DIE LETZTE FAHRT DER DEMETER

DIE LETZTE FAHRT DER DEMETER

Ab 17. August 2023 im Kino

„Demeter“ ist nicht nur eine Biomarktkette, sondern auch das Schiff, auf dem sich Graf Dracula von den Karpaten nach London transportieren ließ.

Die Seereise des untoten Blutsaugers wird in einem Kapitel des Bram-Stoker-Romans „Dracula“ eher nebenbei erzählt. In älteren Verfilmungen wird die Fahrt auf der Demeter deshalb meist mit dem kurzen Einblenden einer Land- und Seekarte, auf der eine rote Linie die Route anzeigt, abgehakt. Nun hatte Universal die Idee, daraus einen abendfüllenden Spielfilm zu machen. Und der ist ungefähr so gruselig wie eine Folge der Kinderhörspielserie „Draculino“.

Schlichtweg langweilig

Analoge Effekte, düstere Stimmung (man sieht kaum was), einer nach dem anderen stirbt – der norwegische Regisseur André Øvredal hatte laut eigener Aussage „ALIEN auf einem Frachter 1897“ im Sinn. Obwohl er alle Register des klassischen Horrorfilms von Dauer-Unwetter, huschenden Schatten und knarrendem Gebälk zieht, hat DIE LETZTE REISE DER DEMETER ein großes Problem: Sie ist schlichtweg langweilig. Es will trotz guten Stils keine Spannung aufkommen. Bis auf ein, zwei Schockeffekte setzt schnell das große Gähnen ein.

Die Universal-Studios geben nicht auf. Das immerhin muss man dem x-ten Versuch, ein „Dark Univers“ zu kreieren, zugutehalten. Nach dem legendären Flop THE MUMMY weckte die Low-Budget-Produktion THE INVISIBLE MAN kurz Hoffnung, aus den angestaubten 30er-Jahre-Filmmonstern doch noch eine erfolgreiche Crossover-Welt à la MCU zu schaffen. DIE LETZTE FAHRT DER DEMETER macht diesen Plan mit einem lachhaft schlechten Drehbuch wieder zunichtet. Schade um die guten Schauspieler, die hier alle hoffnungslos unterfordert bleiben.

Der Markt wird es richten – es wäre der größte Schocker, wenn der zahnlose Vampirfilm Erfolg an der Kinokasse hätte. Wem der Sinn nach echtem Horror auf einem Schiff im 19. Jahrhundert steht, dem sei die fantastische Miniserie THE TERROR empfohlen.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „The Last Voyage of the Demeter“
USA / Deutschland 2023
118 min
Regie André Øvredal

alle Bilder © Universal Pictures International Germany

BLACK BOX

BLACK BOX

Ab 10. August 2023 im Kino

ChatGTP, schreibe ein Drehbuch mit folgenden Themen: Gentrifizierung, Immobilienhaie, Alt-68er, Profitgier, Geldsorgen, Muslime, Asylanten, Corona-Pandemie, Mord, politischer Aktivismus, Tollwut, Sex, Polizeigewalt - brrr - zzzzp - spratzel - fertig ist das Drehbuch zu BLACK BOX.

Es beginnt symbolisch: Ein moderner Glas-Stahlcontainer senkt sich wie ein UFO an maroder Fassade vorbei in einen Berliner Hinterhof. Der Anfang vom Ende der Gemütlichkeit. Das Pop-up-Office soll Kaufinteressenten anlocken, die alteingesessenen Mieter sind entsetzt. Als am nächsten Morgen die Hofzugänge von der Polizei abgeriegelt werden, mehrfach der Strom ausfällt und sich die Gerüchte vom bevorstehenden Verkauf der Wohnungen verselbstständigen, kippt die Stimmung Richtung Ausnahmezustand.

Druck auf dem Kessel

Regisseurin und Drehbuchautorin Aslı Özge hat Druck auf dem Kessel. Die ganze Wut muss raus, am besten in einem Film. In BLACK BOX versteckt sich unter ungefähr zweihundert angerissenen Themen eine interessante Metapher auf unsere Gesellschaft: Der Mikrokosmos Hinterhof, stellvertretend für die Spaltung eines ganzen Landes. Hochkarätig besetzt, ausgezeichnet gespielt (unter anderem Luise Heyer, Felix Kramer, Christian Berkel, Jonathan Berlin, Anne Ratte-Polle) und souverän inszeniert.

Der ätzende Kampf zwischen Mietern und Vermietern hätte als Bild für das zerfallende Gemeinschaftsgefühl und das Auseinanderdriften demokratischer Strukturen gereicht. Aber es ist von allem viel zu viel. Schere im Kopf, mal anders: Wenn es der innere Editor schafft, all die thematischen Nebenschauplätze auszublenden, dann funktioniert BLACK BOX als ein interessantes Psychodrama aus Deutschland.

INFOS ZUM FILM

Deutschland 2023
120 min
Regie Aslı Özge

alle Bilder © Port au Prince Pictures

LOVE AGAIN

LOVE AGAIN

Ab 06. Juli 2023 im Kino

Flirten für Dummies. Reich werden für Dummies. BWL für Dummies. Schneckenzucht für Dummies. Von der berühmten US-Buchreihe gibt es mittlerweile unzählige Titel. Komplexe Themen einfach erklärt. LOVE AGAIN ist Romantic Comedy für Dummies.

Wenn zwischen zwei Verliebten im Café die Gespräche tief und die Blicke lang und intensiv sind, der Mann beim Rausgehen noch einmal schmachtend schaut – dann ahnt selbst der ahnungsloseste Zuschauer: Gleich passiert etwas Schlimmes. Und schon macht‘s Quietsch und Krach. Tot. Zwei Jahre später trauert Mira noch immer um ihre große Liebe. Eines besonders trüben Abends beschließt sie weinselig, ihrem toten Freund eine sms zu schicken. Die landet auf dem Handy von Rob, einem Musik-Journalisten, der gerade eine große Story über Céline Dion schreibt. Haha, dabei hört er privat viel lieber Rockmusik. Witzige Drehbuchidee. Wie die Liebesschnulze weitergeht, kann man sich denken.

LOVE AGAIN ist das US-Remake von SMS FÜR DICH

Wem das vage bekannt vorkommt – LOVE AGAIN ist das US-Remake des deutschen Kinoerfolgs SMS FÜR DICH von Karoline Herfurth. Allerdings macht die Neuverfilmung alles gründlich falsch. Aus einer charmanten Berlin-Komödie wird eine Romcom nach Schema F. F wie fad. Der größte Unterschied zum Original: LOVE AGAIN ist ein plumpes Werbevehikel für Céline Dion. Die spielt sich selbst und das gar nicht mal so gut. Die Sängerin verbrät ihre eigene tragische Liebesgeschichte und den Tod ihres Mannes, gibt öde Kalenderratschläge und singt ein paar Lieder.

Jede Wendung ist vorhersehbar, jede Emotion wird erklärt: Filmemachen für Dummies. Ein unglaubwürdiger Blödsinn, den man sich nicht einmal auf Netflix antun möchte. Vertane Zeit.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Love Again“
USA 2023
104 min
Regie Jim Strouse

alle Bilder © Warner Bros. Pictures Germany

DIE UNSCHÄRFERELATION DER LIEBE

DIE UNSCHÄRFERELATION DER LIEBE

Ab 29. Juni 2023 im Kino

Ein Film kann auf der Klaviatur der Gefühle vieles spielen: Angst, Freude, Erstaunen, Neugierde. DIE UNSCHÄRFERELATION DER LIEBE klimpert dagegen nur einen penetranten Ton und löst damit schwerste Genervtheit aus.

Ach Berlin, dicke Perle an der Spree, watt biste schön. Der Glockenturm im Tiergarten spielt nachts Erik Satie, Männer küssen sich auf der Friedrichstraße, glückliche Paare rollern zu zweit auf E-Scootern durchs Bild. Und der Britzer Garten ist ein menschenleeres Idyll an einem goldenen Herbsttag. Könnte alles so schön sein – wenn da nicht Greta wäre.

Es nervt

Die aufgedrehte Mittfünfzigerin gibt an einer Bushaltestelle dem Fleischermeister Alexander „versehentlich“ einen Kuss. Sie habe ihn mit ihrem verstorbenen Mann verwechselt. Nach dieser verwirrenden Erklärung heftet sie sich an die Fersen des bedauernswerten Singles und kaut ihm ein Ohr ab. Folgt ihm in die U-Bahn. Läuft ihm auf der Straße hinterher. Besucht ihn in seiner Metzgerei. Und quasselt dabei pausenlos Banalitäten, stellt übergriffige Fragen ohne Punkt und Komma. Wäre das verbale Dauerfeuer wenigstens charmant oder lustig. Aber es nervt. Sehr. Nicht nur Alexander, der einfach seine Ruhe haben will – sondern in erster Linie den Zuschauer.

Besonders bedauerlich ist die Verschwendung der guten Schauspieler. Vor allem um Burghart Klaußner ist es schade. Aber auch Caroline Peters hat man schon in anderen Rollen weitaus weniger nervtötend gesehen. Es muss also an der Regie liegen. Lars Kraume und sein Kameramann Jens Harant schaffen es nicht, die Vorlage von Simon Stephens inspiriert von der Theaterbühne zu lösen. Die Schauspieler stehen oft verloren nebeneinander und beten ihre Dialoge – oder vielmehr Monologe – herunter, als hätten sie eine Leseprobe am Theater. Der Funke springt nicht über und man wünscht sich von der ersten bis zur letzten Einstellung, Greta möge einfach die Klappe halten und den armen Alexander in Ruhe lassen. Nein, das anzusehen macht keinen Spaß und unterhaltsam ist das auch nicht. Und nein, da kommt nix mehr, außer: Schade um die schönen Fördergelder – nervigster deutscher Film seit langem.

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Deutschland 2023
89 min
Regie Lars Kraume

alle Bilder © X Verleih

SHE CHEF

SHE CHEF

Ab 18. Mai 2023 im Kino

Schon als Teenager wollte sie statt einer neuen Handtasche lieber eine Pastamaschine. Kann sich Agnes Karrasch ihren Platz in der Männerdomäne der Sterneküche erkämpfen?

Es bricht einem das Herz. Nur weil in China ein kranker Affe ins Essen spuckt, macht die verheißungsvolle Karriere der jungen Kochweltmeisterin Agnes eine Vollbremsung. Gerade arbeitet sie sich in Barcelona in die komplizierte Molekularküche des „Disfrutar“ ein, da wird die Welt dank Covid in die Knie gezwungen.

Perfektion erfordert klare Hierarchien. Oder?

SHE CHEF lebt vor allem von der leicht sperrigen und deshalb umso sympathischeren Agnes Karrasch. Nach einem Praktikum im Sternerestaurant Vendôme führen sie ihre Lehr- und Wanderjahre über Barcelona nach Dänemark. Melanie Liebheit und Gereon Wetzel begleiten die 25-jährige Österreicherin auf ihrem Weg zur Spitzenköchin. Dabei wird dem Zuschauer ein ungewöhnlich offener Blick hinter die Kulissen der Spitzengastronomie erlaubt. Dominiert wird diese Welt immer noch von Männern. Die clevere Agnes macht sich zwischendurch ihre ganz eigenen Gedanken zu Karriere, Familie und Frausein. Neugierig und selbstbewusst lernt sie von den Besten, um vielleicht irgendwann ein eigenes Restaurant zu eröffnen. 

Während unsereins vorne schlemmt und am Ende freudig den Zaster aus der Börse zückt, läuft im Hintergrund eine perfekt geölte Maschinerie ab. Vom sorgfältigen Dampfbügeln der Tischdecken bis zu den pinzettengezupften Kräutern. So viel Perfektion erfordert klare Hierarchien. Oder? Dass es auch anders geht, erfährt Agnes erst im „Koks“, einem entlegenen Sternerestaurant auf den Färöer Inseln, das aussieht, als habe sich der Herr der Ringe mit einem Koch zusammengetan und ein Lokal in Mittelerde aufgemacht. Bucket List: Da will ich auch mal hin.

SHE CHEF ist ein herrlich unaufgeregter Dokumentarfilm über Qual und Erfüllung in der Spitzengastronomie. Inspirierend und vom Chefkoch empfohlen.

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Österreich / Deutschland 2022
105 min
Regie Melanie Liebheit & Gereon Wetzel

alle Bilder © Camino Filmverleih

Das Lehrerzimmer

DAS LEHRERZIMMER

Das Lehrerzimmer

DAS LEHRERZIMMER

Ab 04. Mai 2023 im Kino

Zum Schreien: Horrorberuf Lehrer

Bundeskanzler Scholz warnt: „Das Land muss sich auf einen zunehmenden Lehrermangel vorbereiten. Das wird uns in den nächsten zehn Jahren umtreiben.“

Der gerade auf der Berlinale gezeigte Film DAS LEHRERZIMMER wird an diesem Missstand wenig ändern. Im Gegenteil. Schule und besonders der Beruf des Lehrers scheinen der pure Horror zu sein. İlker Çataks Film ist näher an einem Psychothriller als einer munteren Sozialstudie.

Jeder gegen jeden

„Was im Lehrerzimmer passiert, bleibt im Lehrerzimmer“, sagt Carla Nowak (Leonie Benesch) in einem Interview mit der Schülerzeitung. Auch wenn das für die junge Pädagogin zu diesem Zeitpunkt schon nur noch reine Wunschvorstellung ist. Einige ihrer Kollegen schauen mit Argusaugen auf ihre alternativen Unterrichtsmethoden und geben ihr zu verstehen, dass sie noch zu unerfahren für die Arbeit mit pubertierenden Kindern ist. Als es in der Schule zu einer Reihe von Diebstählen kommt und einer ihrer Schüler verdächtigt wird, ist Carla empört und beschließt, der Sache selbst auf den Grund zu gehen.

Es wird düster. Und dann noch düsterer. Bald kämpft jeder gegen jeden. Schuldzuweisungen drohen Existenzen zu vernichten. Schüler werden in Verhören „freundlich“ aufgefordert, ihre Mitschüler zu denunzieren. Die empörten Eltern toben, die Situation eskaliert. Wer schon mal einen Abend mit aufgebrachten Helikoptereltern verbringen musste, weiß: Übertrieben ist das nicht. Flecki Fleckenstein kann davon ein Lied singen. Ob allerdings Schüler derart wortgewandt und clever Erwachsene vorführen können, wie hier gezeigt, sei dahingestellt. Da tut das Drehbuch vielleicht schlauer als die Realität.

Fazit: Nach dem Film ist man dankbar, dass die Schulzeit lange vorbei ist und höchstens in Albträumen wiederkommt.

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Deutschland 2022
98 min
Regie İlker Çatak

alle Bilder © Alamode Film

4 TAGE BIS ZUR EWIGKEIT

4 TAGE BIS ZUR EWIGKEIT

Ab 27. April 2023 im Kino

Der Sage nach verschwand das junge Fräulein Idilia Dubb während eines Ausflugs spurlos. Erst 12 Jahre später fand man ihre sterblichen Überreste.

4 TAGE BIS ZUR EWIGKEIT – klingt nach US-Melodram, ist aber eine urdeutsche Sagengeschichte. Im Mittelrheintal des 19. Jahrhunderts: Die junge Idilia Dubb erwacht in einer Burgruine mit blutender Kopfwunde. Sie kann sich an nichts erinnern. Nur ihr Tagebuch gibt Hinweise auf ihre Vergangenheit. Es scheint, als verbinde sie eine heimliche Romanze mit dem abessinischen Schausteller Caven, der in der Völkerschau ihres Verlobten arbeitet. Während sich Idilias Erinnerungstrümmer langsam zusammenfügen, verschwimmen Realität und Fantasie immer mehr. Von hohen Mauern umschlossen, scheint ihre Situation ausweglos. Ein viertägiger Kampf ums Überleben beginnt.

Pappmaché-Kulissen und düsterer Elektrosound. Das Kinodebüt von Simon Pilarski und Konstantin Korenchuk bewegt sich irgendwo zwischen tschechischem Märchenfilm und der Mystery-Serie DARK. Bei Ausstattung und Inszenierung gibt es noch Luft nach oben, aber die Geschichte vom verschollenen Fräulein ist durchaus stimmungsvoll umgesetzt. Ein Genrefilm aus Deutschland, das hat immer noch Seltenheitswert. Allein schon deshalb sind die 4 TAGE BIS ZUR EWIGKEIT mit Lea van Acken und Eric Kabongo sehenswert.

INFOS ZUM FILM

Deutschland 2022
102 min
Regie Simon Pilarski und Konstantin Korenchuk
Kinostart 27. April 2023

alle Bilder © Sternenberg Films

roter himmel

ROTER HIMMEL

roter himmel

ROTER HIMMEL

Ab 20. April 2023 im Kino

Der neue Petzold - nur auf den ersten Blick eine leichte Komödie

Die Berlinale 2023 war mal wieder ein durchwachsenes Vergnügen. Doch Christian Petzold sei Dank, gab es mit ROTER HIMMEL einen deutschen Beitrag, der mehr als nur okay war. Im extra trüben Wettbewerb leuchtete sein Film besonders hell. 

Bei der Berlinale gewann Petzolds Film den Großen Preis der Jury

Zwei Freunde, der eine Fotograf, der andere Schriftsteller, machen ein paar Tage Urlaub an der Ostsee. In ihrem Ferienhaus treffen sie Nadja, die sich nachts mit Devid (im Osten gab es nicht nur Maiks), dem örtlichen Rettungsschwimmer vergnügt. Vier junge Menschen, von denen drei Spaß haben, nur Leon, der Schriftsteller, quält sich. Die gute Laune der anderen lässt ihn immer mürrischer werden, zumal ihm sein Verleger im Nacken sitzt. Es ist Sommer, um das Haus herum brennt der Wald, der Himmel färbt sich rot, bald regnet es Asche.

ROTER HIMMEL ist der zweite Teil einer Trilogie. Wie schon in UNDINE platziert Petzold moderne Charaktere in ein märchenhaftes Setting. Diesmal ins deutscheste aller deutschen Märchensettings: den Wald. Die Symbolik des alles verschlingenden Feuers für die lodernden Gefühle der vier jungen Menschen erdrückt dabei nicht. Das vielschichtige Drama wechselt meisterhaft von leichter Komödie zu tiefgründiger Tragödie. Dazu eine ausgezeichnete Besetzung, vor allem Paula Beer als lebensfrohe Nadja und Thomas Schubert als miesepetriger Leon. Bei der Berlinale gewann Petzolds Film den Großen Preis der Jury.

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Deutschland 2023
102 min
Regie Christian Petzold

alle Bilder © Piffl Medien

Irgendwann werden wir uns alles erzählen

IRGENDWANN WERDEN WIR UNS ALLES ERZÄHLEN

Irgendwann werden wir uns alles erzählen

IRGENDWANN WERDEN WIR UNS ALLES ERZÄHLEN

Ab 13. April 2023 im Kino

Emily Atefs Berlinale-Beitrag: Es gibt ihn noch, den typisch deutschen Problemfilm.

Sommer 1990. Ein Bauernhof an der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze. Johannes hat für seine Freundin Maria und sich den Dachboden bei seinen Eltern zum kleinen Idyll gemacht. Maria liest Dostojewski, streift durch die Wiesen und widmet sich auch sonst dem süßen Nichtstun. Ihre Begegnung mit Henner, dem um einiges älteren Nachbarn, macht der Beschaulichkeit ein Ende. Eine tragische Liebe nimmt ihren Lauf.

IRGENDWANN WERDEN WIR UNS ALLES ERZÄHLEN gehört in die Kategorie Filme, bei denen schon nach wenigen Minuten klar ist, dass man sich weder für die Figuren noch ihre deprimierenden Probleme interessiert. Das hölzern gespielte Drama von der verbotenen Liebe verläuft ereignislos und zieht sich über 129 Minuten wie Kaugummi. Von der Dramatik des Trailers ist im Film wenig zu spüren. Sehenswert sind in diesem deutschen Berlinale-Wettbewerbsbeitrag einzig die sommerlichen Landschaften Ostdeutschlands. Ernüchterndes Fazit: Es gibt ihn noch, den typisch deutschen Problemfilm.

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Deutschland 2023
129 min
Regie Emily Atef

alle Bilder © Pandora Film

MANTA MANTA – ZWOTER TEIL

MANTA MANTA – ZWOTER TEIL

Kinostart 30. März 2023

Lieber Til Schweiger, wir müssen reden. Nicht darüber, dass Sie sich seit Jahren weigern, ihre Filme vor dem Kinostart Kritikern zu zeigen. Das ist in Ordnung. Es wäre sogar besser gewesen, wenn Sie es auch diesmal dabei belassen hätten. Nein, die beleidigte Leberwurst im Kaschmirpulli steht Ihnen gut und das bösartige Geschreibsel brauchen Sie sich wirklich nicht antun. Auch dass in ihrem neuen Werk nicht die parabelhaften Fragen nach Familienpolitik, Emanzipation und motorischer Regression aufgegriffen werden – geschenkt. Worüber wir reden müssen, ist der ausgestreckte Mittelfinger, den Sie mit MANTA MANTA – ZWOTER TEIL allen Zuschauern ins Gesicht strecken.

In jeder Hinsicht grottenschlecht

Selbst mit größter Offenheit für Klamauk und tiefergelegter Erwartungshaltung: Ihr neuer Film ist in jeder Hinsicht grottenschlecht. Nicht komisch, nicht kultig und dabei auch noch handwerklich fragwürdig. Sie werden im Vorspann als Regisseur, Produzent, Drehbuchautor und Editor genannt. War es also Ihre Idee, jede noch so belanglose Szene in epileptischer Frequenz zu zerhackstücken? Sind die Zeiten des unheilvollen „MTV-Schnitts“ nicht schon seit den 90ern vorbei? Und ja, eine alte Filmweisheit lautet: Anschluss gibt’s am Bahnhof. Das haben Sie sich offensichtlich zu Herzen genommen. Aber: Das war als Witz gemeint.

Apropos Witz: Nur weil Schauspieler beim Dreh eine gute Zeit haben, wird ein Film nicht automatisch lustig. Humor bedeutet nicht, anderen beim Lachen zuzuschauen. Wenigstens sind Sie um Nachhaltigkeit bemüht und recyceln artig – den Scherz mit den vollgepinkelten Stiefeln gab es schon im ersten Teil. So was nennt man wohl Fanservice. Auch Ihrer Vorliebe, Szenen mit zu laut abgemischter Kitschmusik zu unterlegen, um so nicht vorhandene Emotionen zu erzeugen, sind Sie treu geblieben. Leider.

Trotzdem viel Erfolg. Vielleicht gibt es genügend Fans, die über die letzten 30 Jahren vergessen haben, dass MANTA – DER FILM (mit Helge Schneider), und nicht MANTA, MANTA! (mit Ihnen) eine Fortsetzung verdient hätte.

INFOS ZUM FILM

Deutschland 2023
126 min
Regie Til Schweiger

alle Bilder © Constantin Film

THE ORDINARIES

THE ORDINARIES

Kinostart 30. März 2023

Das ganze Leben ist ein Film: Menschen sind entweder Hauptfiguren, Nebenfiguren oder – geächtete – Outtakes. In diesem bizarren Paralleluniversum hat Paula die wichtigste Prüfung ihres Lebens vor sich: Sie muss beweisen, dass auch sie das Zeug zur Hauptfigur hat. Als Klassenbeste in Cliffhanger, Zeitlupe und panischem Schreien bringt sie eigentlich beste Voraussetzungen mit. Um noch emotionaler spielen zu können, sucht sie nach „Flashbacks“ von ihrem Vater, der vor vielen Jahren bei einem Massaker ermordet wurde. Doch sein Name ist aus allen Datenbanken gelöscht. War ihr Vater wirklich eine strahlende Hauptfigur, die den Heldentod starb?

Science-Fiction-Comedy-Musical-Drama

Eine verwöhnte, ignorante Oberschicht und das einfache Volk, das in eingezäunten DDR-Gettos haust – das Setting erinnert an Terry Gilliams Dystopieklassiker BRAZIL, wild gemixt mit der künstlichen 50er-Jahre-Welt der TRUMAN SHOW. Nur dass die Ordinaries-Protagonisten nicht irgendwann aus der Kulisse treten und sich in der Realität wiederfinden.

Mehr Mut zum Schnitt! Denn die etwas dünne Story ermüdet auf Dauer mit Wiederholungen. Regisseurin Sophie Linnenbaum hat eine Kurzfilmidee auf 120 Minuten gestreckt. Dafür punktet das Science-Fiction-Comedy-Musical-Drama mit Ausstattung, skurrilen visuellen Einfällen und originellen Details. So gibt es zum Beispiel „Fehlbesetzungen“ wie das Hausmädchen, dass von einem verlebten Mann gespielt wird. Oder Paulas Mutter, die als Nebenfigur nur über einen begrenzten Wortschatz verfügt: „Ich habe mir Sorgen gemacht. Ich bin stolz auf dich“ lauten ihre monoton heruntergebeteten Drehbuchphrasen.

THE ORDINARIES ist (über)-ambitioniertes, teils clever gemachtes Genrekino aus Deutschland. Auszeichnungen gab es bereits reichlich: unter anderem den First Steps Award und diverse Publikumspreise. Ein nicht durchweg überzeugendes Spielfilmdebüt, das trotz Längen neugierig auf die nächsten Arbeiten der Regisseurin macht.

INFOS ZUM FILM

Deutschland 2022
120 min
Regie Sophie Linnenbaum

alle Bilder © notsold und Port au Prince Pictures

SISI UND ICH

SISI UND ICH

Kinostart 30. März 2023

Sisi hier, Sisi da, Sisi wo man hinschaut. Ihre kaiserliche Omnipräsenz gibt sich schon wieder die Ehre. Neben diversen Netflix- und RTL-Serien war zum Thema zuletzt der österreichische Oscarbeitrag CORSAGE im Kino zu sehen.

Wilde Neuinterpretation des vielerzählten Mythos

Irma Gräfin von Sztáray bewirbt sich als Hofdame von Kaiserin Elisabeth von Österreich-Ungarn. Doch das Casting ist nicht ohne: Erst schlägt ihr die gestrenge Mutter die Nase blutig, dann wird sie wie ein Stück Vieh untersucht und verhört. Endlich auserwählt, kommen sich die Gräfin und die Kaiserin auf Sisis Sommersitz auf Korfu schnell nah.

SISI UND ICH ist all das, was CORSAGE gerne gewesen wäre. Eine wilde Neuinterpretation des vielerzählten Mythos. Grotesk und sehr komisch. Susanne Wolff und Sandra Hüller sind schlichtweg grandios, Locations und Kostüme erlesen, und das Ganze wird von einem überraschend modernen Soundtrack zwischen Nico und Portishead begleitet. Sehr gelungen.

INFOS ZUM FILM

Deutschland / Schweiz / Österreich 2023
132 min
Regie Frauke Finsterwalder

alle Bilder © DCM

LARS EIDINGER – SEIN ODER NICHT SEIN

LARS EIDINGER – SEIN ODER NICHT SEIN

Kinostart 23. März 2023

Ein eitler Fatzke. Typischer Schauspieler. Ein Genie. Neutral stehen die wenigsten Lars Eidinger gegenüber. Dass er gut ist, darauf können sich fast alle einigen. Doch immer wieder verstören seine emotionalen Auftritte und seine Sucht, im Mittelpunkt zu stehen. Oder ist das auch nur ein böses Klischee? Nach seinem inzwischen legendären Tränenausbruch bei einer Berlinale-Pressekonferenz wurde er mit Hasskommentaren und hämischen Artikeln im Feuilleton überschüttet. Da könnte man schon fast Mitleid bekommen, wenn nicht Eidinger selbst in einem Interview gesagt hätte, dass er sich stets der Kameras und Zuschauer bewusst ist. „Ich bin gar nicht da, wenn mich keiner anschaut.“ Also doch alles nur Show?

Lars Eidinger spielt Lars Eidinger

Privat sei er ganz anders, zurückhaltend und still, so sein Freund Thomas Ostermeier. Der holt ihn 1999 an die Schaubühne. Spätestens mit Hamlet und Richard III wird das Regie/Schauspiel-Duo weltberühmt. Für Eidinger folgen Rollenangebote in internationalen Spielfilmproduktionen. Heute ist er einer der gefragtesten deutschen Schauspieler.

Reiner Holzemer hat Lars Eidinger neun Monate mit der Kamera begleitet. Als Rahmen dient die Probenarbeit für die Jedermann-Inszenierung bei den Salzburger Festspielen 2021. Hier kommt es auch zu einer erinnerungswürdigen Szene: Eidinger ist gerade in einen Monolog versunken, da wagt es Regisseur Michael Sturminger leise mit einer Kollegin zu sprechen. Eidinger rastet komplett aus, die anderen im Raum senken betreten den Blick zu Boden, der Regisseur versucht sich zu rechtfertigen. Im Interview antwortet Eidinger später auf die Frage, ob ihm bei dem Streit auch bewusst war, dass die Kamera läuft mit einem lapidaren „Ja“. So weit, so unsympathisch. 

Lars Eidinger spielt Lars Eidinger, der Lars Eidinger spielt. Sein Werdegang von der Ernst Busch-Schule bis zum gefeierten Schauspielstar und Holzemers Blick auf seine oft unkonventionelle Arbeitsweise sind interessant, doch am stärksten bleiben die Theatermitschnitte, in denen Eidinger das macht, was er am besten kann: schauspielern.

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Deutschland 2023
92 min
Regie Rainer Holzemer

alle Bilder © FILMWELT

ALLE WOLLEN GELIEBT WERDEN

ALLE WOLLEN GELIEBT WERDEN

Kinostart 08. März 2023

Pünktlich zum internationalen Frauentag gibt es einen Film aus der Kategorie: Was hätten wohl die Franzosen aus diesem Stoff gemacht? Wahrscheinlich eine federleichte Sommer-Komödie mit viel Herz und Charme. Wir Deutschen gehen da anders ran – problembewusster.

Kinder nerven und Eltern sowieso

Ein langer Tag im Leben der Psychotherapeutin Ina. Ihre egozentrische Mutter feiert 70sten Geburtstag, ihre Tochter hat pubertierend dauerschlechte Laune und ihr Freund will unbedingt nach Norwegen auswandern. Mittendrin Ina, die es allen recht machen will. Bei dem ganzen Stress kein Wunder, dass sie sich in letzter Zeit so schlecht fühlt.

Katharina Wolls Kinodebüt ALLE WOLLEN GELIEBT WERDEN beschäftigt sich mit dem Druck, der auf modernen Frauen lastet. Einerseits Haushalt führen und fürsorgliche Mutter sein, andererseits Karriere machen und die Familie managen – widersprüchliche Erwartungen, die großes Konfliktpotenzial bergen. Doch Wolls Film kratzt nur an der Oberfläche, befriedigt weder als Komödie noch als Drama.

Auch Bildungsbürger mit gut bezahlten Berufen, Neuwagen und schönen Wohnungen haben es nicht leicht, ja ja. Am Ende steht kein Erkenntnisgewinn, außer, dass Kinder nerven und Eltern sowieso. Das beste Argument für ALLE WOLLEN GELIEBT WERDEN ist die tolle Hauptdarstellerin Anne Ratte-Polle, die ihre Rolle mit leiser Ironie spielt und bei all der Qual fast bis zum Ende bewundernswert die Haltung wahrt.

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Deutschland 2022
80 min
Regie Katharina Woll

alle Bilder © Camino

SONNE UND BETON

SONNE UND BETON

Kinostart 02. März 2023

Berlin, Sommer 2003: Lukas, Julius, Gino und Sanchez – vier Jungs, die jede Menge Scheiß bauen und denen jede Menge Scheiß widerfährt. Muss das sein, diese vulgäre Sprache? Ja, denn in „Gropius“ aufzuwachsen ist nichts für Weicheier. Gangster oder Opfer. Hier gilt: Der Klügere tritt nach. An Drogen und Schlägereien kommt keiner vorbei. Die Sprache ist so rau wie die vier minderjährigen Kleingangster, die dringend 500 € klar machen müssen, sonst gibts Schläge von den Arabern.

Irgendwo zwischen EIS AM STIEL und 4 BLOCKS

Digger, ich schwöre, ich zerficke dir dein Gesicht. Herzige Dialoge wie dieser werfen die interessante Frage auf: Haben Jugendliche in den Nuller-Jahren wirklich schon derart penetrant gediggert wie heute? Dass mittlerweile 10-Jährige „Diggi“ schwafelnd durch die Straßen laufen, schlimm genug. Aber vor 20 Jahren? Man kann sich bei der Gelegenheit ohnehin fragen, weshalb Regisseur David Wnendt die Geschichte nicht in die Jetztzeit verlegt hat. Altmodische Handys und ein paar Nachrichtenbilder von Kanzler Schröder sind die einzigen Hinweise auf die Anfang-Tausender und haben keinen echten Mehrwert.

Felix Lobrecht zählt zu den gefeiertsten Comedians des Landes, füllt mit seinen Shows die größten Stadien und „Gemischtes Hack“ hat sowieso jeder schon einmal gehört, der sich für Podcasts interessiert. Die massenkompatible Verfilmung seines Bestsellers SONNE UND BETON liegt irgendwo zwischen EIS AM STIEL und 4 BLOCKS für Jugendliche. Bisschen doof, bisschen nervig, trotzdem lustig und sehr kurzweilig.

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Deutschland 2023
119 min
Regie David Wnendt

alle Bilder © Constantin Film Verleih

DER ZEUGE

DER ZEUGE

Kinostart 02. März 2023

Carl Schrade, ein ehemaliger Juwelenhändler, der jahrelang in verschiedenen Konzentrationslagern gefangen gehalten wurde, sagt als Kronzeuge vor einem US-Militärgericht gegen seine Peiniger aus. Auf der Anklagebank sitzen SS-Männer, NSDAP-Funktionäre und Ilse Koch, die Frau des berüchtigten KZ-Kommandanten Karl Koch.

Fast nüchtern werden die Gräueltaten der Nazis nacherzählt

DER ZEUGE basiert auf realen Gerichtsprotokollen. Regisseur Bernd Michael Lade stellt in seinem Prozess-Drama Täter- und Opferaussagen gegenüber. Fast nüchtern werden die Gräueltaten der Nazis nacherzählt, die zum Tod von Millionen Menschen in den Konzentrationslagern führten.

Lade setzt auf Realismus und lässt die Aussagen der Protagonisten von Anfang bis Ende übersetzen. Ganz so, wie es in den Gerichtsprotokollen geschrieben steht. Spricht ein Angeklagter Deutsch, so wird seine Aussage von einer Übersetzerin auf Englisch wiederholt. Umgekehrt werden die englischen Zeugenaussagen ins Deutsche übersetzt. Wort für Wort, Satz für Satz. Das erfordert Geduld. Natürlich wäre es kein Problem gewesen, spätestens nach fünf Minuten den üblichen Crossfade zu machen und alle Figuren in einer Sprache sprechen zu lassen. Oder Untertitel. Doch solchen filmischen Tricks verweigert sich der Regisseur, um „mit einem inneren Widerhall die Aussagen fühlbar zu machen.“ Für den Zuschauer anstrengend, aber immerhin konsequent durchgezogen.

Bernd Michael Lade selbst spielt die Hauptrolle, seine Ex-Ehefrau Maria Lade gibt mit blecherner Transistorradiostimme die Übersetzerin, der gemeinsame Sohn Jonathan agiert als Statist im Hintergrund, neben ihm sein Halbbruder Ludwig Simon. Ein Kammerspiel mit Familienbesetzung, das noch viele Schülergenerationen im Geschichtsunterricht begleiten wird.

INFOS ZUM FILM

Deutschland 2022
93 min
Regie Bernd Michael Lade

alle Bilder © Neue Visionen

TÁR

TÁR

Kinostart 02. März 2023

Dass Cate Blanchett unlängst Filmpreisverleihungen als „Pferderennen“ kritisierte, ist alles andere als Neid einer Besitzlosen. Für ihre Titelrolle in dem Musikdrama TÁR bereits bei den Golden Globes und der Biennale als beste Darstellerin ausgezeichnet, ist die 53-Jährige erneut vielversprechende Anwärterin auf den Oscar.

Aufstieg und Fall einer Diva

Das Werk erzählt die fiktive Geschichte von Lydia Tár, die als erste Chefdirigentin der Berliner Philharmoniker das Vorspielen weiblicher Talente mit ihren privaten Interessen vermischt. Dieser Machtmissbrauch schadet auf Dauer sowohl ihrer ehelichen Beziehung zu Violinistin Sharon als auch ihrer einmaligen Karriere.

Die anspruchsvolle Rolle ist Cate Blanchett auf den Leib geschrieben, sie dominiert den Film. Ganze 158 Minuten lang. TÁR ist in vielerlei Hinsicht anzumerken, dass Todd Field in seiner dritten Regiearbeit nach 16-jähriger Schaffenspause ein immenses Mitteilungsbedürfnis hat: Künstlerporträt, #MeToo-Thematik, konzertantes Making-of, Selbstmord, Schulhofmobbing, Altersarmut – um nur einige Themen zu nennen. Das Ganze inszeniert in vermeintlich originalem Berliner Lokalkolorit zwischen vermülltem Neuköllner Hinterhof und stylish komponiertem Waschbeton-Refugium. Dazu Gustav Mahlers fünfte Symphonie und zeitgenössische Kompositionen von Hildur Guðnadóttir sowie eine Riege von Co-Darstellern, die das Universum der Lydia Tár bevölkern: Noémie Merlant, Julian Glover, Nina Hoss als erste Geige und vor allem viele echte Orchestermusiker.

Ein intellektuell anspruchsvoller Film, der beachtlichen Erfolg bei der Kritik, mutmaßlich weniger beim unterhaltungsaffinen Publikum haben dürfte. Dafür bietet TÁR buchstäblich zu viel des Guten.

Text: Anja Besch

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „TÁR“
USA 2022
158 min
Regie Todd Field

alle Bilder © Universal Pictures International Germany

WANN WIRD ES ENDLICH WIEDER SO SEIN, WIE ES NIE WAR

WANN WIRD ES ENDLICH WIEDER SO SEIN, WIE ES NIE WAR

seit 23. Februar 2023 im Kino

Eine etwas andere Kindheit: Josse wächst auf dem Gelände einer psychiatrischen Klinik auf. Für den jüngsten Sohn von Direktor Meyerhoff (Devid Striesow) gehören die körperlich und geistig Behinderten quasi zur Familie. Am besten schläft er, wenn er nachts die Schreie der Patienten hört. Vielleicht weil er selbst immer wieder Tobsuchtsanfälle bekommt. Dann setzen ihn die Eltern auf die Waschmaschine. Das Schleudern beruhigt den hypersensiblen Jungen.

Ergreifend und voll absurder Momente

Kann man die mittlerweile fünf autobiografischen Romane Joachim Meyerhoffs überhaupt verfilmen? Ja, man kann. Komisch, ergreifend und voll absurder Momente: Sonja Heiss hat die 70er-Jahre Stimmung des zweiten Bands der Lebenserinnerungen des Schauspielers punktgenau eingefangen. Dabei sind die Figuren nicht einmal so besetzt, wie man sich das vielleicht beim Lesen vorstellt. Aber dank der stimmigen Inszenierung und dem hervorragenden Spiel taucht man schnell in die Welt der schrägen Familie ein.

Joachim Meyerhoff erzählt in seinen Büchern keine klassisch aufgebaute Geschichte, sondern reiht Erinnerungen und Begebenheiten lose aneinander. Kleiner Wermutstropfen: Der Stoff hätte locker für eine Fernsehserie gereicht. Ganze viermal wechselt der Schauspieler des Josse: vom Kind zum Teenager bis zum jungen Mann. Das geht dann doch ein bisschen zu schnell. Trotzdem: WANN WIRD ES ENDLICH WIEDER SO, WIE ES NIE WAR ist die gelungene Verfilmung eines unverfilmbaren Buchs, hoffentlich mit Fortsetzung.

INFOS ZUM FILM

Deutschland 2023
116 min
Regie Sonja Heiss

alle Bilder © Warner Bros. Pictures Germany

BERLINALE 2023 – FINALE

BERLINALE 2023 – FINALE

Zeit für ein Fazit:
Frauen rauchen im Kino wie die Schlote (Golda, Ingeborg, etc.).
THE PLAYCE ist abscheulich.
Die S-Bahn fährt wieder.
Statt Schnee war Regen.
Baustellen sind kein Ersatz für Glamour.
Der diesjährige Wettbewerb hatte so viel anstrengendes Arthousekino wie noch nie.
Framerate hätte TÓTEM oder ROTER HIMMEL den goldenen Bären gegönnt.
Und tatsächlich gewonnen haben:

Goldener Bär FILM

Nicolas Philibert - SUR L'ADAMANT

Auch ein Dokumentarfilm unterliegt gewissen dramaturgischen Gesetzen und steht und fällt mit seinem Cast. Und der ist auf der Adamant leider nicht besonders interessant. Philiberts schlicht gemachter Film über das Narrenschiff bietet wenig Erhellendes für den Zuschauer. Der viel bessere Film mit (echten) Verrückten lief in der Sektion Generation: WANN WIRD ES ENDLICH WIEDER SO SEIN, WIE ES NIE WAR

roter himmel

Silberner Bär GROSSER JURYPREIS

Christian Petzold - ROTER HIMMEL

Im extra trüben Wettbewerb leuchtet ROTER HIMMEL besonders hell. Wie schon in UNDINE platziert Petzold moderne Charaktere in ein märchenhaftes Setting. Leichte Komödie mit Tiefgang.

Silberner Bär JURYPREIS

João Canijo - MAL VIVER

In dem 127 Minuten langen Filmjuwel aus Portugal giften sich fünf unsympathische Frauen in einem leer stehenden Hotel an. Am Ende sind alle tot. Leider ganz ohne Witz oder wenigstens Camp erzählt.

Silberner Bär REGIE

Philippe Garrel - LE GRAND CHARIOT

Schon interessant, wie man nach ein paar Tagen Berlinale einen Film über ein Puppentheater als beinahe mainstreamig wahrnimmt. Geballtes Arthouse in all seinen Schattierungen hinterlässt eben seine Spuren im Hirn.

Silberner Bär HAUPTROLLE

Sofía Oter - 20.000 SPECIES OF BEES

Das Featuredebüt der Spanierin Estibaliz Urresola Solaguren ist ein netter Kinderfilm mit reizender Besetzung und lobenswertem Anliegen. Die Nichthandlung vom Jungen, der ein Mädchen sein möchte, hätte sich locker in einem Drittel der Zeit wegerzählen lassen.

Silberner Bär NEBENROLLE

Thea Ehre - BIS ANS ENDE DER NACHT

Die bemühte Liebesgeschichte zwischen schwulem Cop und Transfrau bleibt von der ersten bis zur letzten Minute unglaubwürdig. Thea Ehres laienhaftes Spiel wurde mit dem Silbernen Bären ausgezeichnet.

Silberner Bär DREHBUCH

Angela Schanelec - MUSIC

Echtes Kopfkino. Im Sinne von: total verkopft. Der silberne Bär für das beste Drehbuch. Ausgerechnet für einen Film, den wirklich niemand versteht.

Silberner Bär KAMERA

Hélène Louvart - DISCO BOY

DISCO BOY ist ein verfilmter Fiebertraum. Es ist alles seltsam im Langfilmdebüt des italienischen Regisseurs Giacomo Abbruzzese. Aber seltsam heißt in diesem Fall gut.

BERLINALE 2023 – TAG 9

BERLINALE 2023 – TAG 9

Frei nach Heribert Faßbender: „Sie sollten die Berlinale nicht zu früh abschalten. Es kann noch schlimmer werden.“ Machen wir uns nicht länger was vor, Carlo Chatrian verfolgt als künstlerischer Leiter einen perfiden Plan: Er will aus dem ehemalige A-Festival ein Autorenfilmfestival machen. Wie er das anstellt? Ganz einfach: Filme, die bisher in der unschaubaren Sektion Forum liefen, werden jetzt im Wettbewerb gezeigt. Man kann nur hoffen, dass der allgemeine Frustaufschrei über die fortschreitende Verkopfung nicht ungehört bleibt. Rettet die Unterhaltung!

WETTBEWERB

BIS ANS ENDE DER NACHT

Der Pressetext macht Angst: „Ein gewiefter Plot, der pures Oszillieren ist. Ein geistreiches Vexierbild des Emo-Intellekts. Ein Film wie eine Möbiusschleife aus Genre- und Autorenkino.“
Komplizierte Worte für eine einfache Geschichte: Robert ist verdeckter Ermittler. Über die fingierte Beziehung mit der Transfrau Leni soll er das Vertrauen eines Internet-Drogenhändlers gewinnen.

BIS ANS ENDE DER NACHT enttäuscht auf mehreren Ebenen. Die bemühte Liebesgeschichte zwischen dem schwulen Cop und Leni bleibt von der ersten bis zur letzten Minute unglaubwürdig. Es mag an der mangelnden Chemie oder dem laienhaften Spiel von Thea Ehre liegen. Auch als Krimi ist es nur durchschnittliche Tatortware. Ein paar witzige Dialoge gehen in peinlichen, tiefsinnig gemeinten Beziehungsgesprächen unter. Positiv zu vermerken an Christoph Hochhäuslers oszillierender Möbius-Emo-Schleife: Sie hat mehr Handlung als alle anderen Wettbewerbsfilme zusammen und Timocin Ziegler ist sehr überzeugend als harter Bulle mit weichem Kern.

Deutschland 2023
123 min
Regie Christoph Hochhäusler 
Bild © Heimatfilm

WETTBEWERB

ART COLLEGE 1994

Die Kraft der Suggestion: Wenn alle, die ihn schon gesehen haben, behaupten, ART COLLEGE 1994 sei der schlechteste Film im Wettbewerb, dann sind die Erwartungen in den Keller geschraubt. Aber Überraschung: Liu Jians 2D-Zeichentrickfilm über ein paar Slacker im China der frühen 90er-Jahre ist besser als gedacht.

Es ist der zweite Zeichentrickfilm in diesem Wettbewerb. Während SUZUME ein echter crowd pleaser mit bunten Bildern und überwältigender Tonspur ist, erinnert ART COLLEGE 1994 eher an eine Fingerübung des Slackerspezialisten Richard Linklater, nur eben auf Chinesisch.

Der Filmemacher und Maler Liu Jian erzählt von seiner eigenen Jugend zu einer Zeit, als sich das Reich der Mitte langsam dem Westen öffnet. Ein Film von einem ehemaligen Kunststudenten über Kunststudenten? Klar, das ist schon sehr selbstreferenziell. Und nach einer Stunde beginnt sich die ereignislose Handlung mit Dialogen über Existenzialismus, das Leben und Mädchen zu ziehen. Zum Glück wurde ART COLLEGE 1994 im ungemütlichen Berlinale Palast gezeigt und nicht im herrlich bequemen CinemaxX. Sonst wäre man vielleicht doch noch weggeratzt.

China 2023
118 min
Regie Liu Jian
Bild © Nezha Bros. Pictures Company Limited, Beijing Modern Sky Culture Development Co., Ltd

WETTBEWERB

SUR L’ADAMANT

Dokumentarfilme haben im Wettbewerbsprogramm Tradition, 2018 gewann TOUCH ME NOT sogar den Goldenen Bären. Im besten Fall entlässt eine gut gemachte Doku den Zuschauer ein bisschen schlauer in die Welt. Dass seit 2010 mitten in Paris ein Schiff auf der Seine ankert, auf dem psychisch Kranke behandelt werden – wer hätte es gewusst? In seiner Langzeitbeobachtung lässt Regisseur Nicolas Philibert die Patienten der Tagesklinik zu Wort kommen.

Auch ein Dokumentarfilm unterliegt gewissen dramaturgischen Gesetzen und steht und fällt mit seinem Cast. Und der ist auf der Adamant leider nicht besonders interessant. Philiberts schlicht gemachter Film über das Narrenschiff bietet wenig Erhellendes für den Zuschauer. Wem der Sinn nach echtem Wahnsinn steht, dem sei ein Spaziergang durch Berlins Straßen an jedem x-beliebigen Tag empfohlen.

Frankreich / Japan 2022
109 min
Regie Nicolas Philibert
Bild © TS Production / Longride

BERLINALE 2023 – TAG 8

BERLINALE 2023 – TAG 8

Vorletzter Tag! Ist es nur Einbildung, oder dauert die Berlinale in diesem Jahr länger als irgendeine Berlinale jemals zuvor. Vielleicht liegt es auch an der Wettbewerbsauswahl. Wenigstens hat ROTER HIMMEL gestern etwas Hoffnung gemacht. Heute gibts drei Filme mit drei Sternen. Ein durchschnittlicher Tag auf einer durchschnittlichen Berlinale.

WETTBEWERB

LIMBO

Nein, das ist keine Fortsetzung von BREAKING BAD und das ist auch nicht Walter White, der da in den australischen Outbacks an seinem Wagen lehnt. Travis Hurley heißt der Doppelgänger und macht sich daran, den Fall einer vor 20 Jahren ermordeten Aborigines-Frau neu aufzurollen. Er stößt auf eine Mauer des Schweigens, denn Hurley ist weiß und die Wahrheit kompliziert.

 Zum Einschlafen braucht er abends eine Spritze Heroin. Simon Baker spielt den stoischen Cop als gebrochene Figur. Knochentrocken, wie die Landschaft, in der er ermittelt. Regisseur Ivan Sen hat die karge, von Opal-Minen zerklüftete Wüste in strengen Schwarz-Weiß-Bildern wirkungsvoll in Szene gesetzt. LIMBO funktioniert als humorbefreite Version eines Coen-Brothers-Films, als Cop-Movie und als Porträt einer verlorenen Gesellschaft.

Australien 2023
95 min
Regie Ivan Sen
Bild © Bunya Productions

WETTBEWERB

PAST LIVES

Das kennt man aus der Kindheit: Eltern ziehen um, und schwupps verschwindet der beste Freund oder die beste Freundin aus dem Leben. So geht es auch Hae Sung und Nora, als deren Familie aus Südkorea emigriert. 20 Jahre später treffen sich die Kindheitsfreunde in New York wieder, wo Nora mit ihrem amerikanischen Mann lebt.

Das Publikum liebt PAST LIVES – in Berlin wie in Sundance. Und tatsächlich, beim Thema verpasste Chancen kann sich wohl jeder wiederfinden… wäre der Jugendfreund vielleicht doch der bessere Ehepartner gewesen? Aber niemand ist umsonst da, wo er ist und hat den Menschen geheiratet, den er geheiratet hat – so das lapidare Fazit des Films. Für einige Tränen reichte es am Ende. Sowohl auf der Leinwand – als auch im Publikum.

USA 2022
105 min
Regie Celine Song
Bild © Jon Pack

SPECIAL GALA

TÁR

#MeToo andersrum: TÁR erzählt die fiktive Geschichte von Lydia Tár (Cate Blanchett), die als erste Chefdirigentin der Berliner Philharmoniker das Vorspielen weiblicher Talente mit ihren privaten Interessen vermischt. Dieser Machtmissbrauch schadet auf Dauer sowohl ihrer Ehe als auch ihrer Karriere.

Die anspruchsvolle Rolle ist Cate Blanchett auf den Leib geschrieben, sie dominiert den Film. Ganze 158 Minuten lang. TÁR ist in vielerlei Hinsicht anzumerken, dass Todd Field in seiner dritten Regiearbeit nach 16-jähriger Schaffenspause ein immenses Mitteilungsbedürfnis hat: Künstlerporträt, #MeToo, konzertantes Making-of, Selbstmord, Schulhofmobbing, Altersarmut – um nur einige Themen zu nennen. Ein intellektuell anspruchsvoller Film, der beachtlichen Erfolg bei der Kritik, mutmaßlich weniger beim unterhaltungsaffinen Publikum haben dürfte.

USA 2022
158 min
Regie Todd Field
Bild © Universal Pictures International Germany

WETTBEWERB

SUZUME

Ein junges Mädchen, eine sprechende Katze und ein gelber Hocker sind die Stars von Makoto Shinkais Wettbewerbsfilm. Die 17-jährige Suzume öffnet versehentlich die Tür zu einer anderen Welt. Überall in Japan öffnen sich daraufhin weitere Türen, hinter denen sich ein todbringender Riesenwurm verbirgt.

Nach Tagen des Gemeckers über zu intellektuelles Kunstkino im Wettbewerb nun dieser animierte Actionkracher aus Japan. Mit Schauspielern aus Fleisch und Blut könnte das auch die neueste Produktion der Marvel-Studios sein. Animefans werden begeistert sein, für normale Zuschauer erschließt sich der Reiz der riesenäugigen, nasenlosen Zeichentrickfiguren nur bedingt. SUZUME ist großer Kitsch, schön bunt, hat Humor und beeindruckt mit epischen Bildern. Was das alles mit der Suse zu tun hat, bleibt ein Rätsel.

Suse

Japan 2022
121 min
Regie Makoto Shinkai
Bild © 2022 „Suzume“ Film Partners

BERLINALE 2023 – TAG 7

BERLINALE 2023 – TAG 7

Morgens auf dem Weg zum Potsdamer Platz benglisht die Tramfahrerin die Fahrgäste an: „Wir kriejen die Tür nich zu, wennse am Haltepush klebn!“ Haltepush für Stop-Knopf! Das hat sich bestimmt die BVG-Marketingabteilung ausgedacht. Nie war Berlin internationaler!

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roter himmel

ROTER HIMMEL

Christian Petzold sei Dank – endlich ein Film, der mehr als nur okay ist. Im extra trüben Wettbewerb leuchtet ROTER HIMMEL besonders hell. Ein Top-Favorit für den Goldenen Bären.

Zwei Freunde, der eine Fotograf, der andere Schriftsteller, machen ein paar Tage Urlaub an der Ostsee. In ihrem Ferienhaus treffen sie Nadja, die sich nachts mit Devid (im Osten gab es nicht nur Maiks), dem örtlichen Rettungsschwimmer vergnügt. Vier junge Menschen, von denen drei Spaß haben, nur Leon, der Schriftsteller quält sich. Die gute Laune der anderen lässt ihn immer mürrischer werden. Es ist Sommer, um das Haus herum brennt der Wald, der Himmel färbt sich rot, bald regnet es Asche.

ROTER HIMMEL ist der zweite Teil einer Trilogie. Wie schon in UNDINE platziert Petzold moderne Charaktere in ein märchenhaftes Setting. Diesmal ins deutscheste aller deutschen Märchensettings: den Wald. Die Symbolik des alles verschlingenden Feuers für die Qualen des Autors erdrückt dabei nicht, der Ton bleibt leicht. Dazu eine ausgezeichnete Besetzung, vor allem Paula Beer als lebensfrohe Nadja und Thomas Schubert als miesepetriger Leon.

Deutschland 2023
102 min
Regie Christian Petzold
Bild © Christian Schulz / Schramm Film

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20.000 SPECIES OF BEES

Der achtjährige Aitor ist genervt. Ständig wird es mit seinem Namen angeredet. Viel lieber hätte er einen Mädchennamen. Im Sommerurlaub auf dem Land vertraut sich das Kind seiner bienenzüchtenden Tante an.

Die Berlinale neigt sich langsam ihrem Ende entgegen und es gab bisher noch keinen genderfluiden Film im Wettbewerb! Auftritt der 20.000 Bienen. Das Featuredebüt der Spanierin Estibaliz Urresola Solaguren ist ein netter Kinderfilm mit reizender Besetzung und lobenswertem Anliegen. Die Nichthandlung vom Jungen, der ein Mädchen sein möchte, hätte sich locker in einem Drittel der Zeit wegerzählen lassen.

Originaltitel „20.000 especies de abejas“
Spanien 2023
125 min
Regie Estibaliz Urresola Solaguren
Bild © Gariza Films, Inicia Films

WETTBEWERB

MAL VIVER

MAL VIVER heißt auf Deutsch übersetzt „Kaum Leben“. Das ist es auch, was der Zuschauer schon nach wenigen Minuten empfindet, der diesen Wettbewerbsbeitrag sehen darf. Worum gehts? Um Mütter, die nicht fähig sind, ihre Töchter zu lieben, die wiederum nicht fähig sind, Mütter zu sein.

In dem 127 Minuten langen Filmjuwel aus Portugal giften sich fünf unsympathische Frauen in einem leer stehenden Hotel an. Am Ende sind alle tot. Leider ganz ohne Witz oder wenigstens Camp erzählt.

Portugal / Frankreich 2023
127 min
Regie João Canijo
Bild © Midas Filmes

BERLINALE SPECIAL

GOLDA

Kippen und Kaffee. Die notorische Kettenraucherin Golda Meir war die erste Frau im israelischen Ministerpräsidialamt. GOLDA erzählt vom Jom-Kippur-Krieg 1973. Unter Meirs Führung gewann Israel zwar gegen Ägypten und Syrien, doch Tausende bezahlten dafür mit ihrem Leben.

Ein ordentlich gemachtes Geschichtsdrama, wie es sie dutzendfach gibt. GOLDA ist ein klassischer Faktenfilm, ohne allzu viel Experimentierfreude inszeniert. Die größte Kritik: Regisseur Guy Nattiv vertraut nicht auf Helen Mirrens Schauspielkunst und vergräbt ihr Gesicht unter einer dicken Latexschicht. Als ob sich die Zuschauer auf Golda Meirs Kampf um Israel nur dann einlassen könnten, wenn die Schauspielerin das Aussehen des Originals bis in die letzte Falte imitiert. Höhepunkt des Mummenschanzes ist eine FORREST GUMP-artige Szene, in der die verkleidete Helen Mirren mit echten Archivaufnahmen verschmilzt. Gumminase und technische Spielereien lenken von der eigentlich spannenden Geschichte ab.

GB 2022
100 min
Regie Guy Nattiv
Bild © Jasper Wolf

BERLINALE 2023 – TAG 6

BERLINALE 2023 – TAG 6

Seltsam: Seit Tagen verschickt die Presseabteilung der Berlinale Mails, in denen dezidiert die Ankunftszeiten diverser Berlinale-VIPs aufgelistet sind. Der und der Schauspieler landet mit Flug soundso um 10.10 Uhr am BER. Der und der Regisseur kommt um 16.50 Uhr mit dem Zug am Hauptbahnhof an. Fehlen nur das Gleis und die Wagennummer. Ist es eine Aufforderung, die VIPs abzuholen, damit sie sich nicht in der S- und U-Bahn-gestörten Stadt verlieren? Bei der Qualität des diesjährigen Wettbewerbs wäre Promis durch Berlin fahren wahrscheinlich unterhaltsamer.

WETTBEWERB

LE GRAND CHARIOT

Der Große Wagen ist nicht nur ein Sternbild, er ist auch ein kleines Theater. Philippe Garrel erzählt die Geschichte einer Familie von Puppenspielern: die erwachsenen Geschwister Louis, Martha und Lena, ihr Vater, der die Truppe leitet, und die Großmutter, die die Puppenkostüme näht. Eines Tages stirbt der Vater während einer Aufführung. Seine Kinder müssen entscheiden, ob und wie es mit dem Puppentheater weitergeht.

Schon interessant, wie man nach ein paar Tagen Berlinale einen Film über ein Puppentheater als beinahe mainstreamig wahrnimmt. Geballtes Arthouse in all seinen Schattierungen hinterlässt eben seine Spuren im Hirn. Regisseur Philippe Garrel steht nicht nur selbst vor der Kamera, er hat auch gleich seine eigenen drei Kinder als eben diese besetzt. Eine Familiengeschichte von einer echten Familie gespielt. LE GRAND CHARIOT erfindet das Rad nicht neu, ist aber ein liebenswerter Blick auf Kunst und Künstlerseelen.

Frankreich / Schweiz 2022
95 min
Regie Philippe Garrel
Bild © Benjamin Baltimore / 2022 Rectangle Productions – Close Up Films – Arte France Cinéma – RTS Radio Télévision Suisse – Tournon Films

WETTBEWERB

MUSIC

Echtes Kopfkino. Im Sinne von: total verkopft. Achtung, jetzt wirds anspruchsvoll: Angela Schanelecs Film rätselt sich elliptisch durch den verpuzzelten Mythos des Ödipus (steht jedenfalls so im Presseheft). Es geht von den 1980er-Jahren bis ins Heute, von den Stränden Griechenlands bis an die Seen um Berlin. Dazu spielt der Kassettenrekorder Barockmusik.

Bitte jemand anderen nach seiner/ihrer Meinung fragen. Framerate muss sich wegen erwiesener Ignoranz enthalten. 2019 wurde hier Angela Schanelecs letzter Berlinale-Film ICH WAR ZUHAUSE, ABER… komplett verrissen und gewann anschließend den Silbernen Bären für die beste Regie.

Deutschland / Frankreich / Serbien 2023
108 min
Regie Angela Schanelec
Bild © faktura film / Shellac

HOMMAGE

DIE FABELMANS

Cecil B. DeMilles THE GREATEST SHOW ON EARTH öffnet dem kleinen Sam die Augen, besonders eine Kollisionsszene mit zwei Zügen und einem Auto. Zu Hause stellt er das Unglück mit Spielzeug nach. Seine Mutter bringt ihn auf die Idee, das Ganze zu filmen, damit er es sich so oft ansehen kann, wie er will. Voilà. Das erste Werk des Jungregisseurs ist fertig.

Steven Spielberg erzählt seine eigene Kindheit und Jugend, inklusive gescheiterter Ehe seiner Eltern. Im Januar diesen Jahres gewann THE FABELMANS den Golden Globe als bestes Drama. Er habe sich lange nicht getraut, so eine persönliche Geschichte zu erzählen, sagt der Regisseur bei der Preisverleihung. Quatsch, denn den viel persönlicheren Film über die Ängste seiner Kindheit hat er schon vor 40 Jahren gedreht: ET.

DIE FABELMANS wurde gestern als Deutschlandpremiere im Rahmen der Hommage zu Ehren Steven Spielbergs gezeigt. Die ausführliche Framerate-Kritik erscheint zum Kinostart am 8. März.

Originaltitel „The Fabelmans“
USA 2022
151 min
Regie Steven Spielberg
Bild © Universal Pictures International Germany

PANORAMA

SAGES FEMMES

Es ist fast, als hätte es zu SAGES FEMMES mehrere Drehbücher gegeben. Zum einen zeigt das Drama den hyperrealistisch inszenierten Alltag auf einer Entbindungsstation in Frankreich. Zwischen überfüllten Fluren, Kreißsälen und Monitoren haben die beiden Neuen, Sofia und Louise einen holprigen Start. In der zweiten Hälfte des Films erzählt Regisseurin Léa Fehner dann die recht konventionelle Geschichte einer obdachlosen jungen Mutter, die von den Hebammen in ihre WG aufgenommen wird. Dieser Teil ist weitaus weniger interessant als die Arbeitshölle im Kreißsaal.

Nichts für schwache Nerven: Zwischen echter Geburt, Kaiserschnitt und Tod fließen nicht nur auf der Leinwand die Tränen. Am Ende dann reale Aufnahmen von Hebammen, die für bessere Arbeitsbedingungen und mehr Lohn demonstrieren. Vor allem in der starken ersten Hälfte zeigt SAGES FEMMES die Auswüchse eines völlig unterfinanzierten Gesundheitssystems – unbeschönigt und mitreißend.

Frankreich 2023
99 min
Regie Léa Fehner
Bild © Geko Films

PANORAMA

ALL THE COLOURS OF THE WORLD ARE BETWEEN BLACK AND WHITE

Eine der vielen Farben zwischen Schwarz und Weiss ist Grau. Und davon gibt es ja bekanntermaßen viele Schattierungen. Grau in allen Abstufungen kann es dem Gemüt auch bei diesem gut gemeinten, aber freudlosen Panorama-Beitrag werden.

Halb zog es ihn, halb sank er hin. Bambino lassen die Avancen seiner Nachbarin kalt, denn sein Herz schlägt für den charismatischen Bawa. Gefährlich, denn in Nigeria ist Homosexualität ein Tabu. ALL THE COLOURS… ist ein wichtiger Film mit Anliegen, doch leider ist die Geschichte von der verbotenen Männerliebe unbeholfen inszeniert und auch nicht besonders gut gespielt. Eher quälend.

Nigeria 2023
93 min
Regie Babatunde Apalowo
Bild © Polymath Pictures

PANORAMA

PERPETRATOR

Die Zutaten für ein echtes C-Movie sind alle da: 80er-Jahre Synthie-Musik à la John Carpenter, Overacting plus abstruse Story: Die toughe Jonny bekommt von ihrer Tante zum 18. Geburtstag einen Kuchen nach magischem Familienrezept und macht nach Verzehr eine radikale Metamorphose durch.

Hätte man das alles nicht gefühlt schon hundert Mal in besser gesehen, wäre man vielleicht geschockt. So aber ist Jennifer Reeders Film nur ein müder Aufguss von David Cronenbergs Body Horror gemischt mit soapigen CHILLING ADVENTURES OF SABRINA-Elementen.

USA 2023
100 min
Regie Jennifer Reeder
Bild © WTFilms

BERLINALE 2023 – TAG 5

BERLINALE 2023 – TAG 5

Am Potsdamer Platz hat nach vierhundertjähriger Umbauzeit THE PLAYCE eröffnet. Die Vorkriegsgeneration wird sich erinnern, da waren mal die Arkaden, eine Shoppingmall mit den üblichen Verdächtigen von H&M bis MediaMarkt, die so auch in Gelsenkirchen hätte stehen können. Nun also THE PLAYCE. Eine Wortschöpfung aus Play und Place: ein Spielplatz. Dazu passt, dass sich im 1. OG eine „Arcade“ befindet, eine lärmende Spielhalle, als hätte man sich direkt ins Amerika der 1980er-Jahre zurückgebeamt. Auch der Sinn des gigantischen NBA-Stores im Erdgeschoss erschließt sich wohl nur echten Basketball-Fans. Viele gibts davon scheinbar nicht – bisher überwiegt die Verkäuferzahl die der Kundschaft. Daneben eröffnet demnächst ein Barbie-Mattel-Store. Hinter der Amerikanisierung scheint System zu stecken. Hauptanziehungspunkt soll der gigantische Food-Hub sein, erdacht und umgesetzt von – richtig – einem Amerikaner, der mit dem gleichen Konzept in Prag angeblich Erfolg feiert. Man mag es kaum glauben. Wenn es in der Hölle eine Kantine gibt, dann sieht sie so aus. Ein riesiges, fensterloses Verlies mit 22 Restaurants und dem Charme einer Tiefgarage. Was das alles mit der Berlinale zu tun hat? Einiges, denn die Zeit zwischen den Filmen will gefüllt werden, am liebsten mit Nahrungsaufnahme. Nur kann einem bei all der neuen Trostlosigkeit der Appetit vergehen.

WETTBEWERB

TÓTEM

Tona hat Geburtstag, es wird wohl sein letzter sein. Der junge Vater ist todkrank. Familie und Freund treffen sich zu einem Abschiedsfest. Mittendrin: Tonas siebenjährige Tochter Sol.

Der mexikanischen Autorin und Regisseurin Lila Avilés gelingt das Kunststück, ihren Film und vor allem die junge Schauspielerin Naíma Sentíes absolut authentisch und mit großer Natürlichkeit in Szene zu setzen.

TÓTEM ist eine Liebeserklärung an die Familie, das Leben und den Tod. Keine ganz leichte Kost, aber wer sich darauf einlässt, wird mit einem spirituellen, berührenden und oft komischen Film belohnt. Bis jetzt der stärkste Wettbewerbsbeitrag.

Mexiko / Dänemark / Frankreich 2023
95 min
Regie Lila Avilés
Bild © Limerencia

PANORAMA

PASSAGES

Rainer Werner Fassbinder is back! In körperlich besserer Verfassung zwar, aber mit ähnlich unausstehlichem Verhalten hinter der Kamera. RWF heißt hier Tomas (Franz Rogowski) und ist ein deutscher Regisseur in Paris. Schwul. Eigentlich. Denn nach dem letzten Drehtag verbringt er die Nacht mit einer jungen Frau (Adèle Exarchopoulous). Er beichtet den Seitensprung am nächsten Morgen seinem Ehemann (Ben Whishaw). Doch dann wird aus der Affäre mehr. Nicht nur Tomas muss sich entscheiden, wie es weitergehen soll.

Famos, mit welchem Tempo Regisseur Ira Sachs durch die Geschichte saust. Es wird zwar genrebedingt viel geredet, aber nie zu viel. Kein Todlabern – wenn das Nötigste gesagt ist, prescht die Handlung weiter. Das macht PASSAGES extrem kurzweilig. Wo Ben Whishaw draufsteht, ist selten was Schlechtes drin. So auch hier. Der Brite ist ein Garant für gute Filme, von PADDINGTON bis BOND (er spielt in der Daniel Craig-Ära den Q). Glänzend auch, wie Franz Rogowski absolut glaubwürdig zwischen unsympathischem Kotzbrocken, sensiblem Mann und genervter Zicke wechselt.

Frankreich 2023
91 min
Regie Ira Sachs
Bild © SBS Poductions

PERSPEKTIVE DEUTSCHES KINO

GERANIEN

Schauspielerin Nina kehrt in ihre Heimatstadt zurück, um ihre geliebte Großmutter zu beerdigen. Trotz organisatorischer Probleme und emotionaler Schwierigkeiten mit ihrer entfremdeten Mutter findet die Familie in ihrer unterschiedlich ausgelebten Trauer (fast) zueinander. Und dann muss sich Nina noch entscheiden: Charakterschauspielerin bleiben oder doch eine gut bezahlte Rolle im TRAUMSCHIFF annehmen?

GERANIEN ist ein konventionell gemachter, aber durchaus liebenswerter Film. Regisseurin Tanja Eden hat die ehrliche Art der Ruhrpottler inklusive Trinkhallen und spießiger Reihenhauskultur glaubwürdig eingefangen. Durchweg gut gespieltes Drama mit komischen Elementen.

Deutschland 2023
84 min
Regie Tanja Eden
Bild © Claudia Schroeder

PANORAMA

HEROICO

Untergebene anschreien, nach oben buckeln und nach unten treten. Diese Verhaltensmuster kennt man sonst nur von der Unternehmenskultur eines großen Automobilkonzerns, in HEROICO ist es der Alltag in einer Kaserne. Der 18-jährige Luis verpflichtet sich als Soldat, hauptsächlich wegen der Krankenversicherung für sich und seine kranke Mutter. Sein neues Leben an der nationalen Militärakademie Mexikos wird zur Qual.

Regisseur David Zonanas Film beginnt als klassisches Soldaten-Ausbildungsdrama, wie man es seit FULL METAL JACKET schon oft gesehen hat. Doch nach und nach entwickelt sich die Geschichte zu einem Horrortrip. Was ist wahr, was ist Einbildung? Alptraum und Realität vermischen sich immer mehr. Guter Film und ein weiterer Beweis, dass am Soldatenleben rein gar nichts schön ist.

Mexiko / Schweden 2023
88 min
Regie David Zonana
Bild © Teorema