BABYLON – RAUSCH DER EKSTASE

BABYLON – RAUSCH DER EKSTASE

Kinostart 19. Januar 2023

Wer schon mal berauscht war, von welcher Droge auch immer – Adrenalin, Kokain, Serotonin – kennt dieses Gefühl. Die Zeit rast und scheint gleichzeitig stillzustehen. Eine Minute fühlt sich wie eine Stunde an, die Nacht wie ein Moment. „Babylon – Rausch der Ekstase”, der neue Film von Damien Chazelle („La La Land”, „Whiplash”) entlässt einen nach drei Stunden acht Minuten ähnlich betäubt und beschwingt. Amerikanische Zuschauer ließen sich vom Trailer täuschen – ein durchgedrehter Kostümschinken mit Elefant und Jazzmusik? Und blieben dem Epos fern. Sie wissen nicht, was ihnen entgeht.

Was Hollywood prägt: Rassismus, Sexismus, Gier

Allein die ersten dreissig Minuten sind eine Party, bei der man vor lauter Sinneseindrücken kaum Luft bekommt. Doch genau dann, wenn es zu viel der Ekstase wird, legt Chazelle den Schalter um. Der Cast ist vorzüglich, Brad Pitt als verderbt melancholischer Douglas Fairbanks Typ am Ende seiner Karriere und Margot Robbie in der Rolle des süchtigen Starlets, die in ihrer modernen Aufmachung verstört und nicht nur Träumer wie Newcomer Diego Calva magnetisiert.

Chazelle will viel: eine Choreografie wie „Apocalypse Now” und hinter die Kulissen der Industry leuchten wie einst „Boogie Nights”. Er wirft alles in den Ring, was Hollywood immer noch prägt: Rassismus, Sexismus, Gier, sogar Tobey Maguire in einer widerlichen Gastrolle und klärt nebenbei noch ein paar Mythen auf: In der Stummfilmära gab es offenbar mehr Westernfilm-Regisseurinnen als hundert Jahre später, der Mullholland Drive war wirklich nur eine Schotterstraße und Filmkritikerinnen hatten Macht! Was sollen wir sagen: Wir haben uns prächtig amüsiert.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Babylon“
USA 2022
188 min
Regie Damien Chazelle

alle Bilder © Paramount Pictures Germany

RACHE AUF TEXANISCH

RACHE AUF TEXANISCH

Kinostart 19. Januar 2023

„Nicht jeder weiße Mann aus New York braucht einen Podcast“ Produzentin Eloise (Issa Rae) ist zunächst wenig begeistert von Bens (B.J. Novak) Idee, die x-te Podcast-Serie über ein ungelöstes Verbrechen zu machen. Doch die Geschichte ist vielschichtiger, als es zunächst den Anschein hat.

Das Porträt einer „typisch“ texanischen Familie

Ben Manalowitz, ein selbstverliebter Redakteur für den renommierten New Yorker, erhält mitten in der Nacht einen Anruf. Abilene ist tot. Ben muss hektisch in seinen Kontakten suchen, um sich zu erinnern, wer Abbie überhaupt war – eine zufällige Sex-Bekanntschaft unter vielen. Doch ihre Familie glaubt, dass Ben die Liebe ihres Lebens war. Von den Tränen der Angehörigen erweicht, reist er nach Texas, nimmt an der Beerdigung teil und hält sogar eine Trauerrede. Abbie ist an einer Überdosis gestorben, doch ihr Bruder Ty (ausgezeichnet: Boyd Holbrook) glaubt, seine Schwester sei ermordet worden. Beweise hat er keine, nur ein Bauchgefühl. Deshalb will er Rache üben, Texas-Style. Ben wittert seine Chance, aus der Geschichte einen True-Crime-Podcast zu machen.

„Rache auf Texanisch“ ist eine Komödie, bei der nicht jeder Gag zündet und ein Krimi, der nur mäßig spannend ist. Aber vor allem – und das ist der interessantere Teil – das Porträt einer „typisch“ texanischen Familie, inklusive Rodeo, Waffenliebe und ungesundem Essen. Gleichzeitig wirft der Film einen Blick auf ein tief gespaltenes Land. Hier die vernünftigen Liberalen an Ost- und Westküste, dazwischen die rotnackigen MAGA-Idioten – so das allgemein verbreitete Klischee.

Ganz rund tickt das Regiedebüt des vor allem aus der US-Serie „The Office“ bekannten Schauspielers B.J. Novak nicht. Hinter vermeintlichen Hobos und Verschwörungsgläubigen verbergen sich mitunter liebenswerte Menschen, bei denen der Blick hinter die Fassade lohnt – eine etwas simple Erkenntnis. Aber der Regisseur und Drehbuchautor beweist ein gutes Händchen für Dialoge und Charakterzeichnung. In Zeiten, in denen Fakten oft als lästig empfunden und gerne für das eigene Narrativ verdreht werden, ist seine Botschaft, sich gegenseitig wieder etwas besser zuzuhören, nicht die schlechteste.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Vengeance“
USA 2022
111 min
Regie B.J. Novak

alle Bilder © Universal Pictures International Germany

THE BANSHEES OF INISHERIN

THE BANSHEES OF INISHERIN

Kinostart 05. Januar 2023

Frühmorgens aufstehen, die Tiere auf die Weide treiben, nachmittags zwei bis zehn Guiness trinken, abends mit dem Esel schmusen. Es ist nicht gerade viel los auf der abgelegenen Insel Inisherin vor der Westküste Irlands im Jahre 1923. Doch der einfach gestrickte Pádraic ist mit seinem Leben rundum zufrieden. Das Haus teilt er sich mit seiner unverheirateten Schwester Siobhán, seinen besten Freund Colm holt er jeden Tag pünktlich um zwei zum gemeinsamen Biertrinken ab. Bis Colm die Freundschaft urplötzlich kündigt. „Du hast mir nichts getan. Ich kann dich einfach nicht mehr leiden.“ Pádraic versteht die Welt nicht mehr und versucht, seinen Freund umzustimmen. Doch all seine Bemühungen nützen nichts, und als Colm Pádraic ein Ultimatum stellt, eskalieren die Ereignisse mit drastischen Folgen.

„The Banshees of Inisherin“ lässt sich auf vielerlei Arten interpretieren: eine simple Meditation über Männerfreundschaft? Eine Allegorie auf den Bürgerkrieg – einen Bürgerkrieg im Mikrokosmos, der für den damals tobenden irischen Bürgerkrieg im Großen steht? Oder ein Shakespeare-Drama inklusive Helden, Schurken, Hexen und Narren? Obwohl der Film zu großen Teilen aus philosophischen Gesprächen über Freundschaft und das Leben im Allgemeinen besteht, sollte man sich nicht in Sicherheit wiegen. Die vermeintlich sanfte Gleichmut hält ein paar bloody shocking Überraschungen parat.

Das Dreamteam ist zurück: Nach „Brügge sehen … und sterben?“ hat sich Regisseur McDonagh für seine neue Tragikomödie wieder Colin Farrell und Brendan Gleeson vor die Kamera geholt. Daneben sind unter anderem der immer hervorragende Barry Keoghan („Dunkirk“), sowie Kerry Condon (bekannt aus „Better Call Saul“) zu sehen.

Irisch klingt zwar oft wie Klingonisch auf Rückwärts. Trotzdem: Original mit Untertiteln ist ein Muss.
Go raibh maith agat as léamh (Vielen Dank fürs Lesen).

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „The Banshees of Inisherin“
Irland 2022
109 min
Regie Martin McDonagh

alle Bilder © Walt Disney Studio Motion Pictures GmbH

WAS MAN VON HIER AUS SEHEN KANN

WAS MAN VON HIER AUS SEHEN KANN

Kinostart 29. Dezember 2022

In einem kleinen Dorf im Westerwald tragen sich seltsame Dinge zu: Immer wenn Selma von einem Okapi träumt, stirbt jemand im Ort. Selmas Enkelin Luise lügt und im gleichen Moment fällt etwas von oben herab. Martin kann im Zug mit geschlossenen Augen sehen, wo die Bahn gerade entlangfährt. Überhaupt das Sehen. Selma sieht nicht, dass der Optiker in sie verliebt ist, obwohl das ganze Dorf Bescheid weiß. Und Luises Vater will nicht sehen, dass seine Frau nicht mehr ihn, sondern den Eisverkäufer liebt.

Das ganze Leben in seiner schleierhaften Sinnlosigkeit

So viele Figuren, so viele Details. Eine Miniserie wäre vielleicht die adäquatere Form für die filmische Umsetzung von Mariana Lekys Bestseller gewesen. Denn über mehrere Folgen erzählt, kann eine Geschichte mal hierhin, mal dorthin abschweifen, während ein Spielfilm komprimieren und notfalls auch Figuren weglassen muss. 

Doch in Lekys Buch geht es ohnehin weniger darum, was, sondern wie es erzählt wird. Regisseur Aron Lehmann hat den Ton des Romans mit der richtigen Mischung aus wunderlicher Verschrobenheit und nötiger Ernsthaftigkeit kongenial eingefangen. Wann immer die Geschichte ins zu Niedliche abzurutschen droht, zieht Lehmann verlässlich die Notbremse und kontert mit trockenem Humor.

„Was man von hier aus sehen kann“ ist ein mit Luna Wedler, Corinna Harfouch und Karl Markovics ausgezeichnet besetzter Film über Liebe, Tod und überhaupt das ganze Leben in seiner Sinnhaftigkeit und manchmal schleierhaften Sinnlosigkeit. Irgendwo zwischen französischer „Amelie“-Leichtigkeit und deutscher Märchenhaftigkeit, herzenswarm und frei von Kitsch inszeniert.

INFOS ZUM FILM

Deutschland 2022
109 min
Regie Aron Lehmann

alle Bilder © STUDIOCANAL

SHE SAID

SHE SAID

Kinostart 08. Dezember 2022

Der verurteilte Sexualstraftäter und Ex-Filmproduzent Harvey Weinstein ist ein echtes Schwein. Über Jahrzehnte missbraucht er Frauen körperlich und emotional. Das Bekanntmachen seiner Vergehen löst zunächst in den USA und später weltweit die #MeToo-Bewegung aus. In ihrem Buch „She Said: Breaking the Sexual Harassment Story That Helped Ignite a Movement“ erzählen die beiden New-York-Times-Journalistinnen Megan Twohey und Jodi Kanto von der Recherche, die den einst mächtigen Miramax-Boss vor fünf Jahren zu Fall bringt. Maria Schrader gibt nun mit der Verfilmung des Sachbuchs ihr US-Regie-Debüt.

Eine fast anämische Aneinanderreihung von Begebenheiten

Hollywood, Skandal, Machtmissbrauch. Das hätte auch schnell ein reißerischer Thriller werden können. Doch „She Said“ ist eine erstaunlich nüchterne, fast anämische Aneinanderreihung von Begebenheiten. Der Film lässt vieles aus – es fehlt eine Erklärung, wer Harvey Weinstein überhaupt ist und welche unangreifbare Machtposition er jahrzehntelang in Hollywood innehat – fokussiert sich auf die beiden Journalistinnen: So leidet Megan Twohey beispielsweise nach der Geburt ihres Kindes unter postpartaler* Depression. Schlimm, aber so what, möchte man sagen – eine Information, die weder besonders geschichtsrelevant ist, noch der Figur nachhaltig Tiefe verleiht.

Ein Vergleich drängt sich auf: „She Said“ ist eine MeToo-Variante von „All the President’s Men – Die Unbestechlichen“. Investigativen Journalisten bei der Arbeit zusehen, kann auch spannend sein. Das beweist Alan J. Pakulas Film über die Watergate-Affäre noch heute, fast 50 Jahre nach seiner Veröffentlichung. Der sehr deutsche Blick von Emmy-Gewinnerin Maria Schrader auf eine US-amerikanische Geschichte ist zwar in Ansätzen erfrischend, doch die Regisseurin verweigert sich in ihrer braven Nacherzählung der Fakten zu sehr den Möglichkeiten des Kinos. Und auch wenn journalistische Recherche im wahren Leben tatsächlich aus vielen Telefonaten bestehen mag: Muss man die alle in einem Kinofilm zeigen?

Kitty Green hat mit „Die Assistentin“ vor zwei Jahren den eindringlicheren und besseren Film zum Thema gemacht.

* Mansplaining mit Framerate: Mit postnatal beschreibt man die Zeit nach der Geburt, bezogen auf das Kind. Mit postpartal hingegen meint man den Zeitraum nach dem Gebären, bezogen auf die Mutter. Somit ist hier die medizinisch korrekte Bezeichnung „Postpartale Depression“.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „She Said“
USA 2022
133 min
Regie Maria Schrader

alle Bilder © Universal Pictures International Germany

CALL JANE

CALL JANE

Kinostart 01. Dezember 2022

Joy ist schwanger. Doch etwas stimmt nicht. Immer wieder wird ihr schwindlig, verliert sie das Bewusstsein. Der Arzt rät zu einem Schwangerschaftsabbruch, da sonst Lebensgefahr bestehe. Das Problem: Ende der 60er-Jahre sind Abtreibungen in den USA verboten und der rein männlich besetzte Klinikvorstand lehnt den Eingriff ab. Die Lage scheint aussichtslos, bis Joy auf eine illegale Gruppe trifft. Die „Janes“ helfen Frauen, ungewollte Schwangerschaften zu beenden und notfalls vor Gericht zu ziehen. Joy wird Teil des Untergrundkollektivs.

Ein wichtiges Thema, gerade in Zeiten, in denen das Recht auf Abtreibung in vielen Ländern wieder zur Diskussion steht (im Juni diesen Jahres wurde das generelle Recht auf einen Schwangerschaftsabbruch in den USA abgeschafft). Umso bedauerlicher, dass „Call Jane“ nicht richtig packt. Phyllis Nagy, die schon das Drehbuch zu Todd Haynes „Carol“ geschrieben hat, interessiert sich in ihrem Regiedebüt überraschend wenig für die aufkommende Frauen- und Hippiebewegung in den USA. Ihr eher konventioneller, zu netter Film fokussiert sich hauptsächlich auf die Frage: Finden Joys Ehemann und Tochter heraus, dass sich Mutti mit gesetzlosen neuen Freundinnen umgibt?

„Call Jane“ ist solide, gut gespielte, aber letztendlich biedere US-Ware. Einen weitaus besseren Film zum Thema hat die Französin Audrey Diwan mit „Das Ereignis“ gemacht, der im März diesen Jahres in den Kinos lief.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Call Jane“
USA 2022
121 min
Regie Phyllis Nagy

alle Bilder © DCM

CLOUDY MOUNTAIN

CLOUDY MOUNTAIN

Kinostart 01. Dezember 2022

Eine riesige Berglandschaft im Südwesten Chinas droht zu kollabieren. Nur der clevere Sprengstoffexperte Yizhou kann gemeinsam mit seinem Vater die Menschheit vor einer Katastrophe retten.

Die Helden sind tapfer, stark und exzellente Multitasker

„Cloudy Mountain“ ist Chinas Antwort auf Dwayne-Johnson-Filme, nur ohne The Rock. Die Großmeister der Kopie haben einen Actionblockbuster produziert, der mehr physikalische Grenzen ignoriert als „San Andreas“ und „Skyscraper“ zusammen. Stürze in einem Bus in ein tiefes Erdloch? Freeclimbing an einer regennassen Felswand? Ein zehn Meter Hechtsprung durch die Luft, um an den Kufen eines vorbeifliegenden Helikopters zu landen? Alles kein Problem, denn die Helden sind tapfer, stark und exzellente Multitasker. Die Krönung ist eine Szene, in der der Hauptdarsteller einen Jeep mit Höchstgeschwindigkeit durch eine enge Serpentinenstraße steuert, während er hoch komplizierte mathematische Gleichungen in seinen Computer hämmert und es um ihn herum hausgroße Felsbrocken regnet. Auf Mensch und Technik ist eben Verlass. Internet ist immer und überall verfügbar, im Reich der Mitte scheint es flächendeckend stabiles Netz zu geben. 5 G sogar im Erdinneren – davon kann unsereins nur träumen.

„Cloudy Mountain“ ist ein Propagandafilm, in dem Sätze wie „Vertrauen Sie der Partei und der Regierung“ fast im Allgemeinlärm untergehen. Auf der Filmdatenbank IMDb hat das Katastrophenepos derart viele 10 von 10 Punkte Jubelbewertungen bekommen, dass man sich fragt, ob Xi Jinping hier persönlich nachgeholfen hat.

Wer über die teils lachhafte Handy-Videospiel-Qualität der Spezialeffekte spotten möchte – bitte schön. Unterhaltsam ist die rasante Achterbahnfahrt trotzdem. In einer Art Rudis Resterampe der Katastrophenfilme werden immer grotesker werdende Actionszenen aneinandergereiht, es bleibt kaum Zeit zum Luftholen. Überwältigungskino in Reinform.

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Originaltitel „Feng Bao“
China 2021
115 min
Regie Li Jun

alle Bilder © PLAION PICTURES GmbH

BONES AND ALL

Kinostart 24. November 2022

Das Rückgrat geknickt,
Die Knochen zerknackt,
Die Schenkel gespickt,
Die Lebern zerhackt.

Joachim Ringelnatz beschreibt in seinem Gedicht „Silvester bei den Kannibalen“ genau wie’s geht. Derlei Anleitung könnte auch Maren gut gebrauchen, denn sie ist seit Kindesbein scharf auf Menschenfleisch. Als sich pünktlich zu ihrem 18. Geburtstag ihr Vater aus dem Staub macht, begibt sie sich auf die Suche nach ihrer verschollen geglaubten Mutter – ein Roadtrip quer durch die Vereinigten Staaten der Reagan-Ära. Unterwegs trifft sie Gleichgesinnte (man kann sich gegenseitig erschnuppern) und findet im Wild Boy Lee ihre erste große Liebe. Liebe unter Kannibalen. Schön.

Regisseur Luca Guadagnino ist ein Meister der Stimmung

„Bones and All“ würde in der modernen Gastronomie wohl „Nose to Tail“ heißen. Denn in der Adaption von Camille Deangelis’ Jugendroman geht es (auf den ersten Blick) genau darum: das Verspeisen von Menschen mit Haut und Haar. Regisseur Luca Guadagnino hat sich dafür erneut Timothée Chalamet vor die Kamera geholt und der macht, was er am besten kann: mit niedlichem Hundeblick unter der Lockenfrisur hervorschauen und sexuelle Ambivalenz verströmen. Sehr putzig auch Oscarpreisträger Mark Rylance als gruselig-irrer Körperfresser mit Prinzipien: Ihm kommen nur bereits Verstorbene auf den Teller. Die Hauptrolle ist mit Taylor Russell besetzt, die schon im sträflich vom Publikum ignorierten Coming-of-Age-Drama „Waves“ begeistern konnte.

Was dem Immobilienmakler „Locatio, Location, Location“, ist für Luca Guadagnino „Mood, Mood, Mood“. Die Filme des italienischen Regisseurs sind in erster Linie perfekt eingefangene Atmosphäre, weniger klassisch erzählte Geschichte. Wer wollte nach „Call Me by Your Name“ nicht sofort die Koffer packen und einen sonnenflirrend verliebten Urlaub im Süden verbringen? Ein Meister der Stimmung also. Mit „Bones and All“ hat er nun einen – sich selbst vielleicht etwas zu ernst nehmenden – romantischen Arthousefilm mit Horrorelementen gedreht. Top besetzt, zwischendurch mit Längen, aber insgesamt sehenswert.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Bones and All“
Italien / USA 2022
131 min
Regie Luca Guadagnino

alle Bilder © Warner Bros. Pictures (international)

BEAUTIFUL BEINGS

Kinostart 10. November 2022

Für den 14-jährigen Balli läuft es denkbar schlecht: Er lebt mit seiner drogenabhängigen Mutter in einem runtergekommenen Haus, ein Auge wurde ihm „versehentlich“ vom Stiefvater weggeschossen, in der Schule wird er regelmäßig gemobbt. Kein schönes Leben. Als Balli die gleichaltrigen Addi, Konni und Siggi kennenlernt, entwickelt sich langsam eine Freundschaft zwischen den vier Jungs.

Was ist wahre Freundschaft?

Der Film des isländischen Regisseurs wirkt wie eine zeitgemäße Interpretation von „Stand By Me“. Nur um einiges rougher und näher an der Wirklichkeit. Der Kontrast könnte nicht größer sein: Zu Hause dominieren die Väter, durchweg Loser, vom Trinker bis zum brutalen Schläger ist alles dabei. Auf der anderen Seite steht die pubertäre Grenzen austestende Freundschaft zwischen den Jungs, die immer wieder überraschend zärtliche Momente hat.

„Beautiful Beings“ wirft interessante Fragen auf: Was ist wahre Freundschaft? Wie lässt sich der eigene Weg finden? Und können beste Freunde schlechten Einfluss nehmen? Regisseur Guðmundsson ist ein bewegendes, in stimmungsvollen Bildern gedrehtes Coming-Of-Age-Drama mit vier tollen Newcomern geglückt. „Berdreymi“ wird im kommenden Jahr von Island ins Rennen um den Oscar für den besten internationalen Film geschickt.

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Originaltitel „Berdreymi“
Island / Dänemark / Schweden / Niederlande / Tschechische Republik 2022
123 min
Regie Guðmundur Arnar Guðmundsson

alle Bilder © Salzgeber

AMSTERDAM

Kinostart 03. November 2022

Anstrengend! Überladen! Nicht so clever, wie er glaubt zu sein! Selten wurden große Stars derart verheizt! Keine Chemie! Totalausfall! Die Kritik ist sich in ihrem vernichtenden Urteil ziemlich einig: David O. Russells neuer Film ist ein kolossaler Flop.

Drama, Screwball-Komödie, Thriller

Die Geschichte von den beiden verwundeten Soldaten, die am Ende des Ersten Weltkriegs eine Krankenschwester kennenlernen, um dann mit ihr gemeinsam eine unvergessliche Jules und Jim-Zeit in Amsterdam zu verbringen, sei von Anfang an von allem zu viel. Drama, Screwball-Komödie, Thriller, Kriegsfilm: Wie soll das zusammenpassen? Erst als sich die Handlung ins New York der 1930er-Jahre verlegt und die drei Freunde einer (wahren) Verschwörung auf die Spur kommen, die das Schicksal der ganzen Welt beeinflussen könnte, finde der Film Tritt, aber dann sei es schon zu spät. So die seltsame, nicht nachvollziehbare Meinung der Kritiker.

Der Film erzählt eine Geschichte – und dass die mal lustig, mal dramatisch ist und auch einmal kurz im Krieg spielt – na und? Sicher, ein paar Kürzungen hätten nicht geschadet, denn 134 Minuten klingen nicht nur lang, sie sind es auch. Aber sich über eine abwechslungsreiche Handlung zu echauffieren, das klingt eher wie eine persönliche Abrechnung mit dem Regisseur.

„Amsterdam“ beginnt stark, schwächelt ein bisschen in der Mitte und fängt sich dann wieder zum Ende. Die Namen aller mitspielenden Stars aufzulisten, würde zu weit führen, aber Christian Bale, John David Washington, Margot Robbie und Chris Rock seien genannt. Und natürlich Robert DeNiro, Rami Malek und Anya Taylor-Joy. Und nicht zu vergessen Taylor Swift. Russel hat große Namen zusammengetrommelt und liefert einen stellenweise lustigen, fast hitchcockschen Thriller mit herausragender Ausstattung, toller Kamera und einem spielfreudigen Mega-Cast.

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Originaltitel „Amsterdam“
USA 2022
134 min
Regie David O. Russell 

alle Bilder © Walt Disney Studios Motion Pictures Germany

WIR SIND DANN WOHL DIE ANGEHÖRIGEN

Kinostart 03. November 2022

Es war einer der spektakulärsten Kriminalfälle Deutschlands: Am 25. März 1996 wurde um 20.20 Uhr der Publizist und Mäzen Jan Philipp Reemtsma in Hamburg-Blankenese entführt. Erst nach 33 Tagen Gefangenschaft und einer Lösegeldzahlung von 30 Millionen D-Mark wurde er wieder freigelassen. Bis dahin hielten sich Presse, Radio und Fernsehen an eine vereinbarte Nachrichtensperre, sodass die Öffentlichkeit erst im Nachhinein von dem Verbrechen erfuhr. Die Entführer waren ausnahmsweise keine Angehörigen der RAF, sondern ganz gewöhnliche Gangster. Zwei Jahre später wurden sie gefasst, vom Großteil des Lösegelds fehlt bis heute jede Spur.

Kein Kitsch, keine billige Spannung, kein Schnickschnack

Über die Erinnerungen der unheilvollen Tage des Wartens hat Johann Scheerer 2018 ein Buch geschrieben: „Wir sind dann wohl die Angehörigen – Die Geschichte einer Entführung“. Das Drama aus der Perspektive des damals erst 13-jährigen Sohns Johann. Hans-Christian Schmid hat aus diesem autobiografischen Bestseller jetzt einen Film gemacht – und was für einen! Kein Kitsch, keine billige Spannung, kein Schnickschnack. Mit Hans Löw, Justus von Dohnányi, Adina Vetter und Newcomer Claude Heinrich inszeniert der Regisseur eine Art Kammerspiel (ein Großteil der Handlung spielt im Haus der Familie Reemtsma/Scheerer), das die nervenzerreißende Anspannung, das bange Hoffen, das stümperhafte Vorgehen der Polizei und die gescheiterten Lösegeldübergaben auf nüchterne, sachliche Art zeigt, ohne dabei emotionslos zu sein.

„Wir sind dann wohl die Angehörigen“ fokussiert sich – der Titel legt es nah – auf Reemtsmas Frau Ann-Kathrin Scheerer und den gemeinsamen Sohn Johann. Von einer Sekunde auf die andere wird der Familienalltag auf den Kopf gestellt, Polizisten ziehen ins Haus ein, Post und Telefon werden dauerüberwacht. Zwischen gescheiterten Geldübergaben erreichen die Angehörigen die verzweifelten Briefe des Entführten. In all dem Chaos muss sich der pubertierende Junge zurechtfinden, während seine Mutter langsam zu zerbrechen droht.

Der beste Tatort, der kein Tatort ist

Sparsamer Musikeinsatz (hervorragend: The Notwist), punktgenaue Ausstattung und in ruhigen, unaufdringlichen Bildern erzählt – wenn man einen Kriminalfilm macht, dann bitteschön so! Obwohl der (gute) Ausgang der Geschichte bekannt ist, bleibt „Wir sind dann wohl die Angehörigen“ fesselnd von der ersten bis zur letzten Minute. Wer sich über die Opferperspektive informieren will, dem sei Jan Philipp Reemtsmas Buch „Im Keller“ empfohlen.

INFOS ZUM FILM

Deutschland 2022
118 min
Regie Hans-Christian Schmid

alle Bilder © Pandora Film, 23/5

WAS DEIN HERZ DIR SAGT – ADIEU IHR IDIOTEN!

Kinostart 20. Oktober 2022

Endlich mal wieder ein Film mit ellenlangem deutschen Verleihtitel. „Was Dein Herz Dir sagt – Adieu Ihr Idioten!“. Kann man machen, ist aber umständlich und kostet Zeit.

Ein knackiges „Adieu ihr Idioten!“ tut es doch auch und ist gleichzeitig der (vermeintliche) Abschiedssatz des Sicherheitsexperten JB (gespielt von Regisseur Albert Dupontel), bevor er sich mit einem Gewehr ins Jenseits befördern will. Bei seinem missglückten Selbstmordversuch ist zufälligerweise die Friseurin Claire anwesend, die „an einer Dauerwelle“ stirbt – So jedenfalls ihre Diagnose. Das Einatmen von zu viel Haarspray hat eine schwere Atemwegserkrankung ausgelöst, Claires Tage sind gezählt. Vor ihrem Tod will sie aber noch unbedingt ihren Sohn wiederfinden. Den hat sie mit fünfzehn zur Welt gebracht und im jugendlichen Wahn zur sofortigen Adoption freigegeben. Bei der gewünschten Familienzusammenführung achtundzwanzig Jahre später braucht sie die Hilfe von JB und dem blinden Archivar Monsieur Blin.

Regisseur Albert Dupontel bezeichnet seine Dramödie selbst als „burlesk“. Das klingt nach Ohnsorg-Theater. Aber die schräge Mischung aus Drama und Komödie ist näher an Terry Gilliam als an Heidi Kabel. Vor allem visuell ist der Film ambitioniert. Buntes Licht und im Studio gedrehte „Außenaufnahmen“ verstärken das leicht Surreale der Geschichte. So ganz rund tickt das dramatische Uhrwerk allerdings nicht – es gibt ein paar nicht zündende Witze zu viel – doch vor allem Virginie Efira als sterbenskranke Suze bewahrt den Film, allzu sehr ins Alberne abzudriften.

Wenn Vergleiche unbedingt sein müssen, dann ist „Was Dein Herz Dir sagt – Adieu Ihr Idioten!“ eine Mischung aus „Die wunderbare Welt der Amelie“, Godards „Breathless“ und sympathisch spinnertem Kunst-Drama mit französischem Charme. So oder so ein Film abseits der Norm, erfrischend anders und deshalb sehenswert.

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Originaltitel „Adieu Les Cons“
Frankreich 2020
87 min
Regie Albert Dupontel

alle Bilder © Happy Entertainment 

DER PASSFÄLSCHER

Kinostart 13. Oktober 2022

Auf der Berlinale 2022 lief im Wettbewerb viel mediokre Kost und quälende Kunst, die besseren Filme (so wie dieser) wurden in den Nebenprogrammen versteckt. Ein Trend in Fortsetzung. Schon im vergangenen Jahr folgte das Wettbewerbsprogramm zu sehr dem Kopf und weniger dem Herzen.

Das wiederum kann man von Cioma Schönhaus nicht behaupten: Der junge Mann ist ein wahrer Herzensmensch und läuft mit bester Laune durchs Leben. Obwohl er als Jude in Nazideutschland allen Grund zur Verzweiflung hätte. Vom sogenannten 3. Reich lässt er sich die Laune aber nicht verderben.

„Der Passfälscher“ erzählt die wahre Geschichte vom begnadeten Grafiker Cioma, der dank seiner Fähigkeiten wiederholt der Gestapo entkommen und gerade noch rechtzeitig in die Schweiz entfliehen kann. Mit ausgezeichneter Besetzung (Luna Wedler, Louis Hofmann – der ausnahmsweise mal nicht blank zieht – und Jonathan Berlin) hat Regisseurin Maggie Peren einen oft vergnüglichen, im besten Sinne leichten Film über Chuzpe und Hoffnung in düsteren Zeiten gedreht. Nicht die Neuerfindung des Kinos, aber doch sehenswert.

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Deutschland / Luxemburg 2022
116 min
Regie Maggie Peren

alle Bilder © X Verleih

HORIZONT

Kinostart 06. Oktober 2022

Die Jugend von heute lässt sich leicht in zwei Kategorien unterteilen: Zum einen die spaßbesessenen TikTok-Junkies, deren Leben ein einziges LIKE ist, zum anderen die betroffenen Gretas und Lisas, bei denen die Welt kurz vor dem Untergang steht. Dumme Oberflächlichkeit vs. politisches Engagement. Oder geht doch beides zusammen? Diese tiefschürfende Frage stellt Emilie Carpentiers Film „Horizont“.

Die 18-jährige Adja (das Beste am ganzen Film: Tracy Gotoas) wohnt in einem Hochhausgetto am Rande der Stadt, direkt dahinter beginnt das weite Land mit Feldern und Ackerbau. Ausgerechnet dort soll nun ein kapitalistisches Albtraumprojekt entstehen. Die Regierung plant, die Bauern zu enteignen, um den größten Freizeitkomplex Europas zu bauen. Eine Gruppe von Aktivisten hat das Ackerland besetzt und es in eine „Zone zum Schutz vor umweltschädlicher Nutzung“ verwandelt. Unter den Aktivisten ist auch Arthur, den Adja zunächst als Hippie verspottet, um sich dann natürlich doch in ihn zu verlieben…ein hübscher junger Mann mit Werten: Wer kann da schon widerstehen?

Emilie Carpentiers Film ist von guter Absicht durchdrungen, aber die aufbegehrende junge Fridays for Future-Generation wird man mit so einer Schmonzette nicht erreichen. Gut gemeint ist eben nicht gleich gut gemacht. „Horizont“ fühlt sich wie eine französische Episode von „GZSZ“ an: zu platt, zu unglaubwürdig und vor allem mit jeder Menge skizzenhaft gezeichneter Klischeecharaktere bevölkert.

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Originaltitel „L’Horizon“
Frankreich 2021
84 min
Regie Emilie Carpentier

alle Bilder © Arsenal Filmverleih 

RIMINI

Kinostart 06. Oktober 2022

Werner Böhm und Rex Gildo können davon kein Lied mehr singen: Wenn sich Schlagerstars nicht gerade durch übermäßigen Alkoholkonsum zugrunde richten oder aus dem Badezimmerfenster springen, dann enden sie entweder im Möbelmarkt oder am Ballermann. Nicht viel besser ist das Schicksal von Richie Bravo, der muss sein Geld als Sänger in Rimini verdienen.

Die besten Jahre liegen schon lange hinter ihm, das Jackett passt nur noch mit Mieder und sein Repertoire gibt er mittlerweile in Hotelhallen zum Besten. Doch Richie weiß, was Fans (und Frauen) wünschen: viel öligen Charme und reichlich körperliche Zuwendung. So könnte das noch ewig weitergehen. Doch eines Tages steht seine erwachsene Tochter vor ihm und verlangt Geld, denn Papa hat sich seit 18 Jahren nicht gemeldet, geschweige denn Unterhalt gezahlt.

Was ist der Superlativ von deprimierend? Rimini im Winter. Eine Stimmung, die der österreichische Film von Ulrich Seidl perfekt einfängt. Trauriger Ort, trauriger Typ: Richie Bravo ist ein Wrack, er säuft und raucht Kette. Bemitleidenswerte Auftritte vor greisem Publikum wechseln sich mit wenig erbaulichen Sexszenen ab, in denen Richie ältere Damen beglückt: Fanservice der besonderen Art. Daneben erzählt „Rimini“ die wie ein Fremdkörper wirkende Nebengeschichte von Richies dementem Vater, der in einem Pflegeheim dahinvegetiert und alte Nazilieder singt. Dank grandiosem Hauptdarsteller tragisch und lustig zugleich.

INFOS ZUM FILM

Österreich / Frankreich / Deutschland 2022
114 min
Regie Ulrich Seidl

alle Bilder © Neue Visionen Filmverleih

PETER VON KANT

Kinostart 22. September 2022

François ❤️ Rainer Werner. Nach der kongenialen Verfilmung des Fassbinder-Theaterstücks „Tropfen auf heiße Steine“ (2000) feierte in diesem Jahr Ozons Interpretation des 1972 entstandenen Films „Die bitteren Tränen der Petra von Kant“ Premiere bei der Berlinale.

Peter von Kant ist ein erfolgreicher Filmregisseur und ein echtes Scheusal. Seinen stummen Diener und Assistenten Karl behandelt er wie Dreck. Eines Tages lernt er den jungen Amir kennen. Peter verliebt sich unsterblich in den sexy 24-Jährigen. Er will Amir eine Karriere im Filmgeschäft ermöglichen, lädt ihn ein, bei sich zu wohnen. Neun Monate später ist aus dem schüchternen Jungen ein manipulativer, launischer Star geworden, der sich bald darauf von Peter trennt. Der Regisseur leidet.

„Peter von Kant“ ist ein echter Ozon – stilsicher, artifiziell und ungewöhnlich. Anders als in Fassbinders Film ist hier die Titelrolle männlich besetzt. Das beschert der Geschichte vom cholerischen Filmregisseur eine neue Ebene, denn Peter von Kant ist ganz offensichtlich dem echten Fassbinder nachempfunden. Hanna Schygulla, die auch im Original mitspielt, hat hier einen Gastauftritt als Mutter des Regisseurs. Die Titelrolle ist mit Denis Ménochet besetzt, der bereits zweimal für Ozon vor der Kamera stand.

Dramatisches Theater: François Ozon hat ein etwas zu wortreiches (weniger euphemistisch: geschwätziges), aber ausgezeichnet gespieltes Kammerspiel inszeniert.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Peter von Kant“
Frankreich 2021
84 min
Regie François Ozon

alle Bilder © MFA+ FilmDistribution

ATLANTIDE

Kinostart 08. September 2022

Bunt beleuchtete Motorboote fahren mit lauter Musikbeschallung durch nächtliche venezianische Kanäle. Das sieht zwar hübsch aus, ist für die Anwohner aber wahrscheinlich genauso enervierend wie die monströsen Kreuzfahrtschiffe, die bis vor Kurzem viel zu dicht an der Lagunenstadt vorbeiziehen durften. Regisseur Yuri Ancarani hat sich der eigenwilligen Szene aus jungen Männern und ihren Speedbooten drei Jahre lang angeschlossen und einen semi-dokumentarischen Film über sie gedreht.

„Atlantide“ könnte auch als Videoinstallation in einer Galerie oder als visuelle Begleitung einer Trance/Technoparty laufen. Dieser Stil kommt nicht von ungefähr, Yuri Ancarani ist ein italienischer Künstler, der sich komplett einer klassischen  Dramatik verweigert. Damit erinnert sein Film an Arbeiten des US-Regisseurs Larry Clark. Auch hier ist die Handlung eher eine dahingestreute Skizze von Liebe, Sehnsucht und Tod. Weil man es kaum besser beschreiben könnte, hier ein Auszug aus dem Pressetext:

„Dies ist kein Film über Venedig (…), sondern über seine „Backstreets“, die weiten Wasserwege der Lagune. Ancarani findet dort die seltene Schönheit einer kristallklaren Landschaft, die von einer Gruppe junger Leute bewohnt wird, deren Lebensinhalt es ist, Speedboote aufzumotzen und in einem Rhythmus aus Adrenalin und Chill-out zu leben.“

„Im Rhythmus aus Adrenalin und Chill-out leben“! Wer will das nicht? Weniger lyrisch ausgedrückt: „Atlantide“ ist ein audio-visuelles Erlebnis, ein softer LSD-Trip, untermalt von einem treibenden elektronischen Soundtrack, Hip-Hop und symphonischer Orchestermusik. Die stärkste Szene des Films (siehe Trailer unten) zeigt ein junges Mädchen, das im Drogenrausch auf einem Schnellboot durch das nächtliche Venedig gefahren wird und sich dazu ekstatisch bewegt. Aufregender wird es auch in den restlichen 100 Minuten nicht, darauf muss man sich einlassen wollen.
Jetzt noch mal in poetisch: „Atlantide“ ist ein kunstvoller Fiebertraum aus Musik, Licht und Farben.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Atlantide“
Italien / Frankreich / USA / Qatar 2021
104 min
Regie Yuri Ancarani

alle Bilder © Rapid Eye Movies

MIT 20 WIRST DU STERBEN

Kinostart 25. August 2022

Muzamils Uhr tickt, denn „Gottes Befehl ist unausweichlich“. Kurz nach der Geburt prophezeit ein Imam Muzamils Mutter, der Junge werde mit 20 sterben. Vor Schreck verabschiedet sich der Vater auf Nimmerwiedersehen und die Mutter trägt fortan schwarz.

Im Dorf ist Muzamil der Todgeweihte, die Mitschüler reiben ihn mit Asche ein und „beerdigen“ ihn schon mal probehalber in einer Metallkiste. Nur Naima ist sich schon früh sicher, dass Muzamil ihr Mann fürs Leben wird.

Die Freundschaft mit dem weit gereisten Sulaiman öffnet Muzamil ein Jahr vor seinem 20. Geburtstag neue Perspektiven, sein bisheriges Weltbild gerät ins Wanken: Es gibt eine Alternative zum Aberglauben, er hat es selbst in der Hand. Regisseur Amjad Abu Alala sieht sein Regiedebüt als eine Einladung für die Freiheit: „Nichts und niemand kann dir jemals sagen: Das ist dein Schicksal. Du musst selber entscheiden, wie dein Leben sein wird.“

Die lakonische Coming-of-Age-Story ist erst der achte im Sudan produzierte Film überhaupt. Zwischendurch etwas schwerfällig, punktet das fast dokumentarische Drama mit magischen Bildern und gibt einen ungewohnten Einblick in ein vom Bürgerkrieg zerrissenes Land. Bei den Internationalen Filmfestspielen von Venedig gewann „Mit 20 wirst Du sterben“ den Preis als bester Debütfilm.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „You Will Die at Twenty“
Sudan / Ägypten / Deutschland / Frankreich / Katar / Norwegen 2019
103 min
Regie Amjad Abu Alala

alle Bilder © missingFILMs

DER ENGLÄNDER, DER IN DEN BUS STIEG UND BIS ANS ENDE DER WELT FUHR

Kinostart 11. August 2022

Pensionär Tom begibt sich auf eine lange Fahrt vom äußersten Norden Schottlands zum südlichsten Punkt Englands, Land’s End. Es ist eine finale Reise in die Vergangenheit, kürzlich verwitwet und nun selbst dem Tode nahe, hat der 90-Jährige noch eine letzte Angelegenheit zu erledigen. Als alter Sparfuchs benutzt er ausschließlich Öffis, denn mit denen dürfen Rentner in Großbritannien dank eines „Freifahrtausweises“ umsonst fahren. Wie das bei einem Roadmovie so ist, lernt Grumpy Cat Tom unterwegs allerhand Menschen kennen.

Klingt dröge, ist es über weite Strecken auch. Ein alter Herr, der von einem Bus in den nächsten steigt. Auch die Begegnungen unterwegs sind ausgesprochen vorhersehbar und wenig aufregend. Die Welt besteht nur aus hundsgemeinen Fieslingen und zuckersüßen Engeln. Ganz normale Menschen haben zugegebenermaßen deutlich weniger Unterhaltungswert, eine Fahrt mit der BVG ist der beste Beweis dafür.

DER ALTE MANN UND DER BUS

DER HUNDERTJÄHRIGE, DER IN DEN BUS STIEG UND EINSCHLIEF

9 € TICKET - DER FILM

Es hätte viele bessere Titel für „The Last Bus“ gegeben. Deshalb schon mal Punktabzug für den dämlichen, an Jonas Jonassons Bestseller anbiedernden deutschen Verleihtitel. „Der Engländer, der in den Bus stieg und bis ans Ende der Welt fuhr“ ist zwar inhaltlich richtig, aber schon gefährlich nah am Spoiler, denn viel mehr passiert in den 86 Minuten nicht. In der plumpen Metapher vom „Leben als Reise“ bleibt der brillante Hauptdarsteller Timothy Spall das einzig Sehenswerte.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „The Last Bus“
GB 2021
86 min
Regie Gillies MacKinnon

alle Bilder © Capelight Pictures

WARTEN AUF BOJANGLES

Kinostart 04. August 2022

Vom Song „Mr. Bojangles“ existieren etliche Cover-Versionen, das Original stammt von Jerry Jeff Walker aus dem Jahr 1968. In Régis Roinsards Film wird der Welthit nun von Marlon Williams neu interpretiert. Framerate kann auch Formatradio, deshalb hier die Top Four aus vier Jahrzehnten:

Camille – oder Antoinette, wer nimmt das schon so genau, denn „ein Name für ein ganzes Leben ist zu langweilig“ – und Georges verlieben sich Ende der 1950er-Jahre Hals über Kopf ineinander. Neun Monate später kommt ihr Sohn Gary zur Welt. Die unkonventionelle Kleinfamilie lebt zwischen Realitätsverweigerung (Briefpost bleibt grundsätzlich ungeöffnet) und einer Welt voller Fantasie und Poesie. Bei den allabendlichen Cocktailpartys mit Dutzenden von Gästen führt der mittlerweile 10-jährige Gary Erwachsenengespräche und seine Eltern tanzen zu „Mr. Bojangles“. Ein Tanz am Abgrund, denn während George einen Rest Bodenhaftung behält (er geht jeden Tag zur Arbeit in seine Autowerkstatt), entgleitet Camille zusehends in manische Depressionen und wird bald eine Gefahr für sich und andere. Eine Einweisung in die psychiatrische Klinik scheint unausweichlich.

Dass es „Warten auf Bojangles“ in dieser Version gibt, ist der Frau des Regisseurs zu verdanken, denn die sagte, nachdem sie das Buch gelesen hatte: „Wenn Du daraus keinen Film machst, verlasse ich Dich.“ Ihr Wunsch war ihm Befehl. Mit der Verfilmung des Romans von Olivier Bourdeaut knüpft Régis Roinsard an den leicht slapstickartigen Retro-Ton seines Erfolgsfilms „Mademoiselle Populaire“ an (ebenfalls mit Romain Duris in der Hauptrolle). 

Vor allem zu Beginn ist der Geist von „Die fabelhafte Welt der Amélie“ zu spüren. Farbenfroh, leicht versponnen und sehr französisch – eine idealisierte Welt mit imposanter Ausstattung am Rande des Kitsches. Doch im Gegensatz zu Jean-Pierre Jeunets Klassiker kippt „Warten auf Bojangles“ in der zweiten Hälfte in ein handfestes Drama, in dem vor allem Virginie Efira als Camille ihre schauspielerischen Fähigkeiten entfalten kann. „Warten auf Bojangles“ ist eine etwas zuckrige Dramödie, tonal irgendwo zwischen „Amélie“ und „Betty Blue“, die sich gegen Ende ein wenig zieht.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „En attendant Bojangles“
Frankreich / Belgien 2021
124 min
Regie Régis Roinsard

alle Bilder © STUDIOCANAL

DIE MAGNETISCHEN

Kinostart 28. Juli 2022

Eine Provinzstadt in der Bretagne 1981: Zwei Brüder betreiben einen Piratensender – der selbstbewusste Jérôme moderiert, der jüngere Philippe besorgt die Technik im Hintergrund. Zum Geld verdienen arbeiten die Beiden in der Autowerkstatt ihres Vaters. Mit dem Alten liegt Jérôme allerdings im Dauerstreit. Philippe quälen ganz andere Sorgen – ihm droht der Militärdienst in Berlin. Und dann ist er auch noch unsterblich in die Freundin seines Bruders verliebt.

Die (fast schon vergessenen) gelben Autoscheinwerfer, ein paar unvorteilhafte Frisuren und viel analoge Radiotechnik – Regisseur Vincent Maël Cardona lässt die frühen 80er in Frankreich wieder lebendig werden. „Die Magnetischen“ spricht nicht nur das Auge, sondern besonders das Gehör an. Philippe ist viel mehr als einer, der nur die neusten Platten von Joy Division und Iggy Pop auflegt und das Mischpult bedient. Klänge und Musik sind für den schüchternen 20-Jährigen ein Sprachersatz.

Der Höhepunkt des Films spielt in einem Berliner Radiostudio – von dort will Philippe ein Grußwort an seine Freundin senden. Doch ihm versagt die Stimme. Stattdessen kreiert er in einer wilden Spontan-Performance mit an Kabeln schwingenden Mikrofonen, Kaffeetassen auf Plattentellern und handgemachten Samples eine grandiose Live-Sound-Installation.

„Die Magnetischen“ ist eine Liebeserklärung an die Jugend und das Leben. Die Botschaft: Halte dein inneres Feuer am Brennen, höre auf dein Herz und lass dich nicht von gesellschaftlichen Normen erdrücken. Wie wahr. Regisseur Cardona ist mit seinem ersten Film ein kleines Wunder gelungen. Melancholisch schön und mit drei aufregenden Jungschauspielern besetzt. „Les Magnétiques“ gewann den César als bester Debütfilm, Hauptdarsteller Thimotée Robart wurde als bester Nachwuchsdarsteller ausgezeichnet.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Les Magnétiques“
Frankreich / Deutschland 2021
98 min
Regie Vincent Maël Cardona

alle Bilder © Port au Prince Pictures

MEINE STUNDEN MIT LEO

Kinostart 14. Juli 2022

Peter Rühmkorf dichtete 1971 auf der legendären Kinderplatte Warum ist die Banane krumm?: „Licht aus, Licht aus, Mutter zieht sich nackend aus, Vater holt den Dicken raus, einmal rein, einmal raus, fertig ist der kleine Klaus.“ Das dürfte Nancy Stokes unangenehm bekannt vorkommen. Die Lehrerin im Ruhestand hatte mit ihrem mittlerweile verstorbenen Ehemann nur stinklangweiligen Blümchensex. Einen Orgasmus hatte sie dabei nie. Beziehungsweise hatte sie überhaupt noch nie einen. Das soll sich jetzt mithilfe des jungen Sexarbeiters Leo Grande ändern.

Sophie Hydes Film schafft mit Leichtigkeit, was Karoline Herfurth kürzlich mit ihrem Klischeefest „Wunderschön“ versucht hat: eine lockere und gleichzeitig ernste Auseinandersetzung mit der eigenen Körperlichkeit und missverstandenem Beautywahn.

Applaus für die Darsteller: Daryl McCormack spielt den niedlichen Stricher mit viel lässigem Charme und die sowieso immer grandiose Emma Thompson präsentiert sich am Ende des Films selbstbewusst ganz ohne Filter full frontal. Lustig, sexy und erfrischend unverkrampft: Ein durchweg befriedigender Film.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Good luck to you, Leo Grande“
GB 2022
97 min
Regie Sophie Hyde

alle Bilder © Wild Bunch Germany

CORSAGE

Kinostart 07. Juli 2022

Bald 70 Jahre post Romy Schneiders Darstellung für die Ewigkeit feiert die österreichische Kaiserin Sisi mediale Wiederauferstehung. Nach der RTL-Serie, deren zweite Staffel gerade produziert wird, kommt nun Marie Kreutzers ungewöhnlicher Cannesbeitrag in die Kinos.

Elisabeth („Sisi“) begeht bald ihren 40. Geburtstag. Damit gehört sie offiziell zum alten Eisen, denn in dem Alter hatten Frauen Ende des 19. Jahrhunderts ihre Lebenserwartung erreicht. Noch wird sie vergöttert, für ihr strahlendes Aussehen angehimmelt, doch die Uhr tickt. Sisi ist eine lebenshungrige Frau, die es Leid ist, jeden Tag ihre Taille zu schnüren und sich allen Genüssen zu verweigern. Ihr Widerstand gegen ihr öffentliches Bild wird immer größer – sie beginnt, sich aus dem höfischen Korsett zu befreien.

Die Luxemburgerin Vicky Krieps spielt Kaiserin Elisabeth schön spröde und geheimnisvoll. Und die wie immer herausragende Kameraarbeit Judith Kaufmanns ist ein weiterer großer Pluspunkt des Films. Die Marotte, historische Stoffe bewusst mit modernen Elementen zu vermischen, wirkt dagegen angestrengt. Abends singt der Hofstaat britische Popsongs zur Harfe und der Schlossplatz sieht aus, als sei der Reisebus gerade aus dem Bild gefahren. Ist natürlich Absicht, genauso wie die sichtlich angeklebten Backenbärte. Die Übersetzung in die Popkultur wirkt hier allerdings unentschieden, das hat die Netflix-Soap „Bridgerton“ oder Sofia Coppola mit „Marie Antoinette“ besser und mutiger durchgezogen.

Das Gekünstelte kann man natürlich auch als „märchenhaft“ schönreden, womit sich dann der Kreis zu Romys Sisi wieder schließt. Denn auch die war in ihrer Heimatfilm-Kitschwelt meilenweit von der Realität entfernt.

INFOS ZUM FILM

Österreich / Luxemburg / Deutschland / Frankreich 2022
113 min
Regie Marie Kreutzer

alle Bilder © Alamode Film

WIE IM ECHTEN LEBEN

Kinostart 30. Juni 2022

Juliette Binoche macht den Günter Wallraff und mischt sich inkognito unter die sozial Benachteiligten Frankreichs. Klos schrubben, Betten beziehen, Böden wischen. Und das bitte im Akkord, denn Zeit ist Geld. Marianne muss sich an das harte Arbeitsleben gewöhnen, denn bisher war sie „nur“ Hausfrau und Mutter, hat für ihren vermögenden Mann die Buchhaltung gemacht. Doch der hat sie betrogen und nun muss sie bei null anfangen. So wenigstens ihre gut erfundene Biografie.

Tatsächlich ist Marianne eine erfolgreiche Autorin, die ein Buch über den Alltag der Geringverdiener schreiben will. Und weil Erlebnisse aus erster Hand immer am besten sind, taucht sie mit falscher Identität in die Welt der Hilfsarbeiterjobs ein. Besonders mit Christele, einer toughen jungen Frau, die sich mit drei Kindern durchs Leben schlägt, verbindet sie bald eine enge Freundschaft.

In unkundiger Hand wäre die Geschichte von der sensiblen Autorin und ihren neuen Freundinnen aus dem Prekariat wahlweise ultradeprimierend oder vor Kitsch triefend geraten. Doch der vielfach ausgezeichnete Schriftsteller und Regisseur Emmanuel Carrère weiß genau, wie es geht: kein falscher Ton, keine forcierte Gefühlsduselei. Bei seinem zweiten Spielfilm kann er sich auf ein ausgezeichnetes Ensemble verlassen, mit einer wunderbaren Juliette Binoche in der Hauptrolle und einer ganzen Reihe umwerfender Laiendarstellerinnen an deren Seite. Guter Film.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Ouistreham“
Frankreich 2021
106 min
Regie Emmanuel Carrère

alle Bilder © Neue Visionen Filmverleih