Répertoire des villes disparues ● Vice ● Skin ● Gospod postoi, imeto i’e Petrunija

Die Berlinale-Götter ausgetrickst! Kosslick sei Dank, gibt’s ja mehrere Chancen, die Wettbewerbsfilme zu sehen: in der Wiederholung dann doch den gestern versäumten Gospod postoi, imeto i’e Petrunija geschaut!
Dafür heute Kız Kardeşler (A Tale of Three Sisters) verpasst. Dann gewinnt halt der.
Schnee, Frost, Winter – nicht bei der Berlinale, aber immerhin im Kino, zum Beispiel bei:

Répertoire des villes disparues (Ghost Town Anthology)

„Wenn in der Hölle kein Platz mehr ist, werden die Toten auf der Erde wandern.“ So reißerisch wie die Werbung 1978 zu George A. Romeros „Dawn of the Dead“ ist dieser kanadische Low-Budget-Film nicht geworden. Dafür umso ungruseliger. Man kann den Titel „Ghost Town Anthology“ durchaus wörtlich nehmen: Die kleinen Käffer auf dem Land sind so verlassen, dass sie zu Geisterstädten werden. Damit es nicht ganz so leer ist, kommen immerhin die Toten zurück, stehen dann aber nur in der Gegend rum und schauen. Das erinnert sehr an die erste Staffel der französischen Serie „Les Revenants“.  Im Gegensatz zur brillanten Serie wirkt Répertoire des villes disparues mit seinem handgemachten Krissellook sehr unfertig, mehr wie das Layout zu einem Kinofilm. Passenderweise auf 16mm gedreht, da lacht das Cineastenherz.

Kanada 2018
96 min
Regie Denis Côté

Vice  (Vice – Der zweite Mann)

Vice erzählt die Geschichte von Dick Cheney, der vom kleinen Bürokraten zu einem der einflussreichsten Männer der Welt aufstieg. Als erster US-Vizepräsident hatte er fast mehr Macht als der Präsident selbst. Vice ist vor allem ein Christian Bale-Film. In guter alter Method-Tradition hat sich der Schauspieler für die Titelrolle etliche Pfunde angefuttert und sieht dem Original – Dank ausgezeichneter Maske – verblüffend ähnlich. Verdienterweise gab’s dafür schon den Golden Globe als Hauptdarsteller in einer Komödie. Vice ist ein seltsamer Zwitterfilm. Einerseits nicht spannend genug für ein Drama und andererseits in seinem Humor zu unentschlossen, um als bissige Satire durchzugehen. Das käme wohl dabei heraus, würde man Michael Moore ein Big Budget-Movie anvertrauen und ihm dann zu viel rein quatschen.

USA 2019
132 min
Regie Adam McKay

Skin

Tattoos sind Scheiße. Das Stechen tut weh, das Entfernen noch mehr. Diese Wahrheit muss Bryon am eigenen Leib erfahren. Nach seinem Entschluss, sich von seinen rassistischen White-Supremacy-Freunden loszusagen, wartet eine schmerzhafte Enttintungsprozedur auf ihn. Bei seinem Weg ins neue Leben helfen ihm ausgerechnet schwarze Menschenrechtsaktivisten und natürlich die Liebe, denn Freundin Julie hat mit dem Nazipack ebenso abgeschlossen. Die Geschichte vom Monster, das sich befreien will und es kaum schafft, seine Vergangenheit loszuwerden, ist spannend erzählt und geht unter die Haut (haha). Hervorragend besetzt, vor allem Jamie Bell (ja, der aus „Billy Elliot“) überzeugt als bekehrter Rassist. Skin basiert auf der wahren Lebensgeschichte von Bryon Widner.

USA 2019
117 min
Regie Guy Nattiv 

Gospod postoi, imeto i’e Petrunija (God Exists, Her Name Is Petrunya)

Petrunija ist komplett überqualifiziert – aber wer ist das heutzutage nicht? Ein abgeschlossenes Studium der Geschichte interessiert niemand, die Jobsuche bleibt erfolglos. Ihr Leben ändert sich schlagartig, als am Dreikönigstag, wie jedes Jahr, die jungen Männer nach dem heiligen Kreuz tauchen, das der Pfarrer in den eisigen Fluss geworfen hat. Petrunija macht spontan mit, ist schneller als alle anderen und holt sich die Trophäe. Aber sie hat nicht mit dem verletzten Stolz der Verlierer gerechnet. Die Machomeute tobt!
Macht diese Inhaltsangabe Lust den Film zu sehen? Nein? Zu Arthouse?
Überraschung: Tenor Strugar Mievska ist eine teils melancholische, teils wütende Satire über den heutigen Zustand der mazedonischen Gesellschaft gelungen. Und damit ein richtig guter Film – lustig, traurig und nachdenklich machend. Zum Glück doch noch gesehen!

Mazedonien / Belgien / Slowenien / Kroatien / Frankreich 2019
100 min
Regie Teona Strugar Mitevska

The Operative ● Mr. Jones

Schlapp gemacht, den ersten Film des Tages sausenlassen. Natürlich wird genau der den Goldenen Bären gewinnen. Also, hier die Prophezeiung – the winner will be: Gospod postoi, imeto i‘ e Petrunija
Heute wieder Regen, kein Schnee. Nicht mal das kriegt der Senat hin.

The Operative (Die Agentin)

Leipzig, Teheran und Köln sind die exotischen Schauplätze dieses mediokren Spionagethrillers.
Rachel wird im Auftrag des Mossad für eine Undercovermission nach Teheran entsandt. Dort verliebt sie sich in Farhad, den sie eigentlich ausspähen soll. Der Job wird immer gefährlicher, deshalb beschließt sie, auszusteigen. Ihr Kontaktmann Thomas soll sie nun schnellstmöglich finden (und gegebenenfalls kaltstellen), bevor sie den Israelis gefährlich werden kann.
The Operative ist eine einigermaßen spannend erzählte Spionagegeschichte, die fast komplett aus Rückblenden besteht. Umso unbefriedigender das Ende, da sich die zwei Stunden bis dahin wie ein langes Vorspiel anfühlen. Doch dann ist mitten in der Auflösung plötzlich Schluss. Es wird ansonsten viel geredet und die komplizierte Handlung erklärt, aber das schadet nichts, denn Nahost-Spionagefilme versteht man ja sowieso nie so richtig. Diane Kruger überzeugt als undurchschaubare Spionin und Martin Freeman sieht man sowieso immer gerne. Homeland fürs Kino. Allerdings war die Serie um einiges mutiger gemacht (wenigstens in den ersten drei Staffeln).

Deutschland / Israel / Frankreich / USA 2019
120 min
Regie Yuval Adler

Mr. Jones

Der junge Journalist Gareth Jones fährt auf eigene Faust 1933 in die Ukraine. Bei seiner Reise durchs Land erlebt er die Schrecken einer gewaltigen Hungersnot. Diese humanitäre Katastrophe soll nicht an die Öffentlichkeit dringen, denn sie ist Folge von Stalins Zwangskollektivierung der Landwirtschaft. Trotz der Drohung, seine inhaftierten Landsmänner zu ermorden, publiziert Jones nach seiner Rückkehr in den Westen seine erschütternden Entdeckungen und rüttelt damit die Weltöffentlichkeit auf.
Agnieszka Holland erzählt diese wahre Geschichte in drei Kapiteln. Auch wenn’s schön gedreht und inszeniert ist, der Anfang von Mr. Jones ist relativ zäh und langatmig. Doch darauf folgt der Mittelteil und es ist beinahe so, als hätte ein neuer Film begonnen. Die Reise des Walliser Journalisten durch die Ukraine ist eine packende Geschichtslektion:  seine Entdeckungen sind erschütternd, denn die hungernden Menschen waren gezwungen, sogar ihre Toten zu essen. Seinen Kampf, diese Geschichte überhaupt publizieren zu dürfen, zeigt dann der dritte Teil des Films. George Orwell soll durch die Enthüllungen zu seinem Buch „Die Farm der Tiere“ inspiriert worden sein. Wäre es kein Kinofilm, der Stoff hätte locker für eine 10-teilige Netflix-Serie gereicht.

Polen / Großbritannien / Ukraine 2019
141 min
Regie Agnieszka Holland

Der Boden unter den Füßen ● Ut og stjæle hester ● Der goldene Handschuh ● Celle que vous croyez

Zwei Beobachtungen: Frauen werden in Berlinalefilmen mehrfach beim Urinieren auf den Boden gezeigt. Und Männer haben problematische Penisse. Hoffentlich kein Trend.
Immer noch kein Schnee.

Der Boden unter den Füßen 

Lola, Ende 20, hat ihr Leben vermeintlich fest im Griff. Karriere geht ihr über alles, die Arbeit hat höchste Priorität. Mit der gleichen Disziplin wie ihren Job verwaltet sie auch ihr Privatleben. Deshalb soll möglichst keiner von der Existenz ihrer psychisch gestörten Schwester Conny wissen. Als die einen Selbstmordversuch unternimmt, droht auch Lolas Leben aus den Gleisen zu geraten. Denn die Paranoia ihrer Schwester schleicht sich langsam auch in ihr eigenes Leben.
Interessante Geschichte – und erfrischend, dass es in einem österreichischen Film mal nicht um im Keller weggesperrte Kinder geht. Atmosphäre und Spannung sind in diesem Fall wichtiger als eine simple Auflösung. So bleibt das Ende offen und lässt ein wenig ratlos zurück: War das alles nur in ihrem Kopf? 

Österreich 2019
108 min
Regie Marie Kreutzer

Ut og stjæle hester (Out Stealing Horses)

Norwegen, 1999: Witwer Trond hat sich aus der Stadt zurückgezogen und lebt abgeschieden auf dem Land. Eine Begegnung mit einem Nachbarn, in dem er einen alten Kindheitsgefährten wiedererkennt, löst Erinnerungen an seine Jugend aus. 1948 verbrachte er gemeinsam mit seinem Vater einen ganz besonderen Sommer in den Wäldern nahe der schwedischen Grenze. Lange Nachmittage, Holzhacken, Duschen im Sommerregen. Die Lieblichkeit wird jedoch jäh von einem brutalen Unfall zerrissen. Regisseur Hans Petter Moland erzählt ein Drama um Liebe, Verlust und lebenslange Schuldgefühle. In erster Linie bleiben aber die beeindruckenden Naturaufnahmen und vor allem das ausgezeichnete Sounddesign hängen. Es kracht, knirscht, krabbelt und summt, als wäre man selbst Teil des Waldes.
Wald – der Film. So schön die Bilder und der Sound, so zäh die Erzählweise. Nach einer Stunde setzt erste Ermüdung ein. Das Leben ist ein langer, harziger Fluß.

Norwegen / Schweden / Dänemark 2019
122 min
Regie Hans Petter Moland

Der goldene Handschuh 

St. Pauli war mal ein hartes Pflaster, bevor es zur harmlosen Amüsiermeile aufgeräumt wurde. In den 1970er-Jahren trieb dort ein Frauenmörder sein Unwesen: Fritz Honka, ein erschreckend hässlicher Mann, der über Jahre ältere Prostituierte und Alkoholiker*innen aus der Kiezkneipe „Zum Goldenen Handschuh“ abschleppte, um sie dann in seiner Wohnung abzumurksen. Die zerstückelten Leichen versteckte er nach getaner Arbeit hinter der Wandverkleidung. Nicht schön.
Zur letzten Kosslick-Berlinale gibt sich Fatih Akin noch einmal die Ehre. Nur ist dem Regisseur diesmal mit der Verfilmung des Heinz Strunk-Buchs von 2016 kein zweiter Bärenkandidat geglückt. Trotz überzeugender Darsteller wirkt die Inszenierung seltsam theaterhaft und künstlich und hat ganz schön Längen. Der goldene Handschuh ist zwar unappetitlich wie ein Splatterfilm, aber trotzdem erstaunlich unspannend erzählt. So freudlos wie das Leben der Protagonisten, so freudlos ist es auch, den Serienmorden zuzusehen.

Deutschland / Frankreich 2019 
115 min
Regie Fatih Akin

Celle que vous croyez (Who You Think I Am)

Wo ist mein iPhone? Nicht nur Teenager verlieren sich zusehends in der virtuellen Welt der Social Networks, auch reifere Semester sind vor dem Absturz ins digitale Nirwana nicht gefeit. Claire, 50, befreundet sich auf Facebook mit Alex, 29. Im Profil gibt sie sich als 24-Jährige aus, Alex zeigt sich interessiert. Aber nach ein paar Wochen hin- und hergechatte will er seine Traumfrau endlich treffen. Claire versucht, ihn auf Abstand zu halten, verliert sich aber zusehends im Sog der Parallelwelt, bis ein Unglück geschieht.
Die Geschichte (bzw. die Geschichten, denn es werden gleich mehrere Varianten erzählt) schwankt zwischen belanglos, ergreifend, komisch und kitschig. Mit leichter Hand inszeniert, aber nichts Weltbewegendes. Jurypräsidentin Juliette Binoche ist der Hauptgrund, diesen sanften Thriller-Liebesfilm anzuschauen, denn die ist fabuleux! 

Frankreich 2018
101 min
Regie Safy Nebbou

Systemsprenger ● Grâce à Dieu ● Öndög ● ACID

Natürlich stinken nicht alle Festivalbesucher. Aber viele. Anders ist der Geruch nach ungelüfteter Bettwäsche, der sich in den Berlinalekinos ausbreitet, nicht zu erklären. Danke auch an die Frau, die eine sehr reife Banane im Kino verspeisen musste. Da überlagert ein übler Geruch den anderen.
Dieses Jahr kein Schnee zur Berlinale?

Systemsprenger

MAMAAAAA!!! AAAAAHHHHH! Kreisch, Strampel, Tob: der Film zum Prenzlpanther. Benni ist ein „Systemsprenger“. So nennt man Kinder, die durch alle Raster der deutschen Kinder- und Jugendhilfe fallen. Die Neunjährige schreit und prügelt sich schon nach kurzer Zeit aus jeder Pflegeeinrichtung raus. Und genau das will sie auch, denn sie möchte viel lieber bei ihrer Mutter leben.
Nora Fingscheidt ist ein extrem intensiver Film mit einer herausragenden Hauptdarstellerin gelungen. Als Zuschauer schwankt man zwischen Mitleid, Genervtheit und Hass. Das Dauer-Geschrei, aber auch die Ungerechtigkeit der Welt, geht an die Grenzen des Ertragbaren. Guter Film, großartige Schauspieler, vor allem die junge Hauptdarstellerin Helena Zengel ist jetzt schon eine würdige Bärenkandidatin.

Deutschland 2019
118 min
Regie Nora Fingscheidt

Grâce à Dieu – Gelobt sei Gott

Und noch mal leidende Kinder: François Ozons neuer Film erzählt von den Opfern des Paters Bernard Preynat, der 2016 wegen sexueller Übergriffe auf rund 70 Jungen angeklagt wurde. Die meisten der Fälle sind mittlerweile verjährt. Stellvertretend erzählt Grâce à Dieu vom Schicksal dreier erwachsener Männer, die es erst nach vielen Jahren schaffen, sich ihrem Dämon zu stellen. Sie leiden bis heute unter den Verletzungen, die ihnen der Pater ungehindert zufügen konnte. Und das trotz zahlreicher Hinweise und Beschwerden von Eltern. Der Film prangert nicht nur den Priester, sondern vor allem das Schweigen der Kirche insgesamt an. Souverän inszenierter, unaufgeregter  – dadurch umso eindringlicher – erzählter Film zu einem lange verschwiegenen Thema. 

Frankreich 2019
137 min
Regie François Ozon

Öndög

Der erste „klassische“ Berlinalefilm in diesem Jahr. So was gibt es außerhalb des Festivals höchstens im Spätprogramm bei 3sat zu sehen. Entschleunigung pur, fast zwei Stunden passiert so gut wie nichts. In eine Einstellung von Öndög hätten andere Filmemacher dreißig Schnitte gesetzt.
Das Programmheft schreibt: „Im Zentrum des Films steht eine starrsinnige Frau in menschenleerer Weite. Ihren fürsorglichen Nachbarn duldet die ansonsten autark lebende Hirtin, die von allen „Dinosaurier“ genannt wird, nur, wenn es Probleme mit ihrer Herde gibt. Für sich und ihre Zukunft hat sie einen ganz eigenen Plan, der mit der einsamen Landschaft und deren Mythen in Beziehung steht.“
Wer dafür die nötige Geduld aufbringt, wird mit lakonischem Humor und ungewöhnlichen Einblicken in eine fremde Kultur belohnt.

Mongolei  2019
100 min
Regie Wang Quan’an

ACID (KISLOTA)

„Wenn Du springen willst, spring!“
Keine gute Idee, das zu einem splitternackten Freund zu sagen, der gerade über das Balkongeländer im fünften Stock geklettert ist. Aber Pete sagt es und Vanya springt in den Tod. Auf seine Beerdigung folgt eine wilde Clubnacht und die Begegnung mit dem Künstler Vasilik. Der taucht nicht nur die Skulpturen seines Vaters in Acid/Säure, sondern hat auch Interesse, den frisch beschnittenen Penis von Petes Freund Sasha zu fotografieren. Das kann natürlich nur unter Drogeneinfluss geschehen, und weil die Flasche mit der Säure gerade so verführerisch rumsteht, trinkt Pete auch noch einen kräftigen Schluck daraus. Selbst zugefügte Schmerzen helfen gegen die Watte im Kopf.
Die unglücklichen jungen Männer, die im Mittelpunkt des Regiedebüts von Alexander Gorchilin stehen, haben die gleichen Probleme wie andere Jugendliche irgendwo sonst auf der Welt auch. Verloren und auf der ewigen Suche nach Perspektive und Orientierung im Leben.
ACID – ein streckenweise anstrengendes, aber nicht uninteressantes Porträt einer (weiteren) „lost generation“, diesmal aus Russland.

Russland 2018 
98 min
Regie Alexander Gorchilin

The Kindness of Strangers ● Gully Boy ● Heimat ist ein Raum aus Zeit

Wenn im Kino gehustet wird, als hätten die Berliner Symphoniker eine Pause zwischen zwei Sätzen gemacht, Eulen ihre Thermoskannen auspacken und geräuschvoll Stullen verspeisen, dann ist es wieder soweit: Die Berlinale hat begonnen!

The Kindness of Strangers

Mitten in der Nacht packt Clara ihre beiden Söhne ins Auto und flieht vor ihrem gewalttätigen Mann nach New York. Dort angekommen, wird sie direkt beklaut. Willkommen in der Großstadt!
The Kindness of Strangers ist genau das, was der Titel verspricht: ein Film über grundgütige Mitmenschen, wie es sie im wahren Leben selten bis nie gibt. Bei ihrer Odyssee begegnet die mittellose Clara der Krankenschwester Alice, die ihr selbstlos zwei Betten in ihrem Büro überlässt. Und als Clara wenig später für sich und ihre hungrigen Kinder im russischen Restaurant Winter Palace ein paar Häppchen klaut, lernt sie den Ex-Häftling Marc kennen, der dort als Restaurantleiter arbeitet. Auch er nimmt sich selbstlos der Kleinfamilie an und verliebt sich natürlich nebenbei in Clara.
Ein bisschen erinnert das Ganze an eine New York-Version von Love Actually. Nur dass hier statt reichem Mittelstand Obdachlose und gescheiterte Existenzen die Szenerie bevölkern. Auch Hugh Grant spielt nicht mit, dafür wenigstens Bill Nighy in einer Nebenrolle.
Mittelmaß. Passt in die Reihe der missglückten Berlinale-Eröffnungsfilme.

Dänemark / Kanada / Schweden / Deutschland / Frankreich 2019
112 min
Regie Lone Scherfig

Gully Boy

Hier spricht die pure Ignoranz: In Indien gibt es eine blühende Rap-Szene! Wer hätte das gedacht?
Das Klischee vom milden, immer lächelnden Inder wird hier (wenigstens teilweise) auf den Kopf gestellt. Harte Jungs (und Mädchen), die Kapuze tief ins Gesicht gezogenen, brüllen zornige Battle-Raps ins Mic. Nicht auf Englisch, sondern Hindi.
Hauptfigur ist Murad, 22. Der versucht sich seinem komplizierten Familienleben mittels Cannabis und Musik zu entziehen. Als er einem berühmten Rapper begegnet, ermuntert der ihn, sein Hobby zu professionalisieren. Murad beginnt eigene Songs zu produzieren. Das verändert sein ganzes Leben.

Ist das nun einfach modern inszeniert oder extrem den westlichen Sehgewohnheiten angepasst? 
Zwischendurch hat man das Gefühl, den neusten Matthias Schweighöfer-Film zu sehen. So werblich glitzert da die Sonne in die Optik, während sich junge Menschen auf alten Sofas auf dem pittoresken Hausdach lümmeln. Dazu klimpert ein seichter, aber eingängiger Gitarren-Piano Score.
Egal, Gully Boy ist ziemlich unterhaltsam und für seine Lauflänge von über zwei Stunden erstaunlich kurzweilig.

Indien 2018
148 min
Regie Zoya Akhtar

Heimat ist ein Raum aus Zeit 

Ist es etwa das, was Harald Martenstein vom Tagesspiegel als „Kunstscheiße“ bezeichnet hat? Vielleicht. Auf jeden Fall ist es kein „Film“ im herkömmlichen Sinne. Eher so etwas wie eine Kunstinstallation. Besser, man könnte die teilweise minutenlangen Einstellungen in einem Museum anschauen, dazu einen Kopfhörer auf- und gegebenenfalls wieder absetzen und so den Erzählungen des Dok-Filmers Thomas Heise lauschen. Der liest mit getragener Stimme Briefe und Tagebuchaufzeichnungen vor und erzählt so die Geschichte Deutschlands anhand seiner eigenen Familiengeschichte. Als Langfilm im Kino (und hier liegt die Betonung auf LANG, denn es sind 218 Minuten) funktioniert das nur sehr bedingt. Die in Scharen fliehenden Zuschauer sind bestimmt kein Qualitätsindiz, aber auch mit gutem Willen: Kapitulation nach 90 Minuten. Vielleicht wurde es in der dritten Stunde noch aufregender…

Das Presseheft der Berlinale sagt: „Ein großer Film, der bleibt.“

Deutschland / Österreich 2019 
218 min
Regie Thomas Heise 

Drei Gesichter

⭐️⭐️⭐️

Schauspielerin Behnaz Jafari erhält ein verstörendes Handy-Video: eine junge Frau behauptet darin, sie habe mehrfach versucht, die im Iran berühmte Schauspielerin zu kontaktieren. Aufgewühlt erklärt sie, dass ihre Familie sie daran hindere, ebenfalls Schauspielerin zu werden. Am Ende des Videos erhängt sich das Mädchen augenscheinlich. Die erschütterte Behnaz Jafari macht sich gemeinsam mit ihrem Regisseur auf die Suche nach der vermeintlichen Selbstmörderin. Bei ihrer Reise über verschlungene Straßen durch abgelegene Bergdörfer im Norden des Iran kommt es zu teils obskuren Begegnungen.

Beinahe interessanter als der Film selbst ist seine Entstehungsgeschichte: Regisseur Jafar Panahi hat im Iran offiziell Berufsverbot und konnte, wie schon zuvor beim Berlinale-Gewinner „Taxi Teheran“, nur heimlich drehen. Nach Fertigstellung ließ er den Film außer Landes schmuggeln, sodass er dann – in seiner Abwesenheit – auf verschiedenen Festivals gezeigt werden konnte. Beim abenteuerlichen Dreh in seinem Heimatdorf agierte Panahi in einer Doppelfunktion als Darsteller und Regisseur. Außer ihm bestand das Team meist nur aus seiner Hauptdarstellerin Behnaz Jafari und einem Kameramann.

Drei Gesichter vermischt gekonnt Fiktion und Realität: Behnaz Jafari spielt sich selbst. Die Schauspielerin ist ein Film- und Fernsehstar im gegenwärtigen Iran. Die andere, im Film gesichtslos bleibende Figur, ist Shahrzad. Sie war vor langer Zeit, in der vorrevolutionären Ära, der Star des iranischen Mainstream-Kinos. Heute arbeitet sie als Autorin, lebt zurückgezogen. Im Film taucht sie nur als Schattenriss auf und ihre Stimme ist beim Verlesen eines ihrer Gedichte zu hören.

FAZIT

Ein mäanderndes Roadmovie, schlau und tiefgründig.

Iran, 2018
Regie Jafar Panahi
100 min
Kinostart 26. Dezember 2018