jetzt mal wirklich kurz und knapp:
1964, Horrorautorin Shirley Jackson und ihr Ehemann, der Literaturkritiker und Collegeprofessor Stanley Hyman beherbergen ein junges Ehepaar, Fred und Rose Nemser. Was sich zwischen den vier Personen entwickelt und entlädt, kann man am ehesten als „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“ mit Verzögerung beschreiben. Die Schauspieler sind alle grandios, mit einer herausragenden Elisabeth Moss – eindringlich und mit erschreckendem Mut zur Hässlichkeit.

USA 2020
106 min
Regie Josephine Decker

FIRST COW ● LES SEL DES LARMES ● DEATH OF NINTENDO ● SEMINA IL VENTO ● SUNE – BEST MAN

„Wie ist dieses Jahr eigentlich das Motto der Berlinale?“ Fragt ein aufmüpfiger rbb-Reporter bei der ersten Pressekonferenz im Januar „Unter Kosslick hat sie immer eins gehabt!“. Kein Wunder, dass Carlo Chatrian patzig wird: „Wenn Sie unbedingt ein Motto brauchen, bitte, dann überlegen wir uns eins, nur für Sie!“ Bis jetzt ist keins erkennbar…vielleicht „Kino trotz Corona“? Überall hustet und schneuzt es im Saal. Das must have in diesem Jahr: Mundschutz mit Berlinale-Bär.

FIRST COW

(Wettbewerb)

„First Cow“ – Was wie der CIA-Codename für Melania Trump klingt, ist in Wahrheit die heitere Geschichte von Cookie, dem sensiblen Koch und seinem Freund, dem Chinesen King-Lu. Im 19. Jahrhundert kommen die beiden auf die glorreiche Idee, im Wilden Westen Schmalzgebäck zu verkaufen. Ein garantierter Hit. Blöd nur, dass sie die Hauptzutat für den Teig nachts bei der einzigen Kuh im Ort heimlich abmelken müssen. Die Kuh gehört ausgerechnet dem Bürgermeister, ein Diebstahl mit fatalen Folgen…

Jede Berlinale hat ihren eigenen „Das Leben ist ein langer ruhiger Fluss“-Film. Im vergangenen Jahr war das „Out Stealing Horses“, in diesem Jahr heißt er „First Cow“.  Regisseurin Reichart hat eine authentische Wild-West-Geschichte gedreht, weit entfernt von jeglicher „Bonanza“-Romantik. Hier geht’s dreckig, ungewaschen und matschig zu. Lässt man sich auf die langsame Erzählweise ein und flieht nicht aus dem Kino (wie einige Zuschauer während der ersten halben Stunde), so wird man mit einem sanften, fast meditativen Wettbewerbsbeitrag belohnt. Die zärtlichen Gespräche, die Cookie während des Melkens mit der Kuh führt, gehören zum bisherigen Höhepunkt der Berlinale.

USA 2019
122 min
Regie Kelly Reichardt

LES SEL DES LARMES

(Wettbewerb)

Es müsste schon mit dem Teufel zugehen, wenn „Les sel des larmes“ nicht irgendeinen Preis abräumen würde. Schließlich hat letztes Jahr „Ich war zuhause, aber“ den silbernen Bären für die beste Regie bekommen – und der war ähnlich furchtbar.

Luc kommt nach Paris, um Kunstschreiner zu werden. Er begegnet einem Mädchen, die beiden haben eine unschuldige Affäre. Dann trifft er in seinem Heimatdorf auf eine Ex-Freundin, sie wird schwanger. Wieder zurück in Paris beginnt er eine Beziehung mit einer weiteren Frau. Das alles wird von einer stoischen Erzählerstimme zusammengehalten, man könnte der schlichten Geschichte aber auch mühelos ohne diesen Kunstgriff folgen. Ach ja, Lucs Vater spielt auch noch irgendwie mit.

„Das Salz der Tränen“ – da sollte der Titel schon zu denken geben. Damit der Zuschauer erkennt, dass dies Kunst ist, wurde in Schwarz-Weiß gedreht. Haben die bei der Nouvelle Vague damals ja auch so gemacht. Ab der Hälfte setzt bei der Vorführung (vermutlich) hämisches Gelächter ein. Der spärliche Schlussapplaus muss ironisch gemeint sein. 

Englischer Titel „The Salt of Tears“
Frankreich / Schweiz 2019
100 min
Regie Philippe Garrel

DEATH OF NINTENDO

(Generation Kplus)

Ob sich 10-Jährige von der etwas zähen Geschichte um drei Jungs und ein Mädchen ausreichend unterhalten fühlen? Bei der in den 1990er-Jahren verorteten Coming-of-Age-Geschichte geht es genregerecht um die Nöte der Pubertät, erste Liebe und nervige, überfürsorgliche Eltern. 

Der Figurenreigen besteht aus den üblichen Verdächtigen: Der Spielenerd, das angehimmelte Mädchen, der Bully und der Dicke. Szenenweise erinnert „Death of Nintendo“ an die NETFLIX-Serie „Stranger Things“, nur auf philippinisch und ohne Sci-Fi-Elemente. Leider aber auch ohne allzu große Spannung. Plätschert so dahin.

Philippinen / USA 2020
99 min
Regie Raya Martin

SEMINA IL VENTO

(Panorama)

Bäume sind in! Diesmal ist der heimliche Star kein deutscher Laubwald, sondern ein italienischer Olivenhain in Apulien. Der ist von blauen Käfern befallen und soll nach Willen des Besitzers abgeholzt werden. Als dessen Tochter Nica nach Jahren in ihr Heimatdorf zurückkehrt, ist sie erschüttert. Gegen den Willen ihres Vaters kämpft sie für den Erhalt des Olivenhains und das Fortsetzen der Familientraditionen.

Die kranken Bäume machen Geräusche wie unsereins, wenn er sich morgens ein Glas eiskalten Orangensaft auf nüchternen Magen reinkippt. Glucks. Daniel Caputo unterscheidet in seinem sanftem Ökodrama klar in gut und böse: Die Studentin der Agrarwissenschaft Nica, fast noch im Greta-Thunberg-Alter, begehrt gegen die Bösen auf. Ihr geldgieriger Vater ist beratungsresistent und hundsgemein (er serviert das Essen auf Plastikgeschirr!). Die Nachbarn, echte Umweltsäue, werfen große Müllsäcke achtlos aus dem Auto, das kennt man ja aus Brandenburg. Und zu allem Überfluss gibt es noch ein großes Stahlwerk, das nicht nur die Luft verpestet, sondern nachts giftige Gülle in dem idyllischen Olivenwald verklappt.

Das ist alles ein bisschen mit dem Holzhammer, aber wenigsten visuell ganz hübsch.

Englischer Titel „Sow the Wind“
Italien / Frankreich / Griechenland 2020
91 min
Regie Danilo Caputo

SUNE – BEST MAN

(Generation Kplus)

Schon wieder was gelernt: Sune ist in Schweden so was wie ein Nationalheld. Seine Bücher kennt jeder und der 2018 erschienene Film „Sune vs Sune“ war wochenlang auf Platz 1 der schwedischen Kinocharts. Nun feiert die Fortsetzung „Sune – Best Man“ auf der Berlinale Weltpremiere.

Der strohblonde Titelheld ist ein pfiffiges Kerlchen, kann sich jedoch nie für irgendwas entscheiden. Das liegt in der Familie, denn seine Mutter und sein Großvater leiden an der gleichen ewigen Unentschlossenheit. Als sich Sune zwischen einer bevorstehenden Klassenfahrt mit seiner Freundin und der Hochzeit seines Opas entscheiden soll, ist er hin- und hergerissen und gerät deshalb in zunehmend komplizierte Verstrickungen. Klassischer Fall von FOMA.

Lobenswert: Die Erwachsenen sind ausnahmsweise mal keine zweidimensionalen Karikaturen, wie sonst so oft in Kinderfilmen, sondern Menschen aus Fleisch und Blut. „Sune – Best Man“ hat Herz und Humor. Das macht ihn auch für Zuschauer jenseits der 10 zu einem Sehvergnügen. Sehr putzig!

Schweden 2019
88 min
Regie Jon Holmberg

ONWARD ● EL PRÓFUGO ● VOLEVO NASCONDERMI ● SA-NYANG-EUI-SI-GAN ● KIDS RUN ● H IS FOR HAPPINESS ● KØD & BLOD ● CIDADE PÁSSARO

Heute gibt’s acht (!!) Filme bei framerate. Wer soll das bitte alles lesen? Ganz ehrlich, das ist doch UNMENSCHLICH! Aber andere haben auch Sorgen, zum Beispiel Mariette Rissenbeek und Carlo Chatrian. Das Unheil beginnt mit der Wahl des Jurypräsidenten. Statt einer Frau oder wenigstens einer hippen Person of Colour wird es doch nur wieder ein alter weißer Mann. Als nächstes schließt einer der Hauptspielorte, das Cinestar im Sony-Center, seine Pforten. Das Cubix am Alexanderplatz ist da nur unzureichender Ersatz. Dann werden die Arkaden entkernt, nix mehr mit Shoppen oder einem Fischmäc zwischen den Vorführungen. Und zur Krönung kommt auch noch raus, dass der erste Berlinale-Chef Alfred Bauer ein Nazi war. Bitte Milde und Nachsehen mit der neuen Festivalleitung, die beiden haben’s wirklich nicht leicht.

ONWARD: KEINE HALBEN SACHEN

(Berlinale Special)

„Onward“ wirkt, als würde man ein Glas kalte Cola trinken, oder (gesünder) einen tiefen Zug frischer Luft tanken. Der Film läuft bei der Berlinale außer Konkurrenz und ist eine echte Erfrischung zwischen all dem verkopften Kunstkino.

Wie in einem großen Topf (oder hier passender: Kessel) hat Regisseur Dan Scanlon die Zutaten aus so ziemlich jedem erfolgreichen Fantasy-Film der letzten Jahrzehnte zusammengerührt: Harry Potter, Herr der Ringe, Gremlins, Drachenzähmen leicht gemacht, dazu ein bisschen Avatar und eine Prise Transformers. Aber was er aus diesem Brei gemacht hat, ist überraschend originell und schmeckt! Wie immer bei Pixar-Produktionen legt das Drehbuch großen Wert auf liebevoll ausgearbeitete Figuren. Die Vater-Sohn-Familien-Geschichte punktet besonders mit selbstironischen Seitenhieben auf die übertriebene Kommerzialisierung, wie sie Disney in seinen diversen Themenparks betreibt. Der Film hat Herz, guten Humor und natürlich eine Botschaft. Die ist zwar auch recycelt – sei Du selbst, dann kannst Du alles schaffen – aber wie das präsentiert und inszeniert wird, ist ausgemacht unterhaltsam.

Originaltitel „Onward“
USA 2019
112 min
Regie Dan Scanlon

EL PRÓFUGO

(Wettbewerb)

Inés leidet unter Albträumen. Kein Wunder, dass sie gestresst ist. Nach dem Selbstmord ihres Freundes beginnt sie Stimmen – nein – nicht zu hören, sondern zu erzeugen. Schlecht, wenn man als Synchronsprecherin arbeitet. Die Geisterstimmen verhunzen jeden Take im Aufnahmestudio. Doch dabei bleibt es nicht. Bald nehmen die Stimmen Gestalt an und dringen immer mehr in Inés Leben ein, Realität und Einbildung verschwimmen. Der Psycho-Thriller um Selbst- und Fremdwahrnehmung stellt die Frage, ob es zwischen Himmel und Erde vielleicht mehr gibt, als mit blossem Auge zu sehen ist.

„El Prófugo“ hätte man mehr Mut zum Wahnsinn gewünscht. Die interessante Idee vom Eindringen der Albträume in die Realität haben andere Filme schon deutlich spannender umgesetzt. Am Ende fragt man sich: Was hätte wohl David Cronenberg aus so einem Stoff gemacht?

Englischer Titel „The Intruder“
Argentinien / Mexiko 2020
90 min
Regie Natalia Meta

VOLEVO NASCONDERMI

(Wettbewerb)

Maunz! Fauch! Kreisch! Theo ist kaputt im Kopf. Als Kind von einem Lehrer als lebensunwürdig abgewertet, von den Mitschülern gequält und verspottet, wächst die Waise zu einem gestörten, beinahe animalischen Mann heran. Kein Wunder, dass er sich mit Tieren besser versteht als mit Menschen. Von Nervenheilanstalten zu Armenhäusern durchgereicht, findet er erst spät zu seiner künstlerischen Berufung als Maler.

Regisseur Giorgio Diritti schert sich wenig um konventionelles Filmemachen. „Volevo Nascondermi“ springt etwas zu episodisch durch das Leben des italienischen Ausnahmekünstlers Antonio Ligabue, dessen wahres Können (wie so oft) erst nach seinem Tod richtig gewürdigt wurde. Die Stimmung des Films folgt den Launen des Künstlers: zwischen Nervensäge und Genie wechselnd. Auf Dauer ist das mal anstrengend, mal großartig, mal quälend und mal komisch. So gesehen ein echter Festivalfilm.

Englischer Titel „Hidden Away“
Italien 2019
118 min
Regie Giorgio Diritti

SA-NYANG-EUI-SI-GAN

(Berlinale Special Gala)

Ein koreanischer Film auf der Berlinale? Da erwarten natürlich alle gleich einen zweiten „Parasite“.

Aber „Sa-Nyang-Eui-Si-Gan“ – für den Lesefluss im Folgenden der englische Titel „Time to Hunt“ – ist dann doch nur gut gemachtes Action-Kino.

Korea in der nahen Zukunft: Geld ist nichts mehr wert, die Straßen versinken im Müll. Jun-seok, gerade aus dem Knast entlassen, plant mit seinen drei Kumpels, eine illegale Spielbank auszurauben. Dumm nur, dass ihnen nach dem geglückten Raub ein eiskalter Berufskiller auf den Fersen ist.

Im ersten Drittel ein Heist-Movie, entwickelt sich „Time to Hunt“ anschließend zu einer extrem spannenden Katz- und Maus-Jagd. Doch wie so viele neuere Filme weiß auch dieser nicht, wann es genug ist. Nach einer nervigen, unendlich langen Schießerei im letzten Drittel hört und hört die Geschichte nicht auf. Da hätten gut 30 Minuten gekürzt werden können. Schade, denn bis dahin ist „Time to Hunt“ richtig gut.

Nur eine Frage der Zeit, bis Hollywood ein Remake davon macht.

Englischer Titel „Time to Hunt“
Korea 2020
134 min
Regie Yoon Sung-hyun

KIDS RUN

(Perspektive Deutsches Kino)

Oh weh. Deprimierender geht’s kaum. Das Modell der dysfunktionalen Familie wird hier auf die Spitze getrieben. Es ist einfach alles schrecklich – ein Leben nicht am Rande des Abgrunds, sondern am Boden.

Andi ist ein Looser, der seine Emotionen nicht im Griff hat und es nur mit Mühe und Not schafft, seine drei Kinder durchzubringen. Morgens hetzt er sie ohne Frühstück zum Schulbus, um anschliessend wiedermal aus einem seiner Tagelöhnerjobs zu fliegen. So hangelt er sich von einer schlecht bezahlten Arbeit zur nächsten, das Baby wird zwischendurch mit Erdnussflips gefüttert. Andi wittert eine letzte Chance, als bei einem Amateur-Boxturnier ein Preisgeld von 5.000 € ausgeschrieben wird.

Gegen „Kids Run“ sind Ken Loach-Filme geradezu Feel-Good Movies. Getragen wird diese düstere Studie in Assi von ihren herausragenden Darstellern: Jannis Niewöhner ist auch als kaputter Familienvater hot und seine beiden Filmkinder spielen erschreckend überzeugend.

Deutschland 2020
104 min
Regie Barbara Ott

H IS FOR HAPPINESS

(Generation Kplus)

Alles so süß und bunt hier. Candice Phee hat rote Haare und das Gesicht voller Sommersprossen. Die 12-jährige ist aufgeweckt und hilfsbereit, doch hinter der fröhlichen Fassade verbirgt sich eine Familientragödie. Dass sie keine Wiedergeburt von Pippi Langstrumpf ist, wird schnell klar. Mit Hilfe ihres neuen Freundes Douglas, der von sich glaubt, aus einer anderen Dimension zu kommen, versucht Candice das Glück in ihre Familie zurückzuholen. 

Auf Basis des Erfolgsromans „My Life as an Alphabet“ von Barry Jonsberg nähert sich Regisseur John Sheedy behutsam den Themen Tod und Trauer an.

Australien 2019
103 min
Regie John Sheedy

KØD & BLOD

(Panorama)

Die deutsche und die dänische Sprache sind sich nämlich gar nicht so ähnlich…was auf den ersten Blick wie der Titel eines Fetisch-SM-Films klingt, heisst wörtlich übersetzt ganz harmlos Fleisch + Blut.

Fleisch und Blut, das ist Familie. Die 17-jährige Ida lebt seit dem Unfalltod ihrer Mutter bei ihrer Tante und deren drei erwachsenen Söhnen. Schnell entpuppt sich die überfürsorgliche Matriarchin als kriminelles Oberhaupt, das gemeinsam mit ihren Jungs so eine Art Minimafia betreibt. Als der Clan mit der Polizei in Konflikt gerät, muss sich Ida zwischen Loyalität und ihrem eigenen Wohl entscheiden.

Der Film fängt ziemlich gut an: klar gezeichnete Figuren, mit wenigen Einstellungen werden Situationen und Gefühle skizziert. Doch je länger es dauert, desto mehr überträgt sich die mürrisch lähmende Haltung der Hauptfigur Ida auf den Zuschauer. Am Ende kaum zu glauben, dass das nur 88 Minuten waren.

Englischer Titel „Wasteland“
Dänemark 2019
88 min
Regie Besir Zeciri

CIDADE PÁSSARO

(Panorama)

Stärke liegt nicht in der Isolation, sondern in der Kommunikation. Leichter gesagt, als getan. Amadi reist aus Nigeria nach São Paulo, um seinen Bruder Ikenna zu suchen und bestenfalls wieder mit nach Hause zu nehmen. Leider spricht er kein Wort Portugiesisch, da gestaltet sich die Kommunikation mitunter etwas schwierig. Dass es die Universität, an der das Mathegenie angeblich als Professor lehrt, gar nicht gibt, hilft da auch nicht weiter. So entwickelt sich die Suche Amadis nach seinem verschollenen Bruder zu einer Entdeckungsreise durch den Hochhausdschungel.

Wahre Poesie gibt es nur in Pressetexten: „Der erste Spielfilm des brasilianischen Regisseurs Matias Mariani ist eine enigmatische, im 4:3-Format kadrierte Erkundung auf mehreren Ebenen.“

Oder weniger poetisch ausgedrückt: „Cidade Pássaro“ ist etwas zäh. Die Geschichte schleppt sich mühsam voran, die Suche nach dem Bruder wird zum Selbstfindungstrip Amadis – und das ist keine besonders spannende oder actionreiche Angelegenheit. 

Englischer Titel „Shine Your Eyes“
Brasilien / Frankreich 2019
102 min
Regie Matias Mariani

MY SALINGER YEAR ● MINAMATA ● LAS MIL Y UNA

Auch wenn das diesjährige Berlinale-Plakat aussieht, als sei ein minderbegabter Grafiker gestolpert und hätte eine Handvoll Zahlen und Buchstaben verschüttet – die Vorfreude ist trotzdem groß:
9 Tage lang Filme, Filme und nochmals Filme. Los geht’s!

MY SALINGER YEAR

(Berlinale Special Gala)

Der Berlinale-Eröffnungsfilm – seit Jahren eine Geschichte des Scheiterns. Und diesmal?

Die Figurenkonstellation erinnert auf den ersten Blick an „Der Teufel trägt Prada“: Die gestrenge Chefin, das naive Mädchen, der gütig-hilfsbereite Mitarbeiter, der nervige Boyfriend – alle sind dabei. Aber „My Salinger Year“ erzählt dann doch eine ganz andere Geschichte. New York, Mitte der 1990er-Jahre: Joanna  hat gerade ihr Studium in Berkley geschmissen, ist in die Großstadt gezogen. Von ihrem neuen Job als Assistentin der Literaturagentin Margaret (Sigourney Weaver, wie immer toll) hat sie zwar keine Ahnung, versucht aber ihr Bestes. In der Agentur dreht sich alles um den Kultautor J. D. Salinger. Joannas Hauptaufgabe ist es, dessen Fanpost zu beantworten. Doch eigentlich will sie lieber selbst Schriftstellerin werden. Weshalb sie dann nicht einfach schreibt, bleibt rätselhaft. Am Ende erkennt sie, dass sie sich von den Erwartungshaltungen anderer befreien und ihren eigenen Weg gehen muss. Amen.

„My Salinger Year“ ist einer dieser bequemen Romika-Schuh-Filme, die man sich am besten Sonntagnachmittags im Kino oder noch besser bei einer schönen Tasse Tee auf dem Sofa anschaut. Tut nicht weh, beleidigt nicht die Intelligenz des Zuschauers – nette Unterhaltung.

Kanada / Irland 2020
101 min
Regie Philippe Falardeau

MINAMATA

(Berlinale Special Gala)

Der Mensch ist böse. Schon lange vor Erin Brockovich haben Chemiekonzerne aus Profitgier die Umwelt mit ihren Abfällen vergiftet. „Minamata“ erzählt von solch einem Fall aus dem Jahr 1971. Der einst gefeierte Kriegsfotograf W. Eugene Smith (Johnny Depp) hat seine besten Tage hinter sich. Erst die Begegnung mit der Japanerin Aileen, die ihm von den verheerenden Auswirkungen einer Quecksilbervergiftung im japanischen Fischerdorf Minamata erzählt, weckt seinen alten Kampfgeist. Er kann den Herausgeber des Magazins „Life“ überzeugen, ihn nach Japan zu schicken, wo er der Geschichte auf den Grund gehen soll.

Johnny Depp spielt den von inneren Dämonen gequälten Fotografen zurückgenommen und glaubhaft. Das Anliegen des Films ist lobenswert, die Kameraarbeit herausragend, die Geschichte einigermaßen fesselnd – und doch bleibt „Minamata“ trotz emotional überbordender Musik über weite Strecken seltsam blutleer und distanziert. Genies haben auch mal einen schlechten Tag: Den nervigen Soundtrack hat Ryūichi Sakamoto komponiert, ein echter Minuspunkt.

GB 2020
115 min
Regie Andrew Levitas

LAS MIL Y UNA

(Panorama)

Iris ist 17, lesbisch und lebt in einer Sozialwohnungssiedlung irgendwo in Argentinien. Würde nicht den ganzen Tag die Sonne scheinen und aus den Radios brasilianische Musik quäken, könnte es aber ebenso gut Berlin-Marzahn sein. Alle um sie herum haben Sex, nur Iris nicht. Bis die selbstbewusste Renata die Bildfläche betritt – Iris verliebt sich. 
Die Coming-out und Coming-Of-Age-Geschichte ist langatmig erzählt, nur in wenigen Momenten entwickelt sich Charme. Regisseurin Clarisa Navas hat ihren Film fast dokumentarisch inszeniert. Ein bisschen erinnert „Las Mil Y Una“ damit an eine argentinische Version von Larry Clarks „Kids“, nur noch trübsinniger. Nach einer Stunde setzt das große Gähnen ein, kann aber auch an der schlechten Luft im überfüllten Kino gelegen haben. Gewinnt bestimmt den Teddy Award.

Englischer Titel „One in a Thousand“
Argentinien / Deutschland 2020
120 min
Regie Clarisa Navas

ARETHA FRANKLIN : AMAZING GRACE

Aretha Franklin nahm 1972, auf dem Höhepunkt ihrer Karriere gemeinsam mit dem Southern California Community Choir in Los Angeles ihr legendäres Album „Amazing Grace“ auf. Es wurde zum erfolgreichsten Gospelalbum aller Zeiten.

Dass dieser Film fast 50 Jahre nach seiner Entstehung doch noch in die Kinos kommt und dieses Jahr auf der Berlinale seine Premiere feierte, grenzt an ein Wunder. Heutzutage kann jeder Telefonbesitzer perfekt stabilisierte und farbkorrigierte 4K-Filme produzieren. Doch damals ließen sich nach den Dreharbeiten die Ton- und Bildaufnahmen nicht synchronisieren. Die technischen Möglichkeiten waren Anfang der 1970er-Jahre begrenzt. Später folgte ein Rechtsstreit mit Aretha Franklin.

Die nun vorliegende Version ist so, wie sie von Regisseur Sydney Pollack seinerzeit geplant war: ohne nachträglich eingefügte Interviews, kein Making-of, kein Schnickschnack – nur Bilder von einem mitreißenden Konzert.

FAZIT

Eine raue, handgemachte Doku. Für Fans ein Muss. 

Originaltitel „Amazing Grace“
USA 1972/2018
87 min
Regie Alan Elliott, Sydney Pollack
Kinostart 28. November 2019