Beau is afraid

BEAU IS AFRAID

Beau is afraid

BEAU IS AFRAID

Ab 11. Mai 2023 im Kino

Joaquin Phoenix auf dem Weg zur nächsten Oscarnominierung

Wie? Warum? Was? Herzlich willkommen in der Welt von Ari Aster. Einem Regisseur, der mit HEREDITARY und MIDSOMMAR zwei Klassiker des modernen Horrorfilms geschaffen hat. Filme, die den Zuschauer gefangen nehmen und zutiefst verstört zurücklassen. BEAU IS AFRAID hat den gleichen Effekt hoch 10. Und das sind ein paar Potenzen zu viel.

Geniestreich oder Katastrophe?

Beau leidet. Vor allem unter seiner monströsen Mutter. Seinen Vater hat er nie kennengelernt, denn der ist im Moment der Zeugung gestorben. Nun ist Beau erwachsen und lebt in einer höllischen Nachbarschaft. Halbverweste Leichen liegen auf der Straße, ein nackter Messermörder treibt sein Unwesen, die Polizei schaut tatenlos zu. Oben in Beaus Wohnung krabbelt eine Giftspinne über den Boden, der Nachbar spielt dröhnend laute Musik. Und dann verschläft Beau auch noch seinen Flug. Als er endlich zu seiner Mutter aufbricht, beginnt eine Odyssee, auf der er mit all seinen Ängsten konfrontiert wird.

BEAU IS AFRAID fängt schräg an, wird absurd und dann grotesk. Ein dreistündiges (!) Delirium durch die Seelenhölle eines Mannes, genial (wie immer) von Joaquin Phoenix verkörpert. Zwischendurch irrt der Held durch Zeichentricksequenzen und schaut sich ein im Wald aufgeführtes Theaterstück über sein eigenes Leben an, während er von einem Ex-Soldaten gejagt wird. Klingt verrückt? Ist es auch. Von einem riesigen, bissigen Penis, der auf einem Dachboden haust, ganz zu schweigen. Als Zuschauer ist man hin- und hergerissen. Zwischen ein paar ausgesprochen lustigen Szenen fragt man sich immer wieder, ob man schlicht zu dumm für Asters Visionen ist. Statt sich also in halbgaren Interpretationen zu verstolpern, soll der Regisseur selbst erklären:

„Wenn Sie einen Zehnjährigen mit (dem Antidepressivum) Zoloft vollpumpen und ihn Ihre Lebensmittel einkaufen lassen, dann ist das wie dieser Film.“

Aha. Noch präziser ist Asters Antwort auf die Frage, worum es in BEAU IS AFRAID eigentlich geht: „I don’t know. His dad’s a dick.“

Selten war es so schwer, einen Film zu bewerten. BEAU IS AFRAID kann man hassen oder lieben oder beides. Das ist zuletzt Darren Aronofsky mit MOTHER! gelungen. Ob die Geschichte vom paranoiden, angstzerfressenen Seelenkrüppel Geniestreich oder Katastrophe ist, kann jeder für sich selbst entscheiden.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Beau is afraid“
USA 2023
179 min
Regie Ari Aster

alle Bilder © Leonine

Das Lehrerzimmer

DAS LEHRERZIMMER

Das Lehrerzimmer

DAS LEHRERZIMMER

Ab 04. Mai 2023 im Kino

Zum Schreien: Horrorberuf Lehrer

Bundeskanzler Scholz warnt: „Das Land muss sich auf einen zunehmenden Lehrermangel vorbereiten. Das wird uns in den nächsten zehn Jahren umtreiben.“

Der gerade auf der Berlinale gezeigte Film DAS LEHRERZIMMER wird an diesem Missstand wenig ändern. Im Gegenteil. Schule und besonders der Beruf des Lehrers scheinen der pure Horror zu sein. İlker Çataks Film ist näher an einem Psychothriller als einer munteren Sozialstudie.

Jeder gegen jeden

„Was im Lehrerzimmer passiert, bleibt im Lehrerzimmer“, sagt Carla Nowak (Leonie Benesch) in einem Interview mit der Schülerzeitung. Auch wenn das für die junge Pädagogin zu diesem Zeitpunkt schon nur noch reine Wunschvorstellung ist. Einige ihrer Kollegen schauen mit Argusaugen auf ihre alternativen Unterrichtsmethoden und geben ihr zu verstehen, dass sie noch zu unerfahren für die Arbeit mit pubertierenden Kindern ist. Als es in der Schule zu einer Reihe von Diebstählen kommt und einer ihrer Schüler verdächtigt wird, ist Carla empört und beschließt, der Sache selbst auf den Grund zu gehen.

Es wird düster. Und dann noch düsterer. Bald kämpft jeder gegen jeden. Schuldzuweisungen drohen Existenzen zu vernichten. Schüler werden in Verhören „freundlich“ aufgefordert, ihre Mitschüler zu denunzieren. Die empörten Eltern toben, die Situation eskaliert. Wer schon mal einen Abend mit aufgebrachten Helikoptereltern verbringen musste, weiß: Übertrieben ist das nicht. Flecki Fleckenstein kann davon ein Lied singen. Ob allerdings Schüler derart wortgewandt und clever Erwachsene vorführen können, wie hier gezeigt, sei dahingestellt. Da tut das Drehbuch vielleicht schlauer als die Realität.

Fazit: Nach dem Film ist man dankbar, dass die Schulzeit lange vorbei ist und höchstens in Albträumen wiederkommt.

INFOS ZUM FILM

Deutschland 2022
98 min
Regie İlker Çatak

alle Bilder © Alamode Film

Spoiler Alarm

SPOILER ALARM

Spoiler Alarm

SPOILER ALARM

Ab 04. Mai 2023 im Kino

Das wäre ja mal originell. Einen Film, der SPOILER ALARM heißt, ohne Spoiler zu besprechen. Warum das nicht geht? Weil die Zutaten der romantischen Tragikomödie spätestens seit LOVE STORY sowieso jeder kennt.

Im Leben wie im Filmgeschäft gibt es Doppelgänger. Als ARMAGEDDON 1998 in die Kinos kommt, war nur wenige Wochen zuvor DEEP IMPACT gelaufen. Zwei Filme mit gleichem Inhalt, der eine ein internationaler Erfolg, der andere bald vergessen. Ähnlich verhält es sich bei SPOILER ALARM. Vor kurzem lief die gay-rom-com BROS in den Kinos. Nun scheint es fast, als hätte man sich beim verantwortlichen Studio Universal Pictures gedacht: Machen wir den gleichen Film nochmal, nur in traurig.

Hoher Schnieffaktor

Wieder verlieben sich zwei Männer in einem Nachtclub. Der eine, Michael (Jim Parsons), ein Schlümpfe sammelnder Journalist, der andere, Kit (Ben Aldridge), ein attraktiver hunk. Es folgen ein paar peinliche Sexszenen. Kaum ziehen die beiden zusammen, gibt’s gesellige Abende mit  guten (Klischee)-Freunden am dinner table. Auch den Ausflug an die Küste inklusive hübschem Strandhaus hat man so ähnlich in BROS gesehen.

Ansonsten unterscheidet sich SPOILER ALARM wohltuend von seinem missglückten Doppelgänger, vor allem in Sachen Herzenswärme und Sympathie der Figuren. Michael ist ein Nerd, der sein Leben von Kindheit an als Comedy-TV-Show (inklusive Laugh Track) fantasiert. Das ist originell und hübsch meta, denn Hauptdarsteller Jim Parsons verdankt eben solch einem Format seinen Ruhm: THE BIG BANG THEORY.

SPOILER ALARM basiert auf dem Bestseller „Spoiler Alert: The Hero Dies“ von Michael Ausiello. In seinen Memoiren verarbeitet der Journalist den Krebstod seines Ehemannes. Dass die Geschichte schlecht ausgeht, verrät der Film schon in der ersten Einstellung. Nach dem Schnieffaktor während der Pressevorführung zu urteilen, sollte SPOILER ALARM unbedingt mit ausreichendem Taschentuchvorrat geschaut werden.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Spoiler Alert“
USA 2022
112 min
Regie Michael Showalter

alle Bilder © Universal Pictures International Germany

The Whale

THE WHALE

The Whale

THE WHALE

Ab 27. April 2023 im Kino

Brendan Fraser spielt die Rolle seines Lebens

Der zurückgezogen lebende Englischlehrer Charlie (Brendan Fraser) ist so fett wie ein Wal. Todkrank versucht er, sich mit seiner bockigen Teenager-Tochter zu versöhnen. Es ist seine letzte Chance auf Wiedergutmachung, nachdem er acht Jahre zuvor seine Familie wegen eines Mannes verlassen hat.

Oscar für Brendan Fraser als Bester Hauptdarsteller

Es gibt tatsächlich nur einen Grund, THE WHALE anzuschauen – und der heißt Brendan Fraser. In eine groteske Fatsuit gesteckt, spielt er die Rolle seines Lebens. Ihm gelingt das Kunststück, Charlie nicht als Freak der Lächerlichkeit preiszugeben, sondern als einen warmherzigen Menschen darzustellen, der Respekt verdient. Fraser reanimiert mit einer schauspielerischen Tour de Force seine seit Jahren dümpelnde Kinokarriere und macht THE WHALE im Alleingang zu einem besseren Film.

THE WHALE von Samuel D. Hunter gehört in die Kategorie der verfilmten Theaterstücke wie WER HAT ANGST VOR VIRGINIA WOLF? oder DEATH OF A SALESMAN, die in erster Linie durch ihre Schauspieler beeindrucken. Ansonsten muss man sich fragen, was die Botschaft von THE WHALE sein soll. Dass sehr, sehr dicke Menschen neben Bluthochdruck auch ein Herz haben? Rein cineastisch gesehen ist das Kammerspiel mit seinen gestelzten Dialogen und eindimensionalen Nebenfiguren keine große Kunst.

Personen treten auf, halten dramatische Monologe und gehen wieder ab. Bei der Adaption von Bühne zu Film hätte ein bisschen mehr Kreativität nicht geschadet. Fehlt nur noch der rote Vorhang am Ende. Gemessen an BLACK-SWAN-Regisseur Darren Aronofskys letztem Fiasko MOTHER!, ist es aber immerhin ein Schritt zurück zu alter Form.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „The Whale“
USA 2022
117 min
Regie Darren Aronofsky

alle Bilder © PLAION PICTURES

4 TAGE BIS ZUR EWIGKEIT

4 TAGE BIS ZUR EWIGKEIT

Ab 27. April 2023 im Kino

Der Sage nach verschwand das junge Fräulein Idilia Dubb während eines Ausflugs spurlos. Erst 12 Jahre später fand man ihre sterblichen Überreste.

4 TAGE BIS ZUR EWIGKEIT – klingt nach US-Melodram, ist aber eine urdeutsche Sagengeschichte. Im Mittelrheintal des 19. Jahrhunderts: Die junge Idilia Dubb erwacht in einer Burgruine mit blutender Kopfwunde. Sie kann sich an nichts erinnern. Nur ihr Tagebuch gibt Hinweise auf ihre Vergangenheit. Es scheint, als verbinde sie eine heimliche Romanze mit dem abessinischen Schausteller Caven, der in der Völkerschau ihres Verlobten arbeitet. Während sich Idilias Erinnerungstrümmer langsam zusammenfügen, verschwimmen Realität und Fantasie immer mehr. Von hohen Mauern umschlossen, scheint ihre Situation ausweglos. Ein viertägiger Kampf ums Überleben beginnt.

Pappmaché-Kulissen und düsterer Elektrosound. Das Kinodebüt von Simon Pilarski und Konstantin Korenchuk bewegt sich irgendwo zwischen tschechischem Märchenfilm und der Mystery-Serie DARK. Bei Ausstattung und Inszenierung gibt es noch Luft nach oben, aber die Geschichte vom verschollenen Fräulein ist durchaus stimmungsvoll umgesetzt. Ein Genrefilm aus Deutschland, das hat immer noch Seltenheitswert. Allein schon deshalb sind die 4 TAGE BIS ZUR EWIGKEIT mit Lea van Acken und Eric Kabongo sehenswert.

INFOS ZUM FILM

Deutschland 2022
102 min
Regie Simon Pilarski und Konstantin Korenchuk
Kinostart 27. April 2023

alle Bilder © Sternenberg Films

Infinity Pool

INFINITY POOL

Infinity Pool

Brandon Cronenbergs neuer Horrorfilm - Papa David wäre stolz

Ist ein Konditorensohn, der das Geschäft seines Vaters übernimmt und weiter dessen Rezepte verwendet, ein Kopist? Oder ist er ein Traditionalist? Und was ist Brandon Cronenberg, dessen neuer Film voller Anleihen an die Werke seines Vaters steckt? Sperma, Urin, Blut, Kotze, Muttermilch – das Best of Körperflüssigkeiten kennt man bereits aus David Cronenbergs Werken, inklusive destruktiver Veränderungen der Physis und surreal bunt gefilterter Traumsequenzen. Kopie als höchste Form der Anerkennung?

THE WHITE LOTUS, aber für Kranke

Strand, Sonne, diensteifriges Personal: James (Alexander Skarsgård) und Em (Cleopatra Coleman) genießen den perfekten Urlaub. Doch als die beiden mit dem befreundeten Paar Gabi (Mia Goth) und Alban (Jalil Lespert) das Areal des Luxusresorts verlassen, kommt es zu einem tragischen Unfall. Schnell eskaliert die Situation. Die Null-Toleranz-Politik, mit der die Insel gegen Kriminalität vorgeht, stellt James vor die Alternative: hingerichtet werden oder – sofern er bezahlt – seinem Doppelgänger beim Sterben zusehen.

Der Ferientrip in die Hölle ist zumindest gut besetzt. Auf Horror versteht sich Mia Goth spätestens seit X und PEARL. Zusammen mit Alexander Skarsgård trippt sie sich durch den irrwitzigen INFINITY POOL und macht dabei eine ausgezeichnete Figur. Leider geht dem rich-people-bashing gegen Ende in psychedelischem Ballaballa die Luft aus. Was anfangs noch schockt, wirkt auf Dauer nur noch ermüdend. Ein tieferer Sinn lässt sich ohnehin nicht ausmachen.

Empfehlenswert für alle, denen TRIANGLE OF SADNESS zu laff war. INFINITY POOL bedient sich aus demselben Genpool, verzichtet aber weitestgehend auf den beißenden Humor Ruben Östlunds zugunsten übelkeitserregendem Body-Horror. Und weil man es nicht besser zusammenfassen kann, hier ein Zitat aus der US-Presse: „Brandon Cronenberg’s THE WHITE LOTUS for sickos“

Originaltitel „Infinity Pool“
Kanada / Kroatien / Ungarn 2022
118 min
Regie Brandon Cronenberg 

alle Bilder © Universal Pictures International Germany

roter himmel

ROTER HIMMEL

roter himmel

ROTER HIMMEL

Ab 20. April 2023 im Kino

Der neue Petzold - nur auf den ersten Blick eine leichte Komödie

Die Berlinale 2023 war mal wieder ein durchwachsenes Vergnügen. Doch Christian Petzold sei Dank, gab es mit ROTER HIMMEL einen deutschen Beitrag, der mehr als nur okay war. Im extra trüben Wettbewerb leuchtete sein Film besonders hell. 

Bei der Berlinale gewann Petzolds Film den Großen Preis der Jury

Zwei Freunde, der eine Fotograf, der andere Schriftsteller, machen ein paar Tage Urlaub an der Ostsee. In ihrem Ferienhaus treffen sie Nadja, die sich nachts mit Devid (im Osten gab es nicht nur Maiks), dem örtlichen Rettungsschwimmer vergnügt. Vier junge Menschen, von denen drei Spaß haben, nur Leon, der Schriftsteller, quält sich. Die gute Laune der anderen lässt ihn immer mürrischer werden, zumal ihm sein Verleger im Nacken sitzt. Es ist Sommer, um das Haus herum brennt der Wald, der Himmel färbt sich rot, bald regnet es Asche.

ROTER HIMMEL ist der zweite Teil einer Trilogie. Wie schon in UNDINE platziert Petzold moderne Charaktere in ein märchenhaftes Setting. Diesmal ins deutscheste aller deutschen Märchensettings: den Wald. Die Symbolik des alles verschlingenden Feuers für die lodernden Gefühle der vier jungen Menschen erdrückt dabei nicht. Das vielschichtige Drama wechselt meisterhaft von leichter Komödie zu tiefgründiger Tragödie. Dazu eine ausgezeichnete Besetzung, vor allem Paula Beer als lebensfrohe Nadja und Thomas Schubert als miesepetriger Leon. Bei der Berlinale gewann Petzolds Film den Großen Preis der Jury.

INFOS ZUM FILM

Deutschland 2023
102 min
Regie Christian Petzold

alle Bilder © Piffl Medien

Irgendwann werden wir uns alles erzählen

IRGENDWANN WERDEN WIR UNS ALLES ERZÄHLEN

Irgendwann werden wir uns alles erzählen

IRGENDWANN WERDEN WIR UNS ALLES ERZÄHLEN

Ab 13. April 2023 im Kino

Emily Atefs Berlinale-Beitrag: Es gibt ihn noch, den typisch deutschen Problemfilm.

Sommer 1990. Ein Bauernhof an der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze. Johannes hat für seine Freundin Maria und sich den Dachboden bei seinen Eltern zum kleinen Idyll gemacht. Maria liest Dostojewski, streift durch die Wiesen und widmet sich auch sonst dem süßen Nichtstun. Ihre Begegnung mit Henner, dem um einiges älteren Nachbarn, macht der Beschaulichkeit ein Ende. Eine tragische Liebe nimmt ihren Lauf.

IRGENDWANN WERDEN WIR UNS ALLES ERZÄHLEN gehört in die Kategorie Filme, bei denen schon nach wenigen Minuten klar ist, dass man sich weder für die Figuren noch ihre deprimierenden Probleme interessiert. Das hölzern gespielte Drama von der verbotenen Liebe verläuft ereignislos und zieht sich über 129 Minuten wie Kaugummi. Von der Dramatik des Trailers ist im Film wenig zu spüren. Sehenswert sind in diesem deutschen Berlinale-Wettbewerbsbeitrag einzig die sommerlichen Landschaften Ostdeutschlands. Ernüchterndes Fazit: Es gibt ihn noch, den typisch deutschen Problemfilm.

INFOS ZUM FILM

Deutschland 2023
129 min
Regie Emily Atef

alle Bilder © Pandora Film

Der Fuchs

DER FUCHS

Der Fuchs

DER FUCHS

Ab 13. April 2023 im Kino

Die wahre Geschichte einer Freundschaft zwischen Mann und Fuchs

Westfront, Schützengraben, Wassersuppe. Wenn Opa mal wieder vom Krieg erzählt, verdreht der Enkel die Augen. Nicht so Adrian Goiginger. Der hat genau zugehört und aus den Kindheits- und Jugenderinnerungen seines Urgroßvaters einen Film gemacht. Vielleicht weil dessen Geschichte einen hohen Niedlichkeitsfaktor hat. Während des zweiten Weltkriegs war ein Fuchs der treue Weggefährte des jungen Soldaten.

Die Geschichten der Alten sterben mit ihnen

Die Geschichten der Alten sterben mit ihnen, und wenn die nachfolgenden Generationen sie nicht aufschreiben (oder verfilmen), sind sie für immer verloren. Wer weiß heute zum Beispiel noch, dass im Türnich der 30er-Jahre Verstorbene manchmal mit Klingelschnüren an den Händen im Gebüsch versteckt wurden, um dem nächsten Besucher, der am Tor schellte, kalt und steif in die Arme zu fallen? Eine wahre Geschichte. Wahrscheinlich.

Zurück zum Film. Österreich, Mitte der 1920er-Jahre: Die Bergbauernfamilie Streitberger gibt ihren jüngsten Sohn zu einem Großbauern weg. Das Einkommen reicht nicht, die vielen Kindermäuler zu stopfen. Als Knecht darf Franz zwar Lesen und Schreiben lernen, erfährt aber sonst keine Zuneigung. Kaum volljährig, verpflichtet er sich bei der Armee und zieht wenige Jahre später in den Krieg an die Westfront nach Frankreich. Dort findet die schicksalhafte Begegnung mit dem ausgesprochen hübschen Fuchswelpen statt. Wie Hund und Herrchen bleiben die beiden für die nächsten Monate unzertrennlich.

Ganz wie das echte Leben folgt auch DER FUCHS keiner klassischen Dramaturgie. Drehbuchautor und Regisseur Goiginger erzählt die Parabel vom verstoßenen Kind, das erst durch die Freundschaft zu einem Tier wieder den Glauben an die Liebe zurückgewinnt. Am stärksten sind dabei die Anfangsszenen auf der Alm. Die Entbehrungen, der Hunger, das gemeinsame Schweigen am abendlichen Feuerofen – alles sehr authentisch, das hat fast dokumentarischen Charakter. Allein deshalb ist DER FUCHS sehenswert.

INFOS ZUM FILM

Deutschland / Österreich 2021
117 min
Regie Adrian Goiginger 

alle Bilder © Alamode Film

DIE KAIRO VERSCHWÖRUNG

DIE KAIRO VERSCHWÖRUNG

Kinostart 06. April 2023

Während unsereins in jungen Jahren vielleicht davon träumt, mal in Oxford oder Cambridge zu studieren, ist für einen echten Muslim die Azhar-Universität in Kairo das höchste der Gefühle. Adam (Tawfeek Barhom), Sohn eines einfachen Fischers, hat es geschafft: Er erhält ein Stipendium für das renommierte Institut. Kaum ist er dort eingetroffen, stirbt das Oberhaupt der Universität, der Großimam. Es beginnt ein Kampf um seine Nachfolge. Der dubiose Regierungsbeamte Ibrahim (Fares Fares) rekrutiert Adam als Informanten für die ägyptische Stasi, denn der Geheimdienst will seinen Wunschkandidaten zum neuen Großimam wählen lassen. Adam gerät nicht nur zwischen die Fronten der religiösen und politischen Eliten des Landes, sondern bald auch in Lebensgefahr.

Mehr Arthouse- als Actionkino

Verrat! Intrige! Mord! Alle Zutaten für einen handfesten Thriller sind vorhanden. Und doch ist „Boy from Heaven“ (so der Originaltitel) ganz anders als die übliche Krimikost. Die Geschichte erinnert an eine nahöstliche Interpretation von Ecos „Der Name der Rose“: Ein junger, naiver Lehrling und sein Ziehvater versuchen einen mysteriösen Kriminalfall zu lösen.

Tarik Salehs spannender Politthriller hat einen reißerischen deutschen Titel, gibt aber einen ruhigen, fast dokumentarischen Einblick in eine dem westlichen Auge verschlossene Welt. Das ist mehr Arthouse- als Actionkino. Im Wettbewerb des Festivals de Cannes 2022 gewann „Die Kairo Verschwörung“ den Preis für das „Beste Drehbuch“.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Boy from Heaven“
Schweden /  Frankreich / Finnland 2022
125 min
Regie Tarik Saleh

alle Bilder © X Verleih

DER GYMNASIAST

DER GYMNASIAST

Kinostart 30. März 2023

„Mein Leben ist zu einem wilden Tier geworden, das mich beißt, wenn ich ihm zu nahe komme.“
Internatsschüler Lucas (niedlich: Paul Kircher) ist traumatisiert. Seit dem tödlichen Autounfall seines Vaters ist seine Familie von Trauer überwältigt. Als ihn sein Bruder Quentin einlädt, ein paar Tage nach Paris zu kommen, ändert sich für den 17-Jährigen alles. DER GYMNASIAST ist eine sehr persönliche Erzählung des Regisseurs Christophe Honoré, in dem er den frühen Tod seines eigenen Vaters verarbeitet.

L'art pour l'art

Erst mal das Positive: die Schauspieler! Allein Juliette Binoche (immer toll), Vincent Lacoste und Erwan Kepoa Falé sind Grund genug, sich die über zweistündige Trauerarbeit der Familie Ronis anzuschauen. Vor allem aber der junge Paul Kircher ist eine Entdeckung. Er trägt den Film, spielt authentisch und glaubwürdig den schwulen Teenager, dem der Boden unter den Füßen wegbricht. Beim Filmfestival von San Sebastian gab es dafür bereits einen Preis als bester Hauptdarsteller.

Und sonst? Großaufnahmen, Zeitraffer, wackelige Kamera: L’art pour l’art – der Film ist voller Kunstgriffe ohne tieferen Sinn. Mehr irritierend als erhellend ist eine Art gefilmtes Voiceover, in dem Lucas redundant in die Kamera spricht, was sich auch so durch die Handlung erschließt. Das lenkt vom Wesentlichen ab und erzeugt unnötige Längen. LE LYCÉEN – ein französisches Drama, vor allem wegen der Besetzung sehenswert.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Le Lycéen“
Frankreich 2022
122 min
Regie Christophe Honoré

alle Bilder © Salzgeber

THE ORDINARIES

THE ORDINARIES

Kinostart 30. März 2023

Das ganze Leben ist ein Film: Menschen sind entweder Hauptfiguren, Nebenfiguren oder – geächtete – Outtakes. In diesem bizarren Paralleluniversum hat Paula die wichtigste Prüfung ihres Lebens vor sich: Sie muss beweisen, dass auch sie das Zeug zur Hauptfigur hat. Als Klassenbeste in Cliffhanger, Zeitlupe und panischem Schreien bringt sie eigentlich beste Voraussetzungen mit. Um noch emotionaler spielen zu können, sucht sie nach „Flashbacks“ von ihrem Vater, der vor vielen Jahren bei einem Massaker ermordet wurde. Doch sein Name ist aus allen Datenbanken gelöscht. War ihr Vater wirklich eine strahlende Hauptfigur, die den Heldentod starb?

Science-Fiction-Comedy-Musical-Drama

Eine verwöhnte, ignorante Oberschicht und das einfache Volk, das in eingezäunten DDR-Gettos haust – das Setting erinnert an Terry Gilliams Dystopieklassiker BRAZIL, wild gemixt mit der künstlichen 50er-Jahre-Welt der TRUMAN SHOW. Nur dass die Ordinaries-Protagonisten nicht irgendwann aus der Kulisse treten und sich in der Realität wiederfinden.

Mehr Mut zum Schnitt! Denn die etwas dünne Story ermüdet auf Dauer mit Wiederholungen. Regisseurin Sophie Linnenbaum hat eine Kurzfilmidee auf 120 Minuten gestreckt. Dafür punktet das Science-Fiction-Comedy-Musical-Drama mit Ausstattung, skurrilen visuellen Einfällen und originellen Details. So gibt es zum Beispiel „Fehlbesetzungen“ wie das Hausmädchen, dass von einem verlebten Mann gespielt wird. Oder Paulas Mutter, die als Nebenfigur nur über einen begrenzten Wortschatz verfügt: „Ich habe mir Sorgen gemacht. Ich bin stolz auf dich“ lauten ihre monoton heruntergebeteten Drehbuchphrasen.

THE ORDINARIES ist (über)-ambitioniertes, teils clever gemachtes Genrekino aus Deutschland. Auszeichnungen gab es bereits reichlich: unter anderem den First Steps Award und diverse Publikumspreise. Ein nicht durchweg überzeugendes Spielfilmdebüt, das trotz Längen neugierig auf die nächsten Arbeiten der Regisseurin macht.

INFOS ZUM FILM

Deutschland 2022
120 min
Regie Sophie Linnenbaum

alle Bilder © notsold und Port au Prince Pictures

SISI UND ICH

SISI UND ICH

Kinostart 30. März 2023

Sisi hier, Sisi da, Sisi wo man hinschaut. Ihre kaiserliche Omnipräsenz gibt sich schon wieder die Ehre. Neben diversen Netflix- und RTL-Serien war zum Thema zuletzt der österreichische Oscarbeitrag CORSAGE im Kino zu sehen.

Wilde Neuinterpretation des vielerzählten Mythos

Irma Gräfin von Sztáray bewirbt sich als Hofdame von Kaiserin Elisabeth von Österreich-Ungarn. Doch das Casting ist nicht ohne: Erst schlägt ihr die gestrenge Mutter die Nase blutig, dann wird sie wie ein Stück Vieh untersucht und verhört. Endlich auserwählt, kommen sich die Gräfin und die Kaiserin auf Sisis Sommersitz auf Korfu schnell nah.

SISI UND ICH ist all das, was CORSAGE gerne gewesen wäre. Eine wilde Neuinterpretation des vielerzählten Mythos. Grotesk und sehr komisch. Susanne Wolff und Sandra Hüller sind schlichtweg grandios, Locations und Kostüme erlesen, und das Ganze wird von einem überraschend modernen Soundtrack zwischen Nico und Portishead begleitet. Sehr gelungen.

INFOS ZUM FILM

Deutschland / Schweiz / Österreich 2023
132 min
Regie Frauke Finsterwalder

alle Bilder © DCM

DIE FABELMANS

DIE FABELMANS

Kinostart 09. März 2023

Steven Spielberg ist in Hochform und keiner will es sehen. Wie schon zuletzt seine Neuverfilmung der WEST SIDE STORY ist auch DIE FABELMANS an den amerikanischen Kinokassen gefloppt. Filme für Erwachsene funktionieren nicht mehr, unkt die US-Presse. Dabei sollte man gerade Filme wie DIE FABELMANS im Kino auf der großen Leinwand sehen. Nicht nur wegen Janusz Kamińskis magischen Bildern, sondern weil die 151 Minuten lange Kindheits- und Jugenderinnerung Spielbergs einen Sog entfaltet, dem man sich ohne Ablenkung hingeben muss.

Michelle Williams wird als Kandidatin für den Oscar gehandelt

Cecil B. DeMilles THE GREATEST SHOW ON EARTH öffnet dem kleinen Sam die Augen, besonders eine Kollisionsszene mit zwei Zügen und einem Auto. Zu Hause stellt er das Unglück mit Spielzeug nach. Seine Mutter bringt ihn auf die Idee, das Ganze zu filmen, damit er es sich so oft ansehen kann, wie er will. Voilà. Das erste Werk des Jungregisseurs ist fertig. In immer aufwändigeren Produktionen setzt er bald seine Schwestern und Freunde in Szene. Während sich seine Eltern mehr und mehr auseinanderleben, hat Sam Fabelman seine Bestimmung gefunden: das Filmemachen.

Großartig: Gabriel LaBelle als junger Sammy Fabelman aka Steven Spielberg und Judd Hirsch in einer Gastrolle als schräger Onkel Boris. Michelle Williams, die die Mutter spielt, wird als Kandidatin für den Oscar gehandelt. Für ihre Gesamtleistung hätte sie es verdient, obwohl sie in manchen Szenen dermaßen überdreht spielt, dass man sich fragt: Ist das noch Schauspielkunst oder schon Overacting?

Im Januar diesen Jahres gewann THE FABELMANS den Golden Globe als bestes Drama. Er habe sich lange nicht getraut, so eine persönliche Geschichte zu erzählen, sagt der Regisseur bei der Preisverleihung. Quatsch, denn den viel persönlicheren Film über die Ängste seiner Kindheit hat er schon vor 40 Jahren gedreht: ET.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „The Fabelmans“
USA 2022
151 min
Regie Steven Spielberg

alle Bilder © Universal Pictures International Germany

ALLE WOLLEN GELIEBT WERDEN

ALLE WOLLEN GELIEBT WERDEN

Kinostart 08. März 2023

Pünktlich zum internationalen Frauentag gibt es einen Film aus der Kategorie: Was hätten wohl die Franzosen aus diesem Stoff gemacht? Wahrscheinlich eine federleichte Sommer-Komödie mit viel Herz und Charme. Wir Deutschen gehen da anders ran – problembewusster.

Kinder nerven und Eltern sowieso

Ein langer Tag im Leben der Psychotherapeutin Ina. Ihre egozentrische Mutter feiert 70sten Geburtstag, ihre Tochter hat pubertierend dauerschlechte Laune und ihr Freund will unbedingt nach Norwegen auswandern. Mittendrin Ina, die es allen recht machen will. Bei dem ganzen Stress kein Wunder, dass sie sich in letzter Zeit so schlecht fühlt.

Katharina Wolls Kinodebüt ALLE WOLLEN GELIEBT WERDEN beschäftigt sich mit dem Druck, der auf modernen Frauen lastet. Einerseits Haushalt führen und fürsorgliche Mutter sein, andererseits Karriere machen und die Familie managen – widersprüchliche Erwartungen, die großes Konfliktpotenzial bergen. Doch Wolls Film kratzt nur an der Oberfläche, befriedigt weder als Komödie noch als Drama.

Auch Bildungsbürger mit gut bezahlten Berufen, Neuwagen und schönen Wohnungen haben es nicht leicht, ja ja. Am Ende steht kein Erkenntnisgewinn, außer, dass Kinder nerven und Eltern sowieso. Das beste Argument für ALLE WOLLEN GELIEBT WERDEN ist die tolle Hauptdarstellerin Anne Ratte-Polle, die ihre Rolle mit leiser Ironie spielt und bei all der Qual fast bis zum Ende bewundernswert die Haltung wahrt.

INFOS ZUM FILM

Deutschland 2022
80 min
Regie Katharina Woll

alle Bilder © Camino

SONNE UND BETON

SONNE UND BETON

Kinostart 02. März 2023

Berlin, Sommer 2003: Lukas, Julius, Gino und Sanchez – vier Jungs, die jede Menge Scheiß bauen und denen jede Menge Scheiß widerfährt. Muss das sein, diese vulgäre Sprache? Ja, denn in „Gropius“ aufzuwachsen ist nichts für Weicheier. Gangster oder Opfer. Hier gilt: Der Klügere tritt nach. An Drogen und Schlägereien kommt keiner vorbei. Die Sprache ist so rau wie die vier minderjährigen Kleingangster, die dringend 500 € klar machen müssen, sonst gibts Schläge von den Arabern.

Irgendwo zwischen EIS AM STIEL und 4 BLOCKS

Digger, ich schwöre, ich zerficke dir dein Gesicht. Herzige Dialoge wie dieser werfen die interessante Frage auf: Haben Jugendliche in den Nuller-Jahren wirklich schon derart penetrant gediggert wie heute? Dass mittlerweile 10-Jährige „Diggi“ schwafelnd durch die Straßen laufen, schlimm genug. Aber vor 20 Jahren? Man kann sich bei der Gelegenheit ohnehin fragen, weshalb Regisseur David Wnendt die Geschichte nicht in die Jetztzeit verlegt hat. Altmodische Handys und ein paar Nachrichtenbilder von Kanzler Schröder sind die einzigen Hinweise auf die Anfang-Tausender und haben keinen echten Mehrwert.

Felix Lobrecht zählt zu den gefeiertsten Comedians des Landes, füllt mit seinen Shows die größten Stadien und „Gemischtes Hack“ hat sowieso jeder schon einmal gehört, der sich für Podcasts interessiert. Die massenkompatible Verfilmung seines Bestsellers SONNE UND BETON liegt irgendwo zwischen EIS AM STIEL und 4 BLOCKS für Jugendliche. Bisschen doof, bisschen nervig, trotzdem lustig und sehr kurzweilig.

INFOS ZUM FILM

Deutschland 2023
119 min
Regie David Wnendt

alle Bilder © Constantin Film Verleih

DER ZEUGE

DER ZEUGE

Kinostart 02. März 2023

Carl Schrade, ein ehemaliger Juwelenhändler, der jahrelang in verschiedenen Konzentrationslagern gefangen gehalten wurde, sagt als Kronzeuge vor einem US-Militärgericht gegen seine Peiniger aus. Auf der Anklagebank sitzen SS-Männer, NSDAP-Funktionäre und Ilse Koch, die Frau des berüchtigten KZ-Kommandanten Karl Koch.

Fast nüchtern werden die Gräueltaten der Nazis nacherzählt

DER ZEUGE basiert auf realen Gerichtsprotokollen. Regisseur Bernd Michael Lade stellt in seinem Prozess-Drama Täter- und Opferaussagen gegenüber. Fast nüchtern werden die Gräueltaten der Nazis nacherzählt, die zum Tod von Millionen Menschen in den Konzentrationslagern führten.

Lade setzt auf Realismus und lässt die Aussagen der Protagonisten von Anfang bis Ende übersetzen. Ganz so, wie es in den Gerichtsprotokollen geschrieben steht. Spricht ein Angeklagter Deutsch, so wird seine Aussage von einer Übersetzerin auf Englisch wiederholt. Umgekehrt werden die englischen Zeugenaussagen ins Deutsche übersetzt. Wort für Wort, Satz für Satz. Das erfordert Geduld. Natürlich wäre es kein Problem gewesen, spätestens nach fünf Minuten den üblichen Crossfade zu machen und alle Figuren in einer Sprache sprechen zu lassen. Oder Untertitel. Doch solchen filmischen Tricks verweigert sich der Regisseur, um „mit einem inneren Widerhall die Aussagen fühlbar zu machen.“ Für den Zuschauer anstrengend, aber immerhin konsequent durchgezogen.

Bernd Michael Lade selbst spielt die Hauptrolle, seine Ex-Ehefrau Maria Lade gibt mit blecherner Transistorradiostimme die Übersetzerin, der gemeinsame Sohn Jonathan agiert als Statist im Hintergrund, neben ihm sein Halbbruder Ludwig Simon. Ein Kammerspiel mit Familienbesetzung, das noch viele Schülergenerationen im Geschichtsunterricht begleiten wird.

INFOS ZUM FILM

Deutschland 2022
93 min
Regie Bernd Michael Lade

alle Bilder © Neue Visionen

TÁR

TÁR

Kinostart 02. März 2023

Dass Cate Blanchett unlängst Filmpreisverleihungen als „Pferderennen“ kritisierte, ist alles andere als Neid einer Besitzlosen. Für ihre Titelrolle in dem Musikdrama TÁR bereits bei den Golden Globes und der Biennale als beste Darstellerin ausgezeichnet, ist die 53-Jährige erneut vielversprechende Anwärterin auf den Oscar.

Aufstieg und Fall einer Diva

Das Werk erzählt die fiktive Geschichte von Lydia Tár, die als erste Chefdirigentin der Berliner Philharmoniker das Vorspielen weiblicher Talente mit ihren privaten Interessen vermischt. Dieser Machtmissbrauch schadet auf Dauer sowohl ihrer ehelichen Beziehung zu Violinistin Sharon als auch ihrer einmaligen Karriere.

Die anspruchsvolle Rolle ist Cate Blanchett auf den Leib geschrieben, sie dominiert den Film. Ganze 158 Minuten lang. TÁR ist in vielerlei Hinsicht anzumerken, dass Todd Field in seiner dritten Regiearbeit nach 16-jähriger Schaffenspause ein immenses Mitteilungsbedürfnis hat: Künstlerporträt, #MeToo-Thematik, konzertantes Making-of, Selbstmord, Schulhofmobbing, Altersarmut – um nur einige Themen zu nennen. Das Ganze inszeniert in vermeintlich originalem Berliner Lokalkolorit zwischen vermülltem Neuköllner Hinterhof und stylish komponiertem Waschbeton-Refugium. Dazu Gustav Mahlers fünfte Symphonie und zeitgenössische Kompositionen von Hildur Guðnadóttir sowie eine Riege von Co-Darstellern, die das Universum der Lydia Tár bevölkern: Noémie Merlant, Julian Glover, Nina Hoss als erste Geige und vor allem viele echte Orchestermusiker.

Ein intellektuell anspruchsvoller Film, der beachtlichen Erfolg bei der Kritik, mutmaßlich weniger beim unterhaltungsaffinen Publikum haben dürfte. Dafür bietet TÁR buchstäblich zu viel des Guten.

Text: Anja Besch

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „TÁR“
USA 2022
158 min
Regie Todd Field

alle Bilder © Universal Pictures International Germany

WANN WIRD ES ENDLICH WIEDER SO SEIN, WIE ES NIE WAR

WANN WIRD ES ENDLICH WIEDER SO SEIN, WIE ES NIE WAR

seit 23. Februar 2023 im Kino

Eine etwas andere Kindheit: Josse wächst auf dem Gelände einer psychiatrischen Klinik auf. Für den jüngsten Sohn von Direktor Meyerhoff (Devid Striesow) gehören die körperlich und geistig Behinderten quasi zur Familie. Am besten schläft er, wenn er nachts die Schreie der Patienten hört. Vielleicht weil er selbst immer wieder Tobsuchtsanfälle bekommt. Dann setzen ihn die Eltern auf die Waschmaschine. Das Schleudern beruhigt den hypersensiblen Jungen.

Ergreifend und voll absurder Momente

Kann man die mittlerweile fünf autobiografischen Romane Joachim Meyerhoffs überhaupt verfilmen? Ja, man kann. Komisch, ergreifend und voll absurder Momente: Sonja Heiss hat die 70er-Jahre Stimmung des zweiten Bands der Lebenserinnerungen des Schauspielers punktgenau eingefangen. Dabei sind die Figuren nicht einmal so besetzt, wie man sich das vielleicht beim Lesen vorstellt. Aber dank der stimmigen Inszenierung und dem hervorragenden Spiel taucht man schnell in die Welt der schrägen Familie ein.

Joachim Meyerhoff erzählt in seinen Büchern keine klassisch aufgebaute Geschichte, sondern reiht Erinnerungen und Begebenheiten lose aneinander. Kleiner Wermutstropfen: Der Stoff hätte locker für eine Fernsehserie gereicht. Ganze viermal wechselt der Schauspieler des Josse: vom Kind zum Teenager bis zum jungen Mann. Das geht dann doch ein bisschen zu schnell. Trotzdem: WANN WIRD ES ENDLICH WIEDER SO, WIE ES NIE WAR ist die gelungene Verfilmung eines unverfilmbaren Buchs, hoffentlich mit Fortsetzung.

INFOS ZUM FILM

Deutschland 2023
116 min
Regie Sonja Heiss

alle Bilder © Warner Bros. Pictures Germany

DIE AUSSPRACHE

DIE AUSSPRACHE

Kinostart 09. Februar 2023

Selten hat es ein Filmtitel so gut zusammengefasst: DIE AUSSPRACHE heißt im Original WOMEN TALKING. Und genau das tun sie. Schließlich geht es um lebenswichtige Entscheidungen. Wie spannend so ein Dialogfilm sein kann, weiß man spätestens seit DIE ZWÖLF GESCHWORENEN.

Oscarwürdiges Schauspielensemble

2010 – In einem kleinen Ort in den USA lebt eine Gruppe Mennoniten, die sich von der heutigen modernen Gesellschaft abschottet. Doch seit geraumer Zeit liegt ein Schatten über der Religionsgemeinschaft. Die Frauen werden nachts betäubt und vergewaltigt. Nun müssen sie entscheiden, wie es weitergehen soll: Nichts tun? Im Dorf bleiben und sich gegen die Männer wehren? Oder die Gemeinschaft mit den Kindern verlassen?

DIE AUSSPRACHE folgt weniger einer klassischen Handlung, ist mehr eine Anregung zum Nachdenken, ein Abwägen des Für und Wider von Rache und Vergebung. In langen Gesprächen diskutieren die Frauen die möglichen Konsequenzen ihrer Entscheidung. Regisseurin Sarah Polley vermeidet dabei jeden Voyeurismus: Die Geschichte hinter den Ereignissen mag zwar gewalttätig sein, doch der Film zeigt nie die Gewalt, die die Frauen erfahren. Nur kurze Ausschnitte des Danach sind zu sehen.

Das Schauspielensemble ist oscarwürdig, allen voran Rooney Mara und Claire Foy. Bis in die kleinste Nebenrolle ausgezeichnet besetzt, sorgen unter anderem Ben Whishaw und Frances McDormand für dramaturgisches (Schwer-)Gewicht. Fast monochrom, Gesichter im Halbschatten: Die Bilder (Kamera: Luc Montpellier) und die Farbgebung sind so düster wie die Geschichte selbst.

DIE AUSSPRACHE erinnert an eine Folge der TV-Serie THE HANDMAID’S TALE mit dem Unterschied, dass die Dystopie von Margaret Atwood Fiktion ist und DIE AUSSPRACHE auf wahren Begebenheiten beruht.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Women Talking“
USA 2021
104 min
Regie Sarah Polley

alle Bilder © Universal Pictures International Germany

BULLDOG

BULLDOG

Kinostart 02. Februar 2023

Neckisches Versteckspiel, lachend im Gras wälzen, zu tief in die Augen schauen: Man könnte glatt meinen, die beiden wären ein Liebespaar. Aber falsch, es sind Mutter und Sohn. Ödipus lässt grüßen: Bruno ist einundzwanzig und lebt mit seiner nur fünfzehn Jahre älteren Mutter Toni auf Ibiza. Die ungesund enge Beziehung wird gestört, als sich Toni in Hannah verliebt und diese in den gemeinsamen Bungalow einzieht. Bruno passt der unfreiwillige Dreier gar nicht und reagiert eifersüchtig.

Sommerliche Leichtigkeit trifft auf ernstes Thema

Forever Young: Die Haare pink, das Basecap mit dem Schirm nach hinten – Mutter und Sohn verweigern sich dem Erwachsenenleben, hangeln sich mit Gelegenheitsjobs durch. Die beiden haben mit ihrem launischen Teenagerverhalten großes Nervpotenzial. Da fällt es mitunter schwer, Sympathie zu entwickeln. Julius Nitschkoff, Lana Cooper und Karin Hanczewski spielen überzeugend, auch wenn die Dialoge oft klingen, als seien sie den Schauspielern beim Dreh spontan in den Sinn gekommen.

Sommerliche Leichtigkeit trifft auf ernstes Thema. Hätte man die gleiche Geschichte in einer grauen Hochhaussiedlung inszeniert, würde man als Zuschauer nach einer halben Stunde zum Strick greifen. Doch der deprimierende Kampf inmitten prekärer Lebensverhältnisse spielt hier in einer lichtdurchfluteten Ferienanlage. Palmen statt Beton machen BULLDOG zu einem interessanten Debütfilm mit guten Schauspielern, der zwischendurch ein wenig lahmt.

INFOS ZUM FILM

Deutschland / Spanien 2021
95 min
Regie André Szardenings

alle Bilder © missingFILMs

AUS MEINER HAUT

AUS MEINER HAUT

Kinostart 02. Februar 2023

Beliebte Frage in weinseliger Runde: Wenn Du für einen Tag mit jemandem den Körper tauschen könntest – wer wäre das? Die langweiligen Antworten reichen von „meine Frau“ über „Beyoncé“ bis „George Clooney“. Was aber wäre, wenn man wirklich in den Körper eines anderen Menschen schlüpfen könnte? Was wäre, wenn es einem da so gut gefällt, dass man gar nicht mehr zurückwill?

Interessantes Gedankenspiel um Genderfragen und Rollenmuster

Leyla (Mala Emde) und Tristan (Jonas Dassler) wirken frisch verliebt. Auf den ersten Blick. Doch Leyla wird von Selbstzweifeln und Depressionen geplagt. Auf Einladung einer Freundin (Edgar Selge – ja genau, Edgar Selge als Freundin) fährt das junge Paar auf eine Insel. Durch ein geheimnisvolles Ritual können die beiden dort ihre Körper mit einem anderen Paar (Maryam Zaree und Dimitrij Schaad) tauschen, um so die Welt aus deren Augen zu sehen.

Klingt nach Science-Fiction, ist aber eine intellektuelle Interpretation des guten alten „Freaky Friday“-Themas. Mit dem Unterschied, dass sich Alex Schaad nicht in die niederen Gefilde einer albernen Verwechslungskomödie begibt. Der Regisseur beschäftigt sich viel mehr mit den zwischenmenschlichen Konsequenzen, die so ein Körpertausch mit sich bringt. Liebt man einen Menschen wegen seines Aussehens oder wegen seines Charakters? Und spielt das Geschlecht dabei eine Rolle?

AUS MEINER HAUT (Drehbuch Alex und Dimitrij Schaad) ist ein interessantes Gedankenspiel um Genderfragen und Rollenmuster. Verpackt in eine Liebesgeschichte, bei der die Identitätsgrenzen verschwimmen und neue Persönlichkeiten entstehen. Ein Fest für Schauspieler, denn sie dürfen innerhalb einer Geschichte in verschiedene Rollen schlüpfen. Mala Emde, Dimitrij Schaad, Maryam Zaree, Thomas Wodianka und Edgar Selge bringen die nötige Ernsthaftigkeit, um der fantastischen Geschichte Bodenhaftung zu geben. Nur Jonas Dassler ist dem Regisseur von der Leine gegangen und overacted, als hätte er sich ins Ohnsorg-Theater verirrt. Positiv erwähnenswert ist neben den stimmungsvollen Bildern von Ahmed El Nagar vor allem der eindringliche Score von Richard Ruzicka.

INFOS ZUM FILM

Deutschland 2023
103 min
Regie Alex Schaad

alle Bilder © X-Verleih

CLOSE

CLOSE

Kinostart 26. Januar 2023

Die 13-Jährigen Léo und Rémi sind die allerbesten Freunde. Ihre Sommertage erfüllt von Wettrennen durch wogende Blumenfelder und kindlichen Ritterspielen im Schuppen hinter dem Hof. Nachts fantasieren sie sich in eine gemeinsame Zukunft, der eine als berühmter Musiker, der andere als sein Manager. Doch mit dem Ende der Sommerferien ändert sich alles.

Das Gift breitet sich in der neuen Schule durch die vermeintlich harmlose Frage einer Mitschülerin aus: „Seid ihr beiden ein Paar?“ Denn es kann nicht sein, dass zwei Jungs eine so enge Bindung haben, ohne dass sie schwul sind. Oder? Andere so zu lassen, wie sie sind, obwohl es nicht ins eigene Weltbild passt, fällt auch Kindern schwer. Es folgen die üblichen Gemeinheiten auf dem Schulhof: „Schwuchtel!“ Léo meidet den Kontakt immer mehr, denn er ist von den Gerüchten zutiefst verunsichert. Um dem klischeehaften Bild von Männlichkeit zu entsprechen, wird er Mitglied einer Hockeymannschaft. Für den sensiblen Rémi bedeutet das Ende der Freundschaft eine Katastrophe.

François Ozon, Xavier Dolan und nun Lukas Dhont. Der 31-jährige Belgier ist eines der Regie-Wunderkinder, wie sie die Filmszene nur alle paar Jahre hervorbringt. Kaum zu glauben, dass CLOSE erst sein zweiter Spielfilm ist. Dhonts Regiedebüt GIRL über einen Transgender-Teenager wurde 2018 mit Preisen überhäuft und war ein großer Erfolg bei Publikum und Kritik. Nun widmet er sich erneut den Qualen der Jugend.

Wie auch immer sich die Karriere des jungen Filmemachers entwickelt, er ist auf alle Fälle ein fantastischer Schauspielführer. Denn was er aus dem gesamten Cast und besonders den beiden Newcomern Eden Dambrine und Gustav De Waele herausholt, ist schlicht phänomenal. CLOSE – eine Geschichte von Liebe und Schuld, ohne jeden falschen Ton erzählt. Ein aufwühlender, wahrhaftiger Film. Ein kleines Meisterwerk.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Close“
Belgien / Frankreich / Niederlande 2022
105 min
Regie Lukas Dhont

alle Bilder © Pandora Film

THE SON

THE SON

Kinostart 26. Januar 2023

Depression: ein ernst zu nehmendes Thema. Gerade bei Jugendlichen. Die oft schamhaft verschwiegene Krankheit kann gar nicht genug mediale Aufmerksamkeit bekommen. Fragt sich nur, ob Regisseur Florian Zeller mit seinem durch und durch künstlich wirkenden Film den Betroffenen einen Gefallen getan hat. Denn THE SON ist das filmische Äquivalent zu einem Coffee Table Book aus der Psychiatrie.

Melodramatik statt Dramatik

Schöne Menschen in schöner Umgebung haben … Probleme. Ja, selbst sehr reiche New Yorker in perfekt eingerichteten Traumwohnungen machen sich beim Tragen frisch gebügelter Hemden Sorgen. Der geschiedene Anwalt Peter (Hugh Jackman) versteht das Verhalten seines 17-jährigen Sohns Nicholas (Zen McGrath) nicht mehr. Der schwänzt seit Wochen die Schule, hat keine Freunde und ist auch sonst ein schwieriger, verschlossener Junge. Für Peter kommen die Probleme mit dem Junior ungelegen, denn er richtet sich gerade ein neues Leben mit seiner Freundin Beth (Vanessa Kirby) und dem frisch geborenen Sohn Theo ein. Doch weil ihn das schlechte Gewissen plagt, bietet er Nicholas an, bei ihm einzuziehen. Er will beweisen, ein besserer Vater zu sein, als es sein eigener war. Der wiederum wird in einem Gastauftritt von Sir Anthony Hopkins als echtes Scheusal von Hannibal Lecterschen Ausmaßen verkörpert.

THE FATHER und THE SON. Zwei Filme über geistige Erkrankungen, die auf Theaterstücken von Florian Zeller basieren. Im Gegensatz zum künstlerisch anspruchsvollen THE FATHER ist dem französischen Regisseur mit seinem zweiten Spielfilm kein großer Wurf gelungen. Alles wirkt überinszeniert und unecht. Selbst gestandene Mimen wie Hugh Jackman spielen, als ständen sie auf einer Theaterbühne. Den papierraschelnden Dialogen kann auch er kein Leben einhauchen. Zudem greift Hans Zimmer in seinem Soundtrack auf penetrante Geigen zurück und erzeugt so Melodramatik statt Dramatik. Die Wendungen, mit denen Zeller in seinem Oscar®-Gewinner THE FATHER noch überraschen konnte, sind hier hohl und erwartbar. Der Regisseur kann sich nicht von seinen erprobten Inszenierungstricks befreien.

Nach dem grandiosen Vorgängerfilm eine echte Enttäuschung.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „The Son“
GB 2022
122 min
Regie Florian Zeller

alle Bilder © LEONINE