BERLINALE 2024 – TAG ZWEI

BERLINALE 2024 – TAG ZWEI

Hat ein Wahnsinniger die Absperrungen am Potsdamer Platz aufgestellt? Nirgendwo geht’s rein, nirgendwo geht’s raus. Wenn schon nicht das Wegeleitsystem, dann doch zumindest das Design gelobt: Der hochelegante Bär, der mal mit lächelndem Gesicht, mal mit angehobener Tatze die Berlinale-Plakate ziert, ist eine riesige Verbesserung gegenüber der 80er-Jahre Frisörwerbung vom letzten Jahr. Fell ist nämlich immer ganz gut …

Wettbewerb

A DIFFERENT MAN

A DIFFERENT MAN

Schauspieler Edward leidet unter einer starken Gesichtsdeformation. Dank eines neuen Medikaments sieht er bald wie Hollywoodstar Sebastian Stan aus. Äußerlich ändert sich einiges in seinem Leben, und doch bleibt im Grunde alles gleich.

A DIFFERENT MAN hat ein paar hübsche schräge Ideen, mit Adam Pearson einen sehr charmanten scene-stealer und eine ganze Reihe Probleme. Die platte Message „Was nützt die schönste Fassade, wenn die inneren Werte nicht stimmen“ wird mit dem Holzhammer transportiert. Dazu führt das unausgewogene Tempo zu langatmigen Szenen, während der Wechsel zwischen Psycho-Drama und Möchtegern-Thriller auf Dauer anstrengt. Regisseur Aaron Schimberg präsentiert dem Zuschauer haufenweise Indie-Klischees und wenig Subtilität.

INFOS ZUM FILM

USA 2023
112 min
Regie Aaron Schimberg
Bild © Faces Off LLC

Wettbewerb

LA COCINA

Wer beim Titel LA COCINA einen Film übers Kochen erwartet, liegt gründlich falsch. Der mexikanische Wettbewerbsbeitrag spielt zwar zu großen Teilen in der Küche eines New Yorker Restaurants, doch ums Zubereiten von Speisen geht es nur am Rande. Nein, LA COCINA ist eine shakespearsche Tragödie mit allem Drum und Dran: Liebe, Verrat, das ganz große Drama. Und wie es sich für ein Drama gehört, wird über zwei Stunden lang leidenschaftlich gelitten und gestritten.

Die Geschichte spielt hinter den Kulissen der Touristenfalle „The Grill“ am Times Square. Der mexikanische Koch Pedro (Raúl Briones Carmona), ein Illegaler, ist schwer in die Kellnerin Juilia (Ronney Mara) verliebt. Als er erfährt, dass sie von ihm schwanger ist und abtreiben will, sieht er rot. Beziehungsweise grau, denn LA COCINA ist in strengem Schwarz-Weiß gedreht. Dass Dialoge, Rhythmus und Inszenierung theaterhaft wirken, kommt nicht von ungefähr: Der Film basiert auf dem gleichnamigen Bühnenstück von Arnold Wesker. Kein Wunder, dass man sich wie beim Tableread zu einem Off-Broadway-Stück fühlt.

Die Küche als Hölle auf Erden. All das Geschreie und Gefluche mag zwar authentisch sein, zerrt aber auf Dauer nicht nur an den Nerven der Protagonisten. LA COCINA ist so anstrengend wie eine Doppelschicht in der Großraumküche.

INFOS ZUM FILM

Mexiko / USA 2024
139 min
Regie Alonso Ruizpalacios
Bild © Juan Pablo Ramírez / Filmadora

Wettbewerb

Ein kleines Stück vom Kuchen

MY FAVORITE CAKE

Mahin (70) lebt allein, ihre Kinder sind ins Ausland weggezogen. Eines schönen Tages beschließt sie, dass es genug mit der Einsamkeit ist und ihr Liebesleben einen Neustart braucht. Die Spontanromanze mit einem Taxifahrer entwickelt sich rasch zu einem in vielerlei Hinsicht unvergesslichen Abend.

Schon Maryam Moghaddams und Behtash Sanaeehas vorheriger Film BALLAD OF A WHITE COW wurde nicht nur bei Framerate in den höchsten Tönen gelobt und entwickelte sich schnell zum Publikumsliebling der Berlinale 2021. Auch KEYKE MAHBOOBE MAN läuft im Wettbewerb und es wäre ein Wunder, wenn es nicht irgendeinen Bären dafür gäbe. Die zarte Liebesgeschichte zwischen zwei Rentnern in Teheran hat alles, was Kino braucht: Tragik, eine gute Story, zwei herausragende Darsteller (Lily Farhadpour & Esmail Mehrabi) und vor allem viel Humor.

Gar nicht lustiger sad-fact: Gegen das iranische Autoren- und Regie-Duo Maryam Moghaddam und Behtash Sanaeeha wurde ein Reiseverbot verhängt. Ihre Pässe wurden konfisziert und ihnen droht in Bezug auf ihre Arbeit als Filmemacher ein Gerichtsverfahren.

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Originaltitel „Keyke Mahboobe Man“
Iran / Frankreich / Schweden / Deutschland 2024
97 min
Regie Maryam Moghaddam und Behtash Sanaeeha
Bild © Hamid Janipour

Panorama

BRIEF HISTORY OF A FAMILY

Der 15-jährige Waisenjunge Yan Shuo wanzt sich in die Familie seines Mitschülers Tu Wei. Die wohlhabenden Eltern nehmen ihn schnell als zweiten Sohn an. Ein Plädoyer für die Wiedereinführung der Ein-Kind-Politik? Man weiß es nicht. Der stilvolle, aber spannungsarme Thriller besticht immerhin durch unterschwellig bedrohliche Atmosphäre, doch am Ende ist man so schlau wie zu Beginn.

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Originaltitel „Jia ting jian shi“
Volksrepublik China / Frankreich / Dänemark / Katar 2024
99 min
Regie Lin Jianjie
Bild © First Light Films, Films du Milieu, Tambo films

Panorama

PENDANT CE TEMPS SUR TERRE

Eines Tages wird Elsa von einer außerirdischen Lebensform kontaktiert, die behauptet, sie könne den im Weltraum verschollenen Bruder der jungen Frau zur Erde zurückbringen. Doch der Preis dafür ist hoch. Regisseur Jérémy Clapin will uns mit PENDANT CE TEMPS SUR TERRE wahrscheinlich etwas über Trauer und Verlust erzählen. Dazu nutzt er eine Mischung aus Body-Horror, Science Fiction, Zeichentrick und französischem Arthouse-Kino. Kunst halt. Sehenswert nur wegen der tollen Hauptdarstellerin Megan Northam.

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Englischer Titel „Meanwhile on Earth“
Frankreich 2024
88 min
Regie Jérémy Clapin
Bild © Manuel Moutier

Generation Kplus

Sieger Sein

SIEGER SEIN

Mona ist mit ihrer kurdischen Familie aus Syrien geflüchtet und landet im Berliner Wedding, dem Bezirk, der seit 30 Jahren kommt. In ihrer neuen Schule ist sie „voll das Opfer“, bis sie beim Fussballspielen beweisen kann, was in ihr steckt. Ganz erstaunlich, dass es sich bei SIEGER SEIN um einen Debütfilm handelt. Denn es wimmelt nur so von Klischees. Regisseurin Soleen Yusef will es allen recht machen: Der jungen Zielgruppe ebenso, wie den vereulten Redakteuren der Öffentlich-Rechtlichen. Besonders nervig sind dabei die didaktischen Ansätze. Ein bisschen Zuwendung und schon hebt der gerade noch respektlose Rotzlöffel im Unterricht brav die Hand und fragt mit großen Augen „Was ist Diktatur?“ Erklärung folgt, wieder was gelernt – Bruda, isch schwöre!

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Englischer Titel „Winners“
Deutschland 2024
119 min
Regie Soleen Yusef
Bild © Stephan Burchardt / DCM

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BERLINALE 2024 – TAG EINS

BERLINALE 2024 – TAG EINS

„Menschen, die in metaphorischen Käfigen gefangen sind“ - unter diesem Gute-Laune-Motto steht laut künstlerischem Leiter Carlo Chatrian die diesjährige Auswahl der Wettbewerbsfilme. Und damit welcome, bienvenue und herzlich willkommen zu einer neuen Runde Berlinale. Für das glücklose Führungsduo Mariëtte & Carlo ist es die vorläufig letzte. Ab 2025 übernimmt Tricia Tuttle (keine name-jokes) und weckt schon bei ihrem ersten Auftritt die leise Hoffnung, dass das größte Publikumsfestival in Zukunft wieder etwas zugänglicher wird und weniger sperriges Kopfkino präsentiert. Aber jetzt erst mal Kaffee in den Körper und los geht’s mit dem Eröffnungsfilm:

Wettbewerb

SMALL THINGS LIKE THESE

Die bange Frage: Ist der Eröffnungsfilm in diesem Jahr wieder besonders schlecht? Ganz im Sinne Chatrians geht’s mit schwerer Kost los. Als Lieferant für entsetzliche Geschichten ist die Kirche stets ein verlässlicher Quell: In SMALL THINGS LIKE THESE geht es nicht um Hexenverbrennung oder Kindesmissbrauch, sondern um ein unbekannteres Verbrechen. Das Drama beschäftigt sich mit den irischen „Magdalenen-Wäschereien“. Das waren Heime, die zwischen 1820 und Mitte der 1990er-Jahre von römisch-katholischen Institutionen betrieben wurden. Vorgeblich sollten dort „gefallene junge Frauen“ reformiert werden, in Wahrheit wurden sie misshandelt, ausgebeutet und ihrer Kinder beraubt. Der Kohlehändler Bill Furlong (Cillian Murphy) kommt eher unfreiwillig hinter die korrupten Machenschaften des Klosters und weckt dabei Erinnerungen an seine eigene traumatische Kindheit.

Zugegebenermaßen fällt es schwer, sich auf den Film zu konzentrieren, wenn nebendran ein dauerkaugummikauender, handybrummender, reißverschlußaufundzumachender Zuschauer sitzt. Da wünscht man sich den stillen Brüter Cillian Murphy als Platznachbarn, der weint sogar lautlos. Ist es zu früh zu prophezeien, dass er den Bären als bester Schauspieler bekommen könnte?

SMALL THINGS LIKE THESE ist erwachsenes, ernstes Kino, mit leichter Tendenz ins Zähe. Düster und ohne jede Leichtigkeit, aber herausragend gespielt und inszeniert. Es gab bei Gott schon schlechtere Berlinalestarts.

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Deutscher Titel „Kleine Dinge wie diese“
Irland / Belgien 2024
96 min
Regie Tim Mielants
Bild © Shane O’Connor

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SCHOCK

SCHOCK

Und es geht ja doch: Ein richtig guter Gangsterfilm aus Deutschland, ganz ohne Digger-Dialoge.

Ab 15. Februar 2024 im Kino

„Bruda, Du bist Ehrenmann!“ Man hat sich mittlerweile daran gewöhnt, dass in deutschen Gangsterfilmen gesprochen wird, wie sonst nur an Berliner Schulen. Selbst Kinder ersetzen das gute alte „ch“ durch „sch“. Digger, krass und „Isch schwöre beim Leben meiner Mutta“ gehören zur Alltagssprache 10-Jähriger. Deshalb großes Lob an Daniel Rakete Siegel und Denis Moschitto: In ihrer gemeinsamen Regiearbeit sprechen die Ganoven geschliffenes Hochdeutsch.

Für einen deutschen Thriller ungewöhnlich cool

Bruno (ausgezeichnet: Denis Moschitto) ist ein Arzt, der wegen Drogenmissbrauchs seine Approbation verloren hat. Nun kümmert er sich um Patienten außerhalb des Systems: Illegale oder Kriminelle, die aus diversen Gründen nicht ins Krankenhaus können. Die Probleme beginnen, als ihm seine Anwältin (Anke Engelke in einer Gastrolle) 50.000 € für einen scheinbar simplen Job bietet: Er soll einem italienischen Mafioso eine Antikörpertherapie verabreichen. Doch nicht nur das Beschaffen des Medikaments löst eine Kette von Katastrophen aus, Brunos Schwager Giuli (durch Halbglatze und Wampe schön verunstaltet: Fahri Yardim) ist zudem als Killer auf den kranken Italiener angesetzt.

Bildgestaltung, Schauspiel und Atmosphäre sind für einen deutschen Thriller ungewöhnlich cool. Aus der Not des begrenzten Budgets haben die beiden Regisseure eine Tugend gemacht. Die Handlung spielt zu großen Teilen in verregneten Nächten – das ist stimmungsvoll und sieht auch noch gut aus. Es gibt keine unnötig ausgewalzten Backstorys, kein overacting und keine lachhafte Möchtegern-Hollywood-Action. SCHOCK ist ein atmosphärisch dichter Genrefilm aus Deutschland, an dem sich der gute alte TATORT ein Beispiel nehmen könnte. So geht spannende Krimiunterhaltung.

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Deutschland 2023
104 min
Regie Daniel Rakete Siegel und Denis Moschitto

alle Bilder © Filmwelt Verleihagentur

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EINE MILLION MINUTEN

EINE MILLION MINUTEN

Zufall oder Absicht? EINE MILLION MINUTEN zeigt auffallende Parallelen zu WOCHENENDREBELLEN - ist aber der bessere Film.

Ab 01. Februar 2024 im Kino

Die Geschichte kommt einem bekannt vor: Vater ist viel unterwegs, macht Karriere. Mutter kümmert sich um Kinder und Haushalt, ist frustriert. Opa wird von Joachim Król gespielt. Eines der Kinder hat eine leichte Behinderung. Nix Garstiges, irgendwas, was man fast nicht sieht. ADHS oder so. Und weil keine Therapie anschlägt und das Kind es sich abends beim Zubettgehen so sehr wünscht, fasst die Familie einen verrückten Plan: Sie fahren gemeinsam durch sämtliche Fußballstadien Deutschlands. Nein, das war der andere Film. Sie machen eine Weltreise für 1.000.000 Minuten (entspricht knapp zwei Jahren). Und weil Kinder nicht nur im Prenzlberg an der Macht sind, dürfen sie den Verlauf der Tour bestimmen. Kurz mit dem kleinen Finger auf den Globus getippt – und los geht’s. Doch dass man, egal wohin man reist, seine Probleme immer wie einen schweren Koffer mit sich trägt, ist eine Binsenweisheit.

Das Leben ist der beste Autor

Ohne jeden Zynismus kann man sagen, dass hier die Probleme von extrem privilegierten Menschen thematisiert werden. So hält sich das Mitleid in Grenzen, wenn die Familie bei ihrem Selbstfindungstrip in fantastischen Häusern mit direktem Meerzugang residiert und das größte Problem eine instabile Internetverbindung ist. Darauf ein kühles Bier am Strand.

Dass EINE MILLION MINUTEN um Klassen besser als sein Doppelgänger WOCHENENDREBELLEN ist, hat mehrere Gründe: Zum einen sieht er besser aus. Kameramann Andreas Berger hat den Film fürs Kino gedreht und vermeidet kleinliches TV-Format. Zum anderen beweist Regisseur Christopher Doll bei der Besetzung der Hauptrollen mit Karoline Herfurth und Tom Schilling ein glückliches Händchen. Den beiden ist es zu verdanken, dass EINE MILLION MINUTEN keine banale deutsche Komödie mit Herz-Schmerz-Elementen geworden ist. Ganz im Gegenteil. Abgesehen von den etwas nervigen „Bilder einer glücklichen Familie mit gefälliger Popmusik unterlegt“-Sequenzen hat der Film viele erstaunlich ernste und berührende Momente.

Das Leben ist eben doch der beste Autor: Wie WOCHENENDREBELLEN basiert auch EINE MILLION MINUTEN auf einer wahren Geschichte. Die Buchvorlage stammt von Wolf Küper, der mit seiner Familie nach Stationen in Australien, Neuseeland und Asien inzwischen in Kapstadt lebt. Christopher Doll liefert mit der Verfilmung eine emotionale und wohltuend untypisch deutsche Tragikomödie ab – sehenswert.

INFOS ZUM FILM

Deutschland 2024
123 min
Regie Christopher Doll

alle Bilder © Warner Bros. Pictures Germany

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HOME SWEET HOME – WO DAS BÖSE WOHNT

HOME SWEET HOME – WO DAS BÖSE WOHNT

Ab 25. Januar 2024 im Kino

Können Deutsche Horror? Regisseur Thomas Sieben hat’s versucht und scheitert mit seinem ROSEMARIES BABY für Arme kläglich.

Trotzdem erst mal Lob: HOME SWEET HOME – WO DAS BÖSE WOHNT ist ein Horrorfilm aus Deutschland. Allein das macht ihn schon zu etwas Besonderem. Genrekino hat es jenseits von Krimi, Comedy und Liebesschnulze hierzulande immer noch schwer. Und die ersten 30 Minuten des Films sind sogar ganz gut. Kindheitsängste wie Stromausfall, pfeifender Wind und dunkle Keller werden gekonnt in Szene gesetzt. Dazu kann HOME SWEET HOME – WO DAS BÖSE WOHNT technisch beeindrucken. Regisseur Sieben hat mit seinem Kameramann einen sogenannten „One Shot“ gedreht, das heißt, es gibt keinen sichtbaren Schnitt, die komplette Story entfaltet sich in einer einzigen, langen Einstellung. Normalerweise wird sowas mit schnellen Reißschwenks oder anderen optischen Tricksereien kaschiert, hier hingegen merkt man nichts, die Geschichte scheint tatsächlich in Echtzeit stattzufinden.

Richtig schlecht

Die hochschwangere Maria (Nilam Farooq) will im entlegenen Landhaus ihres Schwiegervaters (Justus von Dohnányi) noch ein bisschen räumen. Zusammen mit ihrem Verlobten Viktor (David Kross) plant sie hier demnächst ein Bed & Breakfast zu eröffnen. Als die beiden Abends telefonieren, gehen im Haus plötzlich die Lichter aus. Während Maria im Keller eine neue Sicherung eindreht, hört sie unheimliche Geräusche. Sie geht der Sache nach und entdeckt dabei einen geheimen Raum, in dem sich ein schreckliches Familiengeheimnis verbirgt. 

Nun die bittere Wahrheit: HOME SWEET HOME – WO DAS BÖSE WOHNT ist richtig schlecht. Und das liegt vor allem am Drehbuch. Das hat sich Regisseur Thomas Sieben selbst ausgedacht, es könnte aber auch aus der Feder eines minderbegabten 10-Jährigen stammen, der sich in seiner Freizeit für Gespenster-Groschenromane begeistert. Neben unfreiwillig komischen Dialogen kommt jede Wendung der Geschichte mit Ansage. Nilam Farooq gibt alles, versucht aber erfolglos gegen das hanebüchene Drehbuch anzuspielen. Auch David Kross kann nichts mehr retten und stößt vielleicht zum ersten Mal in seiner Karriere an die Grenzen seiner Möglichkeiten. Schade drum.

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Deutschland 2023
84 min
Regie Thomas Sieben

alle Bilder © Constantin Film

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STELLA. EIN LEBEN.

STELLA. EIN LEBEN.

Ab 25. Januar 2024 im Kino

Blondiert, elegant und skrupellos - Stella Goldschlag verrät während des Zweiten Weltkriegs jüdische Mitbürger, um ihre eigene Haut zu retten.

Berlin 1940: Sie lebt und liebt Jazz. Der große Traum vom Engagement in New York wird sich nicht erfüllen, denn Stella und ihre Freunde sind Juden. Sie kann zwar zunächst untertauchen, doch 1943 wird sie verhaftet. Um sich und ihre Eltern zu retten, arbeitet sie im Auftrag der Gestapo, sucht nach jüdischen Mitbürgern und denunziert sie. 

War Stella Goldschlag ein Monster?

Zwischen 600 und 3.000 Juden verrät Stella Goldschlag und stürzt sie damit ins Verderben. Nach Kriegsende will sie sich als „Opfer des Faschismus“ anerkennen lassen, später konvertiert sie zum Christentum und wird bekennende Antisemitin. Paula Beer spielt die ambivalente Figur gewohnt facettenreich, doch als Zuschauer bleibt man distanziert. Es fällt schwer, irgendeine Form von Sympathie oder Mitgefühl (trotz brutaler Folter durch die Gestapo) für eine Kollaborateurin zu entwickeln, die sich derart skrupellos verhält. Wie sie gemeinsam mit ihrem Freund, dem Passfälscher Rolf Isaaksohn, nicht nur überteuerte Ausweispapiere an Juden verkauft, sondern sich bald einen genussvollen Sport daraus macht, sogar enge Freunde zu verraten – das ist schon ganz und gar widerlich.

Den Kudamm der 40er-Jahre hat Set-Designer Albrecht Konrad kurzerhand an der Frankfurter Allee nachgebaut. Das sieht täuschend echt aus und ist eine Wohltat gegenüber den sonst üblichen, im Computer generierten Kulissen. STELLA. EIN LEBEN. besticht immerhin durch tolle Ausstattung. Doch sowohl in der Besetzung als auch in der Bildsprache ist der Film eigenartig modern. Zu keinem Moment glaubt man ernsthaft, Jannis Niewöhner oder Damian Hardung seien Menschen aus der damaligen Zeit. Kameramann Benedict Neuenfels zoomt und wackelt dazu durch die Geschichte, als würde er einen Jason-Bourne-Film in den 2000er-Jahren drehen – auch das wirkt angestrengt und fehl am Platz.

Ein zwiespältiger Film über eine (mehr als) zwiespältige Frau. War Stella Goldschlag ein Monster? Darüber zu urteilen, fällt schwer. Über allem steht die ewige Frage: „Was hätte man selbst getan?“ Stella Goldschlag war Täterin und Opfer zugleich. STELLA. EIN LEBEN. hat inszenatorische Schwächen, erzählt aber eine hochinteressante und gleichzeitig verstörende wahre Geschichte.

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Deutschland 2023
115 min
Regie Kilian Riedhof

alle Bilder © MAJESTIC

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ROLE PLAY

ROLE PLAY

Ab 04. Januar 2024 im Kino

Happy 2024! Fangen wir das neue Jahr mit einem kleinen Quiz an: Was haben folgende Schlagzeilen mit dem Actionfilm ROLE PLAY zu tun? „Studio Babelsberg: Eben noch Hollywood, jetzt Flaute“ - „Steht das Filmstudio Babelsberg vor dem Aus?“

Die Antwort: Ganz einfach, die Babelsberger haben ROLE PLAY co-produziert und stehen jetzt vor der Insolvenz. Ob das eine mit dem anderen zu tun hat, ist nicht erwiesen, aber gut möglich. Schon bei der Auswahl seiner letzten Projekte zeigte das Studio ein feines Gespür für Kassenschlager: BAGHEAD, RETRIBUTION und DIE LETZTE FAHRT DER DEMETER waren echte Rohrkrepierer.

So spannend sind wie das Warten auf die U-Bahn

Vor genau 30 Jahren kam TRUE LIES mit Arnold Schwarzenegger in die Kinos. Für ROLE PLAY gilt: anderer Film, gleiche Geschichte, gleiche Ideenarmut. Emma (Kaley Cuoco) führt mit ihrem Mann Dave (David Oyelowo) eine halbwegs glückliche Ehe, inklusive zwei nerviger Kinder. Beruflich ist sie viel unterwegs, angeblich zu langweiligen Seminaren. In Wahrheit ist sie eine hochbezahlte Auftragskillerin, die weltweit unangenehme Zeitgenossen ausschaltet. Die Familie hat von Muttis Doppelleben keine Ahnung – bis eines Tages … den Rest kann man sich denken.

Auch wenn die Undercover-Killer-Geschichte noch halbwegs interessant klingt – die Umsetzung ist es nicht. Statt packender Action gibt es endlose Dialoge, die so spannend sind wie das Warten auf die U-Bahn. Wenn dann doch mal was passiert, erinnert es eher an eine schlechte Kindergarten-Aufführung als an einen Actionfilm. Komödie? War wohl die Intention, ist aber eher unfreiwillig komisch. Was den eigentlich immer brillanten Bill Nighy dazu bewogen hat, hier eine Nebenrolle zu übernehmen, bleibt sein Geheimnis.

TV-Regisseur Thomas Vincent versucht verzweifelt, auf der KILLING EVE-Welle zu surfen, scheitert jedoch kläglich. Die öde Geschichte, die sich fürchterlich clever vorkommt, spielt irgendwann auch mal in Berlin – Studio Babelsberg sei Dank. Die einzige Erkenntnis, die man am Ende gewinnt: Die Hauptstadt ist dreckig und hässlich wie nie, es gibt Technoclubs an jeder Ecke, und wenn man nur will, kann man sogar den schlimmsten Feierabendverkehr in Kreuzberg umfahren.

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Originaltitel „Role Play“
USA / Deutschland / Frankreich 2024
100 min
Regie Thomas Vincent

alle Bilder © STUDIOCANAL

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BAGHEAD

BAGHEAD

Ab 28. Dezember 2023 im Kino

Vielleicht klappt’s ja mit Clickbait: Als wir erfuhren, wie schlecht dieser Film ist, wollten wir es zunächst nicht glauben! Lies die ganze Geschichte hier!

BAGHEAD ist ein Märchenfilm: Im Keller eines jahrhundertealten Pubs wohnt eine untote Hexe, die für zwei Minuten Tote ins Reich der Lebenden zurückbringen kann.

Märchenhaft schlecht

Märchenhaft schlecht ist nicht nur die Geschichte, sondern auch Schauspiel und Inszenierung. BAGHEAD ist eine weitere Perle aus der insolventen Studio-Babelsberg-Schmiede. Glaubt man Film und Ausstattung, ist das heutige Berlin (da spielt das Ganze aus nicht nachvollziehbaren Gründen) eine düstere, ständig verregnete Stadt voll geheimnisumwitterter Orte. Na gut, das mit verregnet mag ja noch stimmen – aber wo ist es denn bitteschön hier noch geheimnisvoll? Seit der über 20 Jahre andauernden Kernsanierung ist Berlin ungefähr so mystisch wie eine Starbucks-Filiale.

Regisseur Alberto Corredor hat seinen sehenswerten Kurzfilm von 2017 auf Spielfilmlänge ausgewalzt. Das funktioniert nur bedingt und auf vielen Ebenen überhaupt nicht. Außer zu lauten Toneffekten erzeugt sein hanebüchenes Erstlingswerk vor allem keinen Grusel. Das ist nicht gut bei einem Gruselfilm. Wie man eine sehr ähnliche Geschichte über Kontakte ins Totenreich originell und frisch erzählt, hat zuletzt der um Längen bessere australische Horrorfilm TALK TO ME gezeigt.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Baghead“
USA / Deutschland 2023
95 min
Regie Alberto Corredor

alle Bilder © STUDIOCANAL

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PERFECT DAYS

PERFECT DAYS

Ab 21. Dezember 2023 im Kino

Nach ANSELM der nächste gute Film von Wim Wenders in diesem Jahr. Eine Liebeserklärung an Tokio, die Einfachheit der Dinge und - Toilettenhäuschen.

Selbst Genies wie Lou Reed haben ein Faible für die schlichten Freuden des Lebens: Ein perfekter Tag kann aus einem Schluck Sangria im Park, einer Fütterung der Tiere im Zoo und einem Kinobesuch bestehen. Ganz ähnlich – auf der anderen Seite des Globus – gleitet der Japaner Hirayama durch seinen eigenen Tagesablauf: ein Ballett der Routine, vom morgendlichen Rasieren bis hin zur Pflege seiner Pflanzen, gekrönt von einer gewöhnlichen, aber akribisch und liebevoll ausgeführten Arbeit – dem Reinigen von öffentlichen Toilettenhäuschen. Hirayama, dessen Leben von Musik und Literatur durchdrungen ist, wird durch unerwartete Begegnungen mit seiner eigenen Vergangenheit konfrontiert. Die Handlung, die sich langsam entfaltet, zeigt, dass selbst im scheinbar Gewöhnlichen verborgene Geschichten stecken können. 

Eine Liebeserklärung an Tokio

Anfang 2022 erhält Wim Wenders einen Brief aus Tokio: „Hätten Sie Interesse, nach Tokio zu kommen und sich ein höchst interessantes soziales Projekt anzuschauen? Es handelt sich um ein gutes Dutzend öffentlicher Toiletten, die allesamt von großen Architekten gebaut wurden.“ Der Regisseur ist begeistert und beschließt, zusammen mit Co-Autor Takuma Takasaki ein Drehbuch rund um die wunderschönen Miniaturbauten zu schreiben.

Die Entscheidung, den Film in nur 16 Tagen zu drehen, erweist sich als kreativer Glücksfall, denn alles wirkt spontan und authentisch, fast dokumentarisch. Wenders‘ Blick auf Tokio ist eine Liebeserklärung an die Stadt. PERFECT DAYS entführt die Zuschauer auf eine poetische Reise durch das scheinbar gewöhnliche Leben eines scheinbar gewöhnlichen Mannes. Dass dahinter mehr steckt, wird nur zart angedeutet und damit der Fantasie des Zuschauers überlassen. Koji Yakusho brilliert in der Hauptrolle als Hirayama und wurde zu Recht mit dem Preis als Bester Darsteller bei der Weltpremiere in Cannes ausgezeichnet.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Perfect Days“
Japan 2023
123 min
Regie Wim Wenders

alle Bilder © DCM

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GIRL YOU KNOW IT’S TRUE

GIRL YOU KNOW IT’S TRUE

Ab 21. Dezember 2023 im Kino

Sie verkauften 14 Millionen Alben, wurden zu Stars - gesungen haben andere. Ist die Geschichte von Milli Vanilli knapp 30 Jahre später noch relevant genug, um daraus einen Kinofilm zu machen?

Der kometenhafte Aufstieg und der krasse Absturz der beiden Backgroundtänzer Robert Pilatus und Fabrice Morvan, besser bekannt als Milli Vanilli, ist 1993 der größte Skandal, den die Musikgeschichte bis dato erlebt hat. Vergleichbar in etwa, wenn heute rauskäme, dass Taylor Swift seit Jahren die Lippen zum Playback einer anderen Sängerin bewegt. Milli Vanilli sind internationale Stars aus München. Nummer eins Hits weltweit, vergöttert in Amerika und Gewinner des Grammys als Best New Artists. Doch dann lässt Produzent Frank Farian bei einer Pressekonferenz die Bombe platzen: Rob und Fab haben nicht einen Ton auf ihrem millionenfach verkauften Album selbst gesungen. Alles Lug und Trug. Ihre Platten werden öffentlich von enttäuschten Fans mit Bulldozern zermalmt.

Eine alberne deutsche Klamotte auf RTL-Niveau?

Wenn Menschen, die es gut mit einem meinen, hören, dass man sich bei strömendem Regen zur Pressevorführung eines Milli Vanilli-Biopics mit Matthias Schweighöfer (!) aufmacht, erntet man Mitleid. Warum tust Du dir das an? Die eigene Lust ist auch nicht gerade groß, schließlich sieht der Trailer verboten schlecht aus. Eine alberne deutsche Klamotte auf RTL-Niveau über zwei Fake-Musiker – wer braucht das? Und dann die große Überraschung: Nicht nur nervt Schweighöfer nicht, der Film ist richtig gut. Unterhaltsam, witzig und vor allem auf den Punkt besetzt. Tijan Njie und Elan Ben Ali sehen den Originalen unfassbar ähnlich und können auch noch spielen.

Die Rahmenhandlung zeigt die beiden auf dem Höhepunkt ihrer Karriere. In einem luxuriösen Hotelzimmer auf die Couch gefläzt, erzählen sie ihre Geschichte. Dabei durchbricht Regisseur Verhoeven, wie auch später bei anderen Szenen, die vierte Wand. Die Darsteller sprechen direkt zu den Zuschauern. Nur eine von vielen guten Ideen, die den Film auch visuell interessant machen. Schön widerlich ist die Ausstattung. Wer dabei war, erinnert sich: so geschmacklos sah Ende der 80er-Jahren die Mode wirklich aus. Neben der eigentlichen Skandalgeschichte gibt es Wissenswertes über die Abgründe des Musikbusiness (der große Hit „Girl you know it’s true“ war geklaut – Farian selbst nennt es eine Neuinterpretation) und die familiären Hintergründe der beiden gefallenen Stars.

Wie so oft, findet auch GIRL YOU KNOW IT’S TRUE kein Ende. Es gibt da eine bestimmte Szene mit einem Walkman, die das perfekte Schlussbild für diesen unerwartet guten Film gewesen wäre. Aber das ist nur ein kleines Manko – die unglaublich wahre Geschichte von Milli Vanilli ist eine echt gelungene Überraschung zu Weihnachten.

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Deutschland 2023
124 min
Regie Simon Verhoeven

alle Bilder © LEONINE Studios

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DIE TRIBUTE VON PANEM – THE BALLAD OF SONGBIRDS & SNAKES

DIE TRIBUTE VON PANEM – THE BALLAD OF SONGBIRDS & SNAKES

Ab 16. November 2023 im Kino

Und noch eine Fortsetzung: Das Prequel zu einer Trilogie, die schon in vier Teile zerdehnt war. Hat die Menschheit wirklich auf die Vorgeschichte zu den Hunger Games gewartet?

Erstmal: dett is nich meen Berlin! Wieso Berlin? Als es den Babelsberger Filmstudios noch gut ging und diverse Streiks nicht die halbe Industrie lahmlegten, wurde die US-Produktion DIE TRIBUTE VON PANEM – THE BALLAD OF SONGBIRDS & SNAKES zu großen Teilen in der deutschen Hauptstadt gedreht – und das sieht man. Szenenbildner Uli Hanisch hat vom Olympiastadion über den Strausberger Platz bis zum Krematorium Baumschulenweg (werden da eigentlich auch noch Bestattungen durchgeführt oder nur noch Filme gedreht?) diverse Motive in beeindruckende Endzeit-Settings umgebaut. So macht der Film vor allem Berlinern Laune beim heiteren Locationraten.

Fühlt sich wie die komplette Staffel einer Serie an

Basierend auf der Bestseller-Reihe von Suzanne Collins werden „Die Tribute von Panem“-Kinofilme weiter ausgeschlachtet. Nachdem Regisseur Lawrence kürzlich selbst zugab, dass das Splitten des dritten Films in zwei Teile „ein schwerer Fehler“ gewesen sei, geht es nun mit dem fünften beziehungsweise ersten Prequel-Teil weiter. Die Vorgeschichte der gefürchteten Hungerspiele stellt den jungen Coriolanus (Tom Blyth) in den Mittelpunkt, lange bevor er zum Präsidenten von Panem wird (in Teil eins bis vier von Donald Sutherland gespielt). Als Sprössling einer einst vermögenden Familie wird er zum Mentor von Lucy Gray (Rachel Zegler) ernannt, einem Mädchen aus dem verarmten Distrikt 12. Schnell wittert er seine Chance, Familienehre und Macht zurückzuerlangen.

Bis in die Nebenrollen hochkarätig besetzt: Oscarpreisträgerin Viola Davis goes full camp als Dr. Volumnia Gaul. Trotz aufgeplatzter Sofakissen-Frisur und grellem Make-up ist sie weniger furchteinflößend, als sie es hätte sein wollen und lässt dabei die Grenzen zum overacting weit hinter sich. Ausgezeichnet dagegen: Jason Schwartzman als schmieriger Showmoderator und der immer herausragende Peter Dinklage in der Rolle des tragischen Antihelden. Nach THE MARVELS trällert es auch in den Tributen gewaltig. Noch ein Actionspektakel, in dem gesungen wird. Man fragt sich, was das soll. Rachel Zegler hat zwar eine hübsche Stimme (schließlich war sie die Maria in Steven Spielbergs WEST SIDE STORY), aber das Gejodel wirkt in einem dystopischen Jugendfilm völlig fehl am Platz.

DIE TRIBUTE VON PANEM – THE BALLAD OF SONGBIRDS & SNAKES. Langer Titel, langer Film. Der in drei Kapitel unterteilte 157-Minuten-Film fühlt sich wie die komplette Staffel einer Serie an. Vor allem der letzte Akt könnte glatt ein eigener Spielfilm sein. Fortsetzung folgt. Garantiert.

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Originaltitel „The Hunger Games: The Ballad of Songbirds & Snakes“
USA 2023
157 min
Regie Francis Lawrence

alle Bilder © LEONINE Studios

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VIENNA CALLING

VIENNA CALLING

Ab 16. November 2023 im Kino

Ein Blick in die aufregende Wiener Underground Kulturszene. Hat außer dem Titel nichts mit dem gleichnamigen Falco-Hit zu tun.

Obwohl, ein bisschen schwebt der Geist des vor 25 (!!) Jahren verunfallten Sängers immer noch über allem. Und sei es nur, wenn sich „Nino aus Wien“ die Haare bei Falcos Stammfriseur schneiden lässt. „Nino aus Wien“? Nie gehört? Wer glaubt, „Wanda“ oder „Bilderbuch“ seien underground, der hat keine Ahnung.

Schön schräg, sehr lässig

„Wenn die Welt einmal untergehen sollte, ziehe ich nach Wien, denn dort passiert alles 50 Jahre später“ – spottet Gustav Mahler einst über seine Wahlheimat. Ein bisschen was ist dran, denn die morbiden Locations der Party- und Konzertszene im heutigen Wien erinnern an das frisch mauergefällte Berlin Anfang der 90er-Jahre. Mittendrin der Partyorganisator Samu Casata, der wie zur Nachwendezeit Locations in verborgenen Tunnelsystemen und alten Fabrikhallen organisiert. Um ihn scharen sich Maler, Rapper und Liedermacher, der hierzulande bekannteste davon dürfte Voodoo Jürgens sein. Wem auch das nichts sagt, egal. VIENNA CALLING ist ein kurzweiliger Nachhilfekurs in Sachen aktuelle Wiener Musikszene.

Der Journalist und Filmemacher Philipp Jedicke stammt aus Deutschland und schafft es trotzdem, tief in das magische Nachtleben der österreichischen Hauptstadt einzutauchen. Sein Film ist keine klassische Doku, eher ein poetisches Doku-Musical. Dass sich ausgerechnet ein Piefke an den Schmäh herantraut, sorgt für ironische Kommentare eines der Protagonisten, Wien sei „in Wahrheit eine Art Disney-Land, das nur für die Deutschen so tut als ob“. Neben Brautkleidshopping mit der nichtbinären Sängerin Kerosin95, gibt es reichlich Skurrilitäten, wie zum Beispiel eine Unterhaltung zwischen zwei Kettenrauchern zum Thema Sport und Altern. Dazwischen Songs, zu denen der Regisseur und sein ausgezeichneter Kameramann Max Berner videoclipartige Filmsequenzen inszenieren. VIENNA CALLING: Schön schräg, sehr lässig.

INFOS ZUM FILM

Österreich / Deutschland 2023
85 min
Regie Philipp Jedicke

alle Bilder © mindjazz pictures

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EIN FEST FÜRS LEBEN

EIN FEST FÜRS LEBEN

Ab 19. Oktober 2023 im Kino

Was alles am schönsten Tag des Lebens schiefgehen kann, muss Christoph Maria Herbst als Hochzeitsplaner in der überraschend frischen Komödie von Richard Huber erfahren.

Mit feinem bis ätzendem Humor erzählt EIN FEST FÜRS LEBEN von einer Hochzeitsfeier, bei der alles gründlich schief geht und trotzdem happy endet. Unter der Leitung von Christoph Maria Herbst als Dieter, der für die Rolle des gestressten und desillusionierten „Wedding Planners“ perfekt besetzt ist, rückt der Film nicht das Brautpaar oder die Hochzeitsgäste in den Mittelpunkt, sondern das Personal, das im Hintergrund die ganze Chose am Laufen hält. Oder auch nicht. Denn Dieter plant seine Firma zu verkaufen, ein Interessent will sich unerkannt unter die Gäste mischen. Versteht sich von selbst, dass an diesem besonderen Tag, an dem alles wie am Schnürchen laufen muss, die Lebensmittel verdorben sind, der gebuchte Sänger ausfällt und auch sonst jede menschenmögliche Katastrophe passiert.

Überraschend, wie intelligent und komisch das für eine deutsche Komödie ist

Dass es dabei hier und da auch mal klamaukig wird – sei’s drum. Das Drehbuch ist eine sympathische Mischung aus realistisch und übertrieben, vermeidet zum Glück die allzu platten Pointen. EIN FEST FÜRS LEBEN besticht mit viel Sinn für Situationskomik und einer hochkarätigen Besetzung. Neben Christoph Maria Herbst sind Jörg Schüttauf als fauler Hochzeitsfotograf und Marc Hosemann als egozentrischer Sänger und Bandleader die bekanntesten Darsteller.

Ein Sarkast würde sagen: Überraschend, wie intelligent und komisch das für eine deutsche Komödie ist. Kein Wunder, sie haben es schon wieder getan: Auch EIN FEST FÜRS LEBEN ist ein Eins-zu-eins-Remake. Die Ensemblekomödie der „Ziemlich beste Freunde“-Macher um die kleinen und großen Dramen, die sich hinter den Kulissen einer Hochzeitsfeier abspielen, kam 2017 unter dem Titel „Le sens de la fête“ in die französischen Kinos.

Regisseur Richard Huber ist natürlich ein alter Hase und weiß genau, wie man so eine locker-leichte Komödie auf den deutschen Markt zuschneidet. Am besten, man ändert wenig und übernimmt möglichst viel vom Original. Mit dem gleichen Rezept, bereits Erprobtes für den hiesigen Markt zu adaptieren, wurden schon 2021 die ebenfalls mit Christoph Maria Hebst besetzte Dramödie CONTRA und drei Jahre zuvor DAS PERFEKTE GEHEIMNIS große Erfolge. Und bei EIN FEST FÜRS LEBEN gibt es sogar eine echte Verbindung zur französischen Vorlage: Regisseur Huber ist trotz des bayrisch klingenden Namens gebürtiger Pariser.

INFOS ZUM FILM

Deutschland 2023
105 min
Regie Richard Huber

alle Bilder © Warner Bros. Pictures Germany

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DIE MITTAGSFRAU

DIE MITTAGSFRAU

Ab 28. September 2023 im Kino

In ihrem preisgekrönten Roman „Die Mittagsfrau“ von 2007 erfindet Julia Frank eine Version der Lebensgeschichte ihrer Großmutter. Die österreichische Regisseurin Barbara Albert hat den Bestseller nun mit Mala Emde in der Hauptrolle verfilmt.

Helene – so der Name der semifiktiven Großmutter – wächst in Bautzen in bedrückenden Verhältnissen auf. Ihre Mutter ist psychisch krank, lebt in einer Wahnwelt. Um all dem Leid zu entgehen, brechen die junge Helene und ihre ältere Schwester Martha ins wilde Berlin der 20er-Jahre auf, wo sie bei ihrer mondänen Tante Fanny unterkommen. Viele Partys, Charleston-Tänze und Schicksalsschläge später ist Helene alleinerziehende Mutter. Weil das Leben kurz und das Kind nervig ist, bringt sie es an einen Bahnhof und lässt es dort zurück. Endlich frei, kaltes Herz. Ende.

Die Dialoge gestelzt, die Bildsprache gewöhnungsbedürftig

Die guten Schauspieler (u.a. Mala Emde, Max von der Groeben, Thomas Prenn) können nichts dafür, dass das Drehbuch voller gestelzter Dialoge, die Ausstattung unpassend modern und die Bildsprache gewöhnungsbedürftig ist. Es reicht eben nicht, ein paar Möbel (die teilweise aussehen, als hätte IKEA die Ausstattung besorgt) ins Set zu stellen und den Darstellern 20er-Jahre-Kleidung anzuziehen. Aber nicht nur Äußerlichkeiten sind unstimmig, auch Emotionen werden plump auf die Leinwand gebracht. Helenes Mutter beispielsweise muss ihren Wahnsinn mit Schreien, irrem Lachen und wirren Haaren darstellen. Edgw.

DIE MITTAGSFRAU macht den unguten Eindruck eines nicht allzu üppig budgetierten Kunsthochschulprojekts. Immer wenn es besonders gefühlig wird, schaltet die Kamera auf farbübersättigt und grobkörnig, das soll dann wohl stimmungsvoll sein. Die Geschichte von der Frau, die mit ihrer Rolle als Mutter ringt, ist interessant, wird aber in fast 2,5 Stunden lebensbedrohlich in die Länge gezogen. Über weite Strecken entsteht so eine Langeweile, die bei der Pressevorführung mit seligem Schnarchen und teils fluchtartigem Verlassen des Kinosaals honoriert wurde.

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Deutschland / Schweiz / Luxemburg 2023
136 min
Regie Barbara Albert

alle Bilder © Wild Bunch Germany

WOCHENENDREBELLEN

WOCHENENDREBELLEN

Ab 28. September 2023 im Kino

Auf großer Stadiontour durch Deutschland: Mirco klappert mit seinem Sohn Jason die Bundesliga ab, um einen Lieblingsverein für den autistischen Junior zu finden.

Jasons Regeln sind streng: Nudeln dürfen sich auf dem Teller nicht mit der Tomatensoße berühren. Ihn selbst darf sowieso niemand anfassen. Das eigenwillige Verhalten kommt nicht von ungefähr: Jason ist Autist. Nun sucht der 10-Jährige einen Lieblingsfußballverein. Und seine Ansprüche sind hoch: Energetisch nachhaltig, keine Nazis unter den Fans, die Spieler müssen einheitlich farbige Schuhe tragen, das Maskottchen darf nicht peinlich sein und vieles mehr. Gemeinsam mit seinem Vater nimmt Jason in einem Langzeitprojekt die erste, zweite und dritte Liga unter die Lupe – 56 Mannschaften insgesamt.

Basiert auf einer wahren Geschichte

Florian David Fitz spielt in WOCHENENDREBELLEN einen Fastfood-Handlungsreisenden, der lernen muss, mit der psychischen Krankheit seines Sohns umzugehen. Was soll man da kritisieren? Cecilio Andresen meistert seine Rolle bravourös, denn die Figur des Jason ist alles andere als liebenswert. Der Film versucht zum Glück nicht, die Krankheit weichzuspülen und aus dem Autisten einen niedlichen Jungen mit leichter Behinderung zu machen. Nein, Jason nervt auf SYSTEMSPRENGER-Niveau. Schade nur, dass Regisseur Marc Rothemund die außergewöhnliche Story wie eine typisch deutsche TV-Produktion inszeniert. Da gibt es wenig große Bilder oder visuelle Einfälle, Emotionen werden mit gefälligen Pophits zugekleistert. 

WOCHENENDREBELLEN basiert auf einer wahren Geschichte. Mirco und Jason von Juterczenka reisen bis heute regelmäßig zu Bundesligaspielen. Wie so oft berühren dann die zum Abspann gezeigten Realaufnahmen mehr als der ganze Film davor. Die gute Absicht zählt, doch fragt sich, ob das Plädoyer für Verständnis und Integration mit einem künstlerisch mutigeren Film nicht stärker gewesen wäre.

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Deutschland 2023
95 min
Regie Marc Rothemund

alle Bilder © Leonine

WEISST DU NOCH

WEISST DU NOCH

Ab 21. September 2023 im Kino

Schade, wirklich. Sowohl Geschichte als auch Besetzung sind richtig gut. Hätte Rainer Kaufmann seine Dramödie mit weniger flachen TV-Bildern und mutigerem Stil inszeniert, wäre WEISST DU NOCH ein exzellenter Film.

Aus der Ehe von Marianne und Günter ist nach 50 Jahren die Luft raus. Die Kinder sind längst ausgezogen, melden sich nur noch sporadisch. Das Rentnerpaar geht sich gehörig auf den Sack, vor allem die zunehmende Vergesslichkeit wird bei jeder Gelegenheit zum Streitthema. Als Günter zum Hochzeitstag zwei blaue Pillen aus der Tasche zaubert, mit denen angeblich sämtliche Erinnerungen zurückgebracht werden können – wenigstens vorübergehend – ist Marianne skeptisch. Doch die Pille wirkt und die beiden Streithähne begeben sich auf eine versöhnliche Reise in die Vergangenheit.

Ein von vorne bis hinten hell ausgeleuchteter Fernsehfilm

Wir müssen über Inhalt und Form sprechen. Günther Maria Halmer spielt schön muffelig den am Leben vorbeilebenden Stinkstiefel. Und die fabelhafte Senta Berger hat ihr Karriereende extra verschoben, steht für WEISST DU NOCH vielleicht ein letztes Mal vor der Kamera. Die Idee ist originell, das Drehbuch voll bissiger Dialoge. Die dem Leben Zugewandte und der Misanthrop provozieren und sticheln, das sitzt punktgenau, ist ernst und zum Lachen. Hätte also was Großes werden können. Aber warum muss ein deutscher Kinofilm mit solch guten Zutaten so bescheiden aussehen? Zumal es sich um ein Kammerspiel mit nur zwei Personen (plus drei Mini-Nebenrollen) handelt. Also überschaubar, keine teuren Sets, Locations oder gar Special Effects.

Was hätte ein Michael Haneke aus so einem Stoff gemacht? Sicher keinen von vorne bis hinten hell ausgeleuchteten Fernsehfilm. Wahrscheinlich sind Regisseur Rainer Kaufmann und sein Kameramann Martin Farkas unschuldig, denn die ARD Degeto ist Co-Produzentin. Und das sieht man in jeder Einstellung. Nach dem Motto: Das muss den Ü-70-Zuschauern bei der Fernsehauswertung gefallen, bloß keine Experimente. Wieder eine vertane Chance, den deutschen Kinofilm glänzen zu lassen.

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Deutschland 2023
91 min
Regie Rainer Kaufmann

alle Bilder © MAJESTIC

SIEBEN WINTER IN TEHERAN

SIEBEN WINTER IN TEHERAN

Ab 14. September 2023 im Kino

Winter is coming. Die Tage werden kürzer und auch im Kino ist Schluss mit lustig.

SIEBEN WINTER IN TEHERAN ist ein Dokumentarfilm über schreiendes Unrecht. Die 19-jährige Reyhaneh Jabbari sitzt 2007 in Teheran in einem Eiscafé. Ein älterer Mann spricht sie an, er habe mitgehört, dass sie als Designerin für Messestände arbeite. Er hätte einen Auftrag für sie, seine Praxis für Schönheitschirurgie solle neu gestaltet werden. Die junge Frau ist begeistert, begleitet den Mann zu einer Besichtigung der Räume. Schnell wird ihr klar, dass sie in eine Falle geraten ist. Der Mann schließt die Tür ab, beginnt Reyhaneh anzugrapschen, will sie auf dem Sofa vergewaltigen. Sie greift in ihrer Not nach einem Küchenmesser, tötet den Mann. Kurz darauf wird sie wegen Mordes verhaftet.

Erschütternd und schwer auszuhalten

Wenn zum Unglück auch noch Pech dazu kommt. Nicht nur ist das „Opfer“ ein gut vernetzter Mitarbeiter des Geheimdienstes, im Iran gilt vor Gericht außerdem das Blutrecht. Die Angehörigen des Vergewaltigers fordern – Auge um Auge, Zahn um Zahn – das Leben Reyhanehs als Preis für den eigenen Verlust. Zustände wie im Mittelalter, aber leider immer noch Realität in einem Land, gar nicht so weit weg von uns.

Herzstück von Steffi Niederzolls aufwühlender Dokumentation sind heimlich im Iran gedrehte Aufnahmen, ergänzt durch Interviews mit den Angehörigen. Die Kamera gibt einen ansonsten unmöglichen Einblick, bewegt sich fast tastend durch Miniatur-Nachbauten der wichtigsten Stationen: vom Ort des Verbrechens, über den Gerichtssaal bis zum Gefängnis. Aus dem Off liest dazu eine Schauspielerin Reyhanehs Briefe aus der Haft.

Am 25.10.2014 wird Reyhaneh Jabbari hingerichtet. Bis zu ihrem Tod bleibt ihr Lebenswille ungebrochen, bis zum Schluss besteht sie auf Gerechtigkeit. Eine von der Familie des Vergewaltigers angebotene Vergebung, so sie sich schuldig bekenne, lehnt sie ab. Tragischer Tiefpunkt ist eine live mitgedrehte Handyaufnahme, in der Reyhanehs Mutter erfährt, dass ihre Tochter soeben hingerichtet wurde. Das zu sehen erschüttert, ist schwer auszuhalten. Inzwischen lebt die Familie in Berlin, nur dem Vater wird die Ausreise verweigert. Reyhanehs Schwestern und vor allem ihre Mutter kämpfen weiter gegen das Unrecht, das iranischen Frauen bis heute angetan wird. SIEBEN WINTER IN TEHERAN ist vor dem Hintergrund der aktuellen politischen Entwicklungen im Iran ein wichtiger und gleichzeitig wenig Hoffnung machender Film.

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Deutschland / Frankreich 2023
97 min
Regie Steffi Niederzoll 

alle Bilder © Little Dream Pictures 

RETRIBUTION

RETRIBUTION

Ab 14. September 2023 im Kino

Schon wieder fährt ein Mann mit einer Bombe im Auto durch die Großstadt. Diesmal tickt es unter dem Sitz von Liam Neeson.

2015 machte EL DESCONOCIDO aus Spanien den Anfang. Drei Jahre später folgte die deutsche Version des gleichen Stoffes: STEIG. NICHT. AUS! mit Wotan Wilke Möhring. Nun also der nächste Aufguss mit dem unkaputtbaren Liam Neeson in der Hauptrolle. Man sieht dem 71-jährigen Iren mittlerweile an, dass er seit Jahren von einem Gegen-die-Uhr-Thriller zum nächsten jagt. Als gestresster Geschäftsmann und Familienvater fährt er in RETRIBUTION mit dem Auto durch Berlin, während unter seinem Fahrersitz eine Bombe tickt. Steigen er oder seine beiden Kinder aus, fliegt alles in die Luft. Sandra Bullock kann davon ein Lied singen.

Es holpert gewaltig

Für deutsche Zuschauer, besonders Berliner interessant: RETRIBUTION wurde komplett in der Hauptstadt gedreht. Der Grund dafür müssen wohl Fördergelder sein, denn außer der üblichen „Wie kommen die mit einem Schnitt von da nach da?“-Spaßfrage könnte die Handlung genauso gut in London, New York oder Kassel spielen. Die Besetzung ist durchweg international, gesprochen wird englisch.

Nimród Antal – den Namen muss man sich merken. Denn der Regisseur trägt wohl die Hauptschuld daran, dass RETRIBUTION so schlecht ist. Dialoge, Schauspiel, Inszenierung: Es holpert gewaltig. Immerhin funktioniert die unfreiwillige Komik. Statisten stehen verloren in der Szene, als würden Sie noch auf das „Action“ des Regisseurs warten oder overacten, als sei dies ein Stummfilm. „Dad! Daaad!!“ Die beiden Kinder sind so nervig, dass man sich schon nach wenigen Minuten fragt, ob es nicht für alle Beteiligten besser wäre, wenn das Auto bald in die Luft flöge.

Nicht mal die Actionszenen können überzeugen: Die Verfolgungsjagden sind lahm und unglaubwürdig inszeniert – oder stellt die Berliner Polizei bei einer Straßensperre tatsächlich ihre Autos mit so großen Lücken auf, dass selbst ein SUV locker durchpasst? Obwohl RETRIBUTION nur 91 Minuten lang ist, schleppt es sich dahin wie eine Trabifahrt. Vor allem das übererklärende Ende ist zum Einschlafen. Praktisch: Im Trailer sind sämtliche Highlights zu sehen, sodass man sich den Kinobesuch doppelt sparen kann.

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Originaltitel „Retribution“
USA / Deutschland / Frankreich / Spanien 2023
91 min
Regie Nimród Antal

alle Bilder © STUDIOCANAL

ENKEL FÜR FORTGESCHRITTENE

ENKEL FÜR FORTGESCHRITTENE

Ab 07. September 2023 im Kino

Achtung, jetzt wird’s mild: Es folgt die überraschend positive Kritik zur deutschen Generationskomödie ENKEL FÜR FORTGESCHRITTENE.

Vielleicht liegt es am guten Eindruck, den der erste Teil ENKEL FÜR ANFÄNGER vor drei Jahren hinterlassen hat. Vielleicht liegt es an den nach Art des Premiumweins gealterten Schauspielern (Maren Kroymann, Heiner Lauterbach und Barbara Sukowa), ganz sicher liegt es nicht am Drehbuch – aber die Fortsetzung ist fast so gut wie das Original.

Straff inszenierte, kurzweilige Komödie

Diesmal kümmert sich das Senioren-Trio um einen Kinderladen, denn Philippas Tochter ist nicht nur dessen Leiterin, sondern auch noch hochschwanger. Eine Vertretung ist nicht in Sicht, da hat Karin die rettende Idee: Die Rentner übernehmen! Die Kraft der Alt-68er weckt selbst das verschnarchteste Kind aus seiner Lethargie. Schon nach wenigen Tagen sind aus ins Handy starrenden Teenagern fröhlich tollende Traumblagen geworden, die nebenbei noch jede Menge (alt)-kluger Ratschläge parat halten.

„Hey, shout out an die Kids!“ Dass die Jugendsprache ein bisschen cringe und aufgesetzt klingt, aber durchaus realistisch ist, kann jeder nachhören, der sich zum Beispiel die dritte Folge der Podcast-Serie VERBRECHEN AM FERNSEHEN von und mit Anja Rützel antut. Da denglisht die Journalistin Yasmine M’Barek (nicht verwandt) Sätze wie „Und ich war so: Ich feel dich so sehr, oh mein god!“ raus, dass einem die Fremdscham den Atem raubt. So redens halt, die junge Leut’.

Zurück zu den Enkeln: Sieht aus wie ein mit TV-Stars besetzter Fernsehfilm, ist aber eine erstaunlich straff inszenierte, kurzweilige Komödie. Neben Kindeserziehung gilt es noch die Irrungen und Wirrungen der späten Liebe auseinanderzuklamüsern und sogar Krankheit und Tod werden unpeinlich thematisiert. ENKEL FÜR FORTGESCHRITTENE ist harmlos, aber als Familienfilm eine echte Empfehlung.

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Deutschland 2023
90 min
Regie Wolfgang Groos

alle Bilder © STUDIOCANAL

DIE LETZTE FAHRT DER DEMETER

DIE LETZTE FAHRT DER DEMETER

Ab 17. August 2023 im Kino

„Demeter“ ist nicht nur eine Biomarktkette, sondern auch das Schiff, auf dem sich Graf Dracula von den Karpaten nach London transportieren ließ.

Die Seereise des untoten Blutsaugers wird in einem Kapitel des Bram-Stoker-Romans „Dracula“ eher nebenbei erzählt. In älteren Verfilmungen wird die Fahrt auf der Demeter deshalb meist mit dem kurzen Einblenden einer Land- und Seekarte, auf der eine rote Linie die Route anzeigt, abgehakt. Nun hatte Universal die Idee, daraus einen abendfüllenden Spielfilm zu machen. Und der ist ungefähr so gruselig wie eine Folge der Kinderhörspielserie „Draculino“.

Schlichtweg langweilig

Analoge Effekte, düstere Stimmung (man sieht kaum was), einer nach dem anderen stirbt – der norwegische Regisseur André Øvredal hatte laut eigener Aussage „ALIEN auf einem Frachter 1897“ im Sinn. Obwohl er alle Register des klassischen Horrorfilms von Dauer-Unwetter, huschenden Schatten und knarrendem Gebälk zieht, hat DIE LETZTE REISE DER DEMETER ein großes Problem: Sie ist schlichtweg langweilig. Es will trotz guten Stils keine Spannung aufkommen. Bis auf ein, zwei Schockeffekte setzt schnell das große Gähnen ein.

Die Universal-Studios geben nicht auf. Das immerhin muss man dem x-ten Versuch, ein „Dark Univers“ zu kreieren, zugutehalten. Nach dem legendären Flop THE MUMMY weckte die Low-Budget-Produktion THE INVISIBLE MAN kurz Hoffnung, aus den angestaubten 30er-Jahre-Filmmonstern doch noch eine erfolgreiche Crossover-Welt à la MCU zu schaffen. DIE LETZTE FAHRT DER DEMETER macht diesen Plan mit einem lachhaft schlechten Drehbuch wieder zunichtet. Schade um die guten Schauspieler, die hier alle hoffnungslos unterfordert bleiben.

Der Markt wird es richten – es wäre der größte Schocker, wenn der zahnlose Vampirfilm Erfolg an der Kinokasse hätte. Wem der Sinn nach echtem Horror auf einem Schiff im 19. Jahrhundert steht, dem sei die fantastische Miniserie THE TERROR empfohlen.

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Originaltitel „The Last Voyage of the Demeter“
USA / Deutschland 2023
118 min
Regie André Øvredal

alle Bilder © Universal Pictures International Germany

BLACK BOX

BLACK BOX

Ab 10. August 2023 im Kino

ChatGTP, schreibe ein Drehbuch mit folgenden Themen: Gentrifizierung, Immobilienhaie, Alt-68er, Profitgier, Geldsorgen, Muslime, Asylanten, Corona-Pandemie, Mord, politischer Aktivismus, Tollwut, Sex, Polizeigewalt - brrr - zzzzp - spratzel - fertig ist das Drehbuch zu BLACK BOX.

Es beginnt symbolisch: Ein moderner Glas-Stahlcontainer senkt sich wie ein UFO an maroder Fassade vorbei in einen Berliner Hinterhof. Der Anfang vom Ende der Gemütlichkeit. Das Pop-up-Office soll Kaufinteressenten anlocken, die alteingesessenen Mieter sind entsetzt. Als am nächsten Morgen die Hofzugänge von der Polizei abgeriegelt werden, mehrfach der Strom ausfällt und sich die Gerüchte vom bevorstehenden Verkauf der Wohnungen verselbstständigen, kippt die Stimmung Richtung Ausnahmezustand.

Druck auf dem Kessel

Regisseurin und Drehbuchautorin Aslı Özge hat Druck auf dem Kessel. Die ganze Wut muss raus, am besten in einem Film. In BLACK BOX versteckt sich unter ungefähr zweihundert angerissenen Themen eine interessante Metapher auf unsere Gesellschaft: Der Mikrokosmos Hinterhof, stellvertretend für die Spaltung eines ganzen Landes. Hochkarätig besetzt, ausgezeichnet gespielt (unter anderem Luise Heyer, Felix Kramer, Christian Berkel, Jonathan Berlin, Anne Ratte-Polle) und souverän inszeniert.

Der ätzende Kampf zwischen Mietern und Vermietern hätte als Bild für das zerfallende Gemeinschaftsgefühl und das Auseinanderdriften demokratischer Strukturen gereicht. Aber es ist von allem viel zu viel. Schere im Kopf, mal anders: Wenn es der innere Editor schafft, all die thematischen Nebenschauplätze auszublenden, dann funktioniert BLACK BOX als ein interessantes Psychodrama aus Deutschland.

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Deutschland 2023
120 min
Regie Aslı Özge

alle Bilder © Port au Prince Pictures

LOVE AGAIN

LOVE AGAIN

Ab 06. Juli 2023 im Kino

Flirten für Dummies. Reich werden für Dummies. BWL für Dummies. Schneckenzucht für Dummies. Von der berühmten US-Buchreihe gibt es mittlerweile unzählige Titel. Komplexe Themen einfach erklärt. LOVE AGAIN ist Romantic Comedy für Dummies.

Wenn zwischen zwei Verliebten im Café die Gespräche tief und die Blicke lang und intensiv sind, der Mann beim Rausgehen noch einmal schmachtend schaut – dann ahnt selbst der ahnungsloseste Zuschauer: Gleich passiert etwas Schlimmes. Und schon macht‘s Quietsch und Krach. Tot. Zwei Jahre später trauert Mira noch immer um ihre große Liebe. Eines besonders trüben Abends beschließt sie weinselig, ihrem toten Freund eine sms zu schicken. Die landet auf dem Handy von Rob, einem Musik-Journalisten, der gerade eine große Story über Céline Dion schreibt. Haha, dabei hört er privat viel lieber Rockmusik. Witzige Drehbuchidee. Wie die Liebesschnulze weitergeht, kann man sich denken.

LOVE AGAIN ist das US-Remake von SMS FÜR DICH

Wem das vage bekannt vorkommt – LOVE AGAIN ist das US-Remake des deutschen Kinoerfolgs SMS FÜR DICH von Karoline Herfurth. Allerdings macht die Neuverfilmung alles gründlich falsch. Aus einer charmanten Berlin-Komödie wird eine Romcom nach Schema F. F wie fad. Der größte Unterschied zum Original: LOVE AGAIN ist ein plumpes Werbevehikel für Céline Dion. Die spielt sich selbst und das gar nicht mal so gut. Die Sängerin verbrät ihre eigene tragische Liebesgeschichte und den Tod ihres Mannes, gibt öde Kalenderratschläge und singt ein paar Lieder.

Jede Wendung ist vorhersehbar, jede Emotion wird erklärt: Filmemachen für Dummies. Ein unglaubwürdiger Blödsinn, den man sich nicht einmal auf Netflix antun möchte. Vertane Zeit.

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Originaltitel „Love Again“
USA 2023
104 min
Regie Jim Strouse

alle Bilder © Warner Bros. Pictures Germany

DIE UNSCHÄRFERELATION DER LIEBE

DIE UNSCHÄRFERELATION DER LIEBE

Ab 29. Juni 2023 im Kino

Ein Film kann auf der Klaviatur der Gefühle vieles spielen: Angst, Freude, Erstaunen, Neugierde. DIE UNSCHÄRFERELATION DER LIEBE klimpert dagegen nur einen penetranten Ton und löst damit schwerste Genervtheit aus.

Ach Berlin, dicke Perle an der Spree, watt biste schön. Der Glockenturm im Tiergarten spielt nachts Erik Satie, Männer küssen sich auf der Friedrichstraße, glückliche Paare rollern zu zweit auf E-Scootern durchs Bild. Und der Britzer Garten ist ein menschenleeres Idyll an einem goldenen Herbsttag. Könnte alles so schön sein – wenn da nicht Greta wäre.

Es nervt

Die aufgedrehte Mittfünfzigerin gibt an einer Bushaltestelle dem Fleischermeister Alexander „versehentlich“ einen Kuss. Sie habe ihn mit ihrem verstorbenen Mann verwechselt. Nach dieser verwirrenden Erklärung heftet sie sich an die Fersen des bedauernswerten Singles und kaut ihm ein Ohr ab. Folgt ihm in die U-Bahn. Läuft ihm auf der Straße hinterher. Besucht ihn in seiner Metzgerei. Und quasselt dabei pausenlos Banalitäten, stellt übergriffige Fragen ohne Punkt und Komma. Wäre das verbale Dauerfeuer wenigstens charmant oder lustig. Aber es nervt. Sehr. Nicht nur Alexander, der einfach seine Ruhe haben will – sondern in erster Linie den Zuschauer.

Besonders bedauerlich ist die Verschwendung der guten Schauspieler. Vor allem um Burghart Klaußner ist es schade. Aber auch Caroline Peters hat man schon in anderen Rollen weitaus weniger nervtötend gesehen. Es muss also an der Regie liegen. Lars Kraume und sein Kameramann Jens Harant schaffen es nicht, die Vorlage von Simon Stephens inspiriert von der Theaterbühne zu lösen. Die Schauspieler stehen oft verloren nebeneinander und beten ihre Dialoge – oder vielmehr Monologe – herunter, als hätten sie eine Leseprobe am Theater. Der Funke springt nicht über und man wünscht sich von der ersten bis zur letzten Einstellung, Greta möge einfach die Klappe halten und den armen Alexander in Ruhe lassen. Nein, das anzusehen macht keinen Spaß und unterhaltsam ist das auch nicht. Und nein, da kommt nix mehr, außer: Schade um die schönen Fördergelder – nervigster deutscher Film seit langem.

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Deutschland 2023
89 min
Regie Lars Kraume

alle Bilder © X Verleih

SHE CHEF

SHE CHEF

Ab 18. Mai 2023 im Kino

Schon als Teenager wollte sie statt einer neuen Handtasche lieber eine Pastamaschine. Kann sich Agnes Karrasch ihren Platz in der Männerdomäne der Sterneküche erkämpfen?

Es bricht einem das Herz. Nur weil in China ein kranker Affe ins Essen spuckt, macht die verheißungsvolle Karriere der jungen Kochweltmeisterin Agnes eine Vollbremsung. Gerade arbeitet sie sich in Barcelona in die komplizierte Molekularküche des „Disfrutar“ ein, da wird die Welt dank Covid in die Knie gezwungen.

Perfektion erfordert klare Hierarchien. Oder?

SHE CHEF lebt vor allem von der leicht sperrigen und deshalb umso sympathischeren Agnes Karrasch. Nach einem Praktikum im Sternerestaurant Vendôme führen sie ihre Lehr- und Wanderjahre über Barcelona nach Dänemark. Melanie Liebheit und Gereon Wetzel begleiten die 25-jährige Österreicherin auf ihrem Weg zur Spitzenköchin. Dabei wird dem Zuschauer ein ungewöhnlich offener Blick hinter die Kulissen der Spitzengastronomie erlaubt. Dominiert wird diese Welt immer noch von Männern. Die clevere Agnes macht sich zwischendurch ihre ganz eigenen Gedanken zu Karriere, Familie und Frausein. Neugierig und selbstbewusst lernt sie von den Besten, um vielleicht irgendwann ein eigenes Restaurant zu eröffnen. 

Während unsereins vorne schlemmt und am Ende freudig den Zaster aus der Börse zückt, läuft im Hintergrund eine perfekt geölte Maschinerie ab. Vom sorgfältigen Dampfbügeln der Tischdecken bis zu den pinzettengezupften Kräutern. So viel Perfektion erfordert klare Hierarchien. Oder? Dass es auch anders geht, erfährt Agnes erst im „Koks“, einem entlegenen Sternerestaurant auf den Färöer Inseln, das aussieht, als habe sich der Herr der Ringe mit einem Koch zusammengetan und ein Lokal in Mittelerde aufgemacht. Bucket List: Da will ich auch mal hin.

SHE CHEF ist ein herrlich unaufgeregter Dokumentarfilm über Qual und Erfüllung in der Spitzengastronomie. Inspirierend und vom Chefkoch empfohlen.

INFOS ZUM FILM

Österreich / Deutschland 2022
105 min
Regie Melanie Liebheit & Gereon Wetzel

alle Bilder © Camino Filmverleih