BERLINALE 2023 – TAG 2

BERLINALE 2023 – TAG 2

Zeit für Pressetextpoesie:
„Patric Chiha versetzt das Paar aus Henry James‘ Kurzgeschichte „The Beast in the Jungle“ in den Club und kontrastiert sein schicksalhaftes Warten mit dem ultimativen Im-Moment-Sein und dem hedonistischen Begehren der Tänzer*innen, in immerwährenden Choreografien die Zeit aufzulösen.“ Die weniger lyrische Framerate-Kritik zu LA BÊTE DANS LA JUNGLE gibts weiter unten.

GENERATION

WANN WIRD ES ENDLICH WIEDER SO SEIN, WIE ES NIE WAR

Eine etwas andere Kindheit: Josse wächst auf dem Gelände einer psychiatrischen Klinik auf.  Für den jüngsten Sohn von Direktor Meyerhoff (Devid Striesow) gehören die körperlich und geistig Behinderten quasi zur Familie. Am besten schläft er, wenn er nachts die Schreie der Patienten hört. Tagsüber schließt er Blutsbrüderschaft mit seinem Hund und kommt dem Doppelleben seines Vaters auf die Spur.

Kann man die mittlerweile fünf autobiografischen Romane Joachim Meyerhoffs überhaupt verfilmen? Ja, man kann. Komisch, ergreifend, voll absurder Momente und Begebenheiten: Sonja Heiss hat die 70er-Jahre Stimmung des zweiten Bands der Lebenserinnerungen des Schauspielers punktgenau eingefangen. Dabei sind die Figuren nicht einmal so besetzt, wie man sich das vielleicht beim Lesen vorstellt. Aber dank der stimmigen Inszenierung und dem hervorragenden Spiel taucht man schnell in die Welt der Familie Meyerhoff ein. Die sehr gelungene Romanverfilmung ist im Nebenprogramm Generation fast ein wenig verschenkt. Einziger Wermutstropfen: Der Stoff hätte locker für eine Fernsehserie gereicht. Ganze viermal wechselt der Schauspieler des Josse vom Kind zum Teenager bis zum jungen Mann. Das geht dann doch ein bisschen zu schnell.

Deutschland 2023
116 min
Regie Sonja Heiss
Bild © 2022 Komplizen Film GmbH / Warner Bros. Entertainment GmbH / Frédéric Batier

WETTBEWERB

BLACKBERRY

Wer die Zukunft verpennt, hat keine. Der ehemalige Vorstandsvorsitzende eines großen deutschen Automobilkonzerns pflegte seinen Managern den Telefonhersteller Nokia als warnendes Beispiel für wirtschaftliche Ignoranz vorzuhalten. Irgendwann kam das erste Smartphone in den Handel und fegte die Finnen vom Markt. Nicht das iPhone, sondern das BlackBerry revolutionierte 1999 die Art, wie die Welt arbeitet, spielt und kommuniziert. Wer konnte schon ahnen, dass die kanadische Herstellerfirma RIM nur acht Jahre später von Apple vaporisiert wird.

Matt Johnson erzählt die Geschichte vom Aufstieg und Fall des BlackBerrys mit viel Witz und waschechten Nerds. Der unerbittliche Kampf um den Platz an der Spitze, die Arroganz und das fehlende Gespür für sich rasant weiterentwickelnde Technik – der Wettbewerbsbeitrag BLACKBERRY ist nicht nur ein spannender Wirtschaftskrimi, sondern vor allem eine sehr komische Gesellschaftssatire. Toll besetzt und dank leicht matschigen 16-mm-Looks ein authentischer Blick in eine Vergangenheit, die noch gar nicht so lange her ist, technisch aber steinzeitlich anmutet.

Kanada 2023
121 min
Regie Matt Johnson
Bild © Budgie Films Inc.

WETTBEWERB

THE SURVIVAL OF KINDNESS

Wüste, sengende Sonne, eine schmutzige Frau in einem Käfig. Das simpel gestrickte Hirn assoziiert sofort MAD MAX. Sollte sich tatsächlich ein Actionfilm ins Wettbewerbsprogramm verirrt haben? Aber nein, das ist die Berlinale. Und je Berlinale, desto absurder. Die Frau bricht aus dem Käfig aus, läuft durch verschiedene Landschaften, wird von Gasmasken tragenden Weißen gejagt und endet schließlich in einem dystopischen Industriegebiet.

THE SURVIVAL OF KINDNESS ist eine Parabel auf Rassismus. Oder auf die Historie der Menschheit. Man versteht es auch nach 96 Minuten nicht so recht. Wenigstens erzählt Regisseur Rolf de Heer seine Geschichte konsequent, ohne auch nur in die Nähe von mainstreamiger Unterhaltung zu kommen. Selbst die Dialoge sind artifiziell, mehr Laute und Grunzen statt Sprache. Ganz falsch war der MAD-MAX-Gedanke nicht: THE SURVIVAL OF KINDNESS ist ebenfalls eine Produktion aus Down Under.

Australien 2022
96 min
Regie Rolf de Heer
Bild © Triptych Pictures 

WETTBEWERB

Irgendwann werden wir uns alles erzählen

IRGENDWANN WERDEN WIR UNS ALLES ERZÄHLEN

Sommer 1990. Ein Bauernhof an der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze. Johannes hat für seine Freundin Maria und sich den Dachboden bei seinen Eltern zum kleinen Idyll gemacht. Maria liest Dostojewski, streift durch die Wiesen und widmet sich auch sonst dem süßen Nichtstun. Ihre Begegnung mit Henner, dem um einiges älteren Nachbarn, macht der Beschaulichkeit ein Ende. Eine tragische Liebe nimmt ihren Lauf.

IRGENDWANN WERDEN WIR UNS ALLES ERZÄHLEN gehört in die Kategorie Filme, bei denen schon nach wenigen Minuten klar ist, dass man sich weder für die Figuren noch ihre deprimierenden Probleme interessiert. Das hölzern gespielte Drama von der verbotenen Liebe verläuft ereignislos und zieht sich über 129 Minuten wie Kaugummi. Sehenswert sind in diesem ersten deutschen Wettbewerbsbeitrag einzig die sommerlichen Landschaften Ostdeutschlands. Fazit: Es gibt ihn noch, den typisch deutschen Problemfilm.

Deutschland 2023
129 min
Regie Emily Atef
Bild © Pandora Film / Row Pictures

May (Anaïs Demoustier) und John (Tom Mercier aus dem 2019-Berlinale-Gewinner SYNONYMES) begegnen sich in einem Club. Immer wieder – von den späten 70ern bis in die 2000er-Jahre. Disco geht, Techno kommt. Erst fällt die Mauer, dann fallen die Zwillingstürme in New York. May und John altern nicht, sprechen über eine „geheimnisvolle Sache“, die kommen wird. Alles sehr rätselhaft und unverständlich. Sind die beiden Vampire? Reisende durch die Zeit? Ist John der Tod? Wer will es wissen? Kommentiert wird die Geschichte der Liebenden von  Béatrice „Betty Blue“ Dalle als ewige Türsteherin des Clubs. Kunst aus Frankreich.

Frankreich / Belgien / Österreich 2023
110 min
Regie Patric Chiha
Bild © Elsa Okazaki

GENERATION

ZEEVONK

Lena ist sauer. Denn ein riesiges Seemonster hat ihren Vater getötet. Dass der Fischer mit seinen Kollegen einfach so auf hoher See Schiffbruch erlitten hat – undenkbar für das Mädchen. Mit ihren Freunden Kaz und Vincent macht sie sich auf die Suche nach Beweisen für ihre Theorie.

Das Seemonster als Sinnbild für den Tod, der bekämpft werden muss. Wie Captain Ahab jagt Lena den Feind. Das ist in seiner Symbolik ein bisschen dick aufgetragen. Emotional bleibt der holländische Generation-Beitrag dabei eher unterkühlt. Am Ende fließen die Tränen, doch bis es so weit ist, zieht es sich.

Belgien / Niederlande 2023
98 min
Regie Domien Huyghe
Bild © A Private View