ZEITEN DES UMBRUCHS

Kinostart 24. November 2022

Dass ein Schmock wie Ronald Reagan der nächste US-Präsident werden könnte, versetzt Irving Graff (Jeremy Strong) in Unglauben. Der liberale jüdische Familienvater lebt Anfang der 1980er-Jahre in Queens, New York. Mit seiner Frau Esther (Anne Hathaway) hangelt er sich so durch, vom klassischen Wunsch getrieben, die beiden Kinder mögen es „mal besser haben“. Doch Undank ist der Welten Lohn: Sohn Paul (Banks Repeta) ist verträumt und mehr am Zeichnen als an Lehren fürs Leben interessiert. Verständnis findet er nur bei seinem Großvater (Anthony Hopkins), dem einzigen Erwachsenen, auf den der Junge hört.

Der Film findet keinen großen dramatischen Bogen, bleibt skizzenhaft

Wer hat sich nicht schon mal gefragt, ob die eigene Familiengeschichte es nicht wert wäre, aufgeschrieben oder verfilmt zu werden? Da aber die meisten von uns kein Soap-Opera-Leben führen, hielte das Ergebnis den Rest der Menschheit vermutlich nicht in Atem. Und auch die Kindheitserinnerungen von James Gray sind weniger aufregend, als es der Drehbuchautor und Regisseur vermutet. Sein Film findet keinen großen dramatischen Bogen, bleibt skizzenhaft und ist nur mäßig interessant. Ständig wartet man auf einen großen Knall, Gefühle oder Drama, doch es passiert fast nichts. Wenigstens hat er eine fabelhafte Besetzung vor der Kamera versammelt: Neben Jeremy Strong und Anne Hathaway vor allem Anthony Hopkins, der endlich aufgehört hat, drittklassige Thriller fürs Geld zu drehen, und seit „The Father“ wieder zu Bestform zurückgefunden hat.

„Armageddon Time“ – der Originaltitel klingt brachial und vielversprechend. Überraschend, dass sich dahinter eine so fade Familiengeschichte verbirgt. Wie schon zuletzt „Ad Astra – Zu den Sternen“ ist auch Grays neuer Film kein Unterhaltungsfeuerwerk, eher eine Beobachtung von Zuständen. „Zeiten des Umbruchs“ möchte ein bildgewordener Jonathan Franzen-Roman sein: eine ausführliche Beschreibung vom Leben, bei der nicht viel passieren muss, die aber trotzdem fesselt. Das funktioniert bei Franzen auf dem Papier. Kino folgt anderen Regeln. Da können zwei Stunden ohne nennenswerte Geschichte ganz schön lang werden.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Armageddon Time“
USA 2022
114 min
Regie  James Gray

alle Bilder © Universal Pictures International Germany

BONES AND ALL

Kinostart 24. November 2022

Das Rückgrat geknickt,
Die Knochen zerknackt,
Die Schenkel gespickt,
Die Lebern zerhackt.

Joachim Ringelnatz beschreibt in seinem Gedicht „Silvester bei den Kannibalen“ genau wie’s geht. Derlei Anleitung könnte auch Maren gut gebrauchen, denn sie ist seit Kindesbein scharf auf Menschenfleisch. Als sich pünktlich zu ihrem 18. Geburtstag ihr Vater aus dem Staub macht, begibt sie sich auf die Suche nach ihrer verschollen geglaubten Mutter – ein Roadtrip quer durch die Vereinigten Staaten der Reagan-Ära. Unterwegs trifft sie Gleichgesinnte (man kann sich gegenseitig erschnuppern) und findet im Wild Boy Lee ihre erste große Liebe. Liebe unter Kannibalen. Schön.

Regisseur Luca Guadagnino ist ein Meister der Stimmung

„Bones and All“ würde in der modernen Gastronomie wohl „Nose to Tail“ heißen. Denn in der Adaption von Camille Deangelis’ Jugendroman geht es (auf den ersten Blick) genau darum: das Verspeisen von Menschen mit Haut und Haar. Regisseur Luca Guadagnino hat sich dafür erneut Timothée Chalamet vor die Kamera geholt und der macht, was er am besten kann: mit niedlichem Hundeblick unter der Lockenfrisur hervorschauen und sexuelle Ambivalenz verströmen. Sehr putzig auch Oscarpreisträger Mark Rylance als gruselig-irrer Körperfresser mit Prinzipien: Ihm kommen nur bereits Verstorbene auf den Teller. Die Hauptrolle ist mit Taylor Russell besetzt, die schon im sträflich vom Publikum ignorierten Coming-of-Age-Drama „Waves“ begeistern konnte.

Was dem Immobilienmakler „Locatio, Location, Location“, ist für Luca Guadagnino „Mood, Mood, Mood“. Die Filme des italienischen Regisseurs sind in erster Linie perfekt eingefangene Atmosphäre, weniger klassisch erzählte Geschichte. Wer wollte nach „Call Me by Your Name“ nicht sofort die Koffer packen und einen sonnenflirrend verliebten Urlaub im Süden verbringen? Ein Meister der Stimmung also. Mit „Bones and All“ hat er nun einen – sich selbst vielleicht etwas zu ernst nehmenden – romantischen Arthousefilm mit Horrorelementen gedreht. Top besetzt, zwischendurch mit Längen, aber insgesamt sehenswert.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Bones and All“
Italien / USA 2022
131 min
Regie Luca Guadagnino

alle Bilder © Warner Bros. Pictures (international)

SHATTERED – GEFÄHRLICHE AFFÄRE

Kinostart 24. November 2022

Große Sorge um John Malkovich! Der preisgekrönte Schauspieler ist in finanziellen Schwierigkeiten! Oder warum sonst spielt er in diesem zweitklassigen C-Picture mit?

Die überraschungsfreie Geschichte wird inklusive aller Twits bereits im Trailer verraten: Der in einem Luxusanwesen in den Bergen lebende Tech-Millionär Chris (Cameron Monaghan) verliebt sich in die attraktive Sky (Lilly Krug). Als der bebrillte Beau bei einem Überfall verletzt wird, springt die junge Frau kurzerhand als Privatkrankenschwester ein. Doch die hilfsbereite Fassade täuscht, Sky verfolgt einen perfiden Plan. Natter!

„Shattered“ ist eine Mischung aus „Misery“ und „Fatal Attraction“, nur mit schlechteren Darstellern und überschaubarerem Production Value. Früher landeten solche Filme als Direct-to-DVD in Videotheken, heute werden sie auf Streamingplattformen verheizt. Weshalb es „Shattered“ auf die große Leinwand ins Kino geschafft hat, bleibt rätselhaft. Trotz seiner Schlichtheit in jeder Hinsicht, ist der Thriller wenigstens in der zweiten Hälfte ein bisschen spannend.

Stupid German Money goes Hollywood: Veronica Ferres ist nicht nur die Mutter der Hauptdarstellerin, sondern auch Produzentin des Films und privat mit Malkovich befreundet. Ach so, drum.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Shattered“
USA 2022
94 min
Regie Luis Prieto

alle Bilder © Leonine

EINFACH MAL WAS SCHÖNES

Kinostart 17. November 2022

Deutschlands fleißigste „Ich warte nicht auf Rollenangebote, sondern inszeniere mich selbst“-Schauspielerin und Regisseurin Karoline Herfurth hat es schon wieder getan. Gerade mal neun Monate nach „Wunderschön“ startet nun „Einfach mal was Schönes“ in den Kinos. Ähnlicher Titel, ähnlicher Film.

Karla ist 39 und familiengestresster Single. Sie möchte unbedingt ein Kind bekommen, doch es fehlt der richtige Mann. Also beschließt sie, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen: Samenbank sei Dank ist schnell ein Spender gefunden. Doch als ihr der viel zu junge Ole über den Weg läuft, wird ihr Leben auf den Kopf gestellt.

Karoline Herfurth beweist, dass sie nicht nur ein Händchen fürs Komödiantische, sondern auch fürs Dramatische hat. Vielleicht sollte sie mit ihrem nächsten Projekt mal das Sujet wechseln. Drama mit Humor statt Komödie mit Drama. „Einfach mal was Schönes“ ist ein harmloser Film mit einer süßen Hauptdarstellerin und einem süßen Hauptdarsteller sowie einer grandiosen Ulrike Kriener als Höllenmutter. Obwohl das alles unterhaltsam ist, trägt die simple Geschichte nur für maximal 90 Minuten. Wie schon bei ihrem Vorgängerfilm (131 Minuten!!) möchte man sich mit der Regisseurin an den Schneidetisch (bzw. Computer) setzen und fragen: Braucht es diese redundanten Szenen wirklich? Wie oft muss man eine Fahrt über abgelegte Kleidungsstücke zeigen, um eine Beischlafszene anzukündigen? Einmal? Zweimal? Dreimal? Die Kunst des Weglassens beherrscht Herfurth nicht. Wenigstens konzentriert sich die Geschichte diesmal auf wenige Figuren, so bleibt genügend Zeit, Charaktere nicht nur anzureißen, um dann ihre Probleme im Schweinsgalopp zu lösen. Insgesamt also eine echte Weiterentwicklung zum zerfaserten Vorgängerfilm „Wunderschön“.

Karoline Herfurth bleibt ihrem Hit and Miss-Rezept treu: Neben wirklich lustigen gibt es mindestens genauso viele dämliche Szenen zum Fremdschämen. „Einfach mal was Schönes“ ist generationsübergreifende Mainstream-Unterhaltung für zwei Stunden Lachen und ein bisschen Weinen ohne großen Anspruch.

INFOS ZUM FILM

Deutschland 2022
116 min
Regie Karoline Herfurth

alle Bilder © Warner Bros. Pictures Germany

the MENU

Kinostart 17. November 2022

„Die im Feuer alter Buchenstämme vierzehn Stunden geräucherte Hippe wird von einem Schmand begleitet, den wir von Bauer William aus Schottland beziehen. Seine Kuh Mathilda gibt nur einen Liter Milch pro Woche, welcher exklusiv für diesen Gang in osmanischer Salzlake fermentiert wurde“.
So klingt die nicht erfundene Beschreibung eines verbrannten Stück Teigs mit saurer Sahne in einem Berliner Sterne-Restaurant. Man sitzt da, hört sich’s an und staunt. Jede Zutat wird mit einer Geschichte aufgeladen, alles ist Kunst. Wer schon mal das zweifelhafte Vergnügen hatte, in diesem nicht näher genannten Lokal zu dinieren, der ahnt, dass die im Film „the MENU“ gezeigte Welt der Superfoodies ziemlich nah an der Realität ist.

Selten wurde Grausamkeit so ästhetisch serviert

Eine Gruppe reicher und berühmter Menschen reist auf eine Insel, um dort im ultra-exklusiven Restaurant Hawthorne zu speisen. Spaß kostet Geld: Für das Menü des legendären Chefkochs Slowik (Ralph Fiennes) sind 1.250 $ pro Kopf fällig. Doch was als unvergessliches Gourmet-Erlebnis geplant war, wandelt sich im Laufe des Abends zum Höllentrip.

Menu surprise: Regisseur Mylod spannt einen eleganten Bogen von satirischer Komödie über ausgewachsenen Thriller bis hin zum blanken Horror. Man weiß nie, was als Nächstes passiert, es bleibt bis zum Ende wunderbar überraschend. Das intelligente, mit scharfzüngigen Dialogen gespickte Drehbuch von Seth Reiss und Will Tracy nimmt dabei gekonnt die Auswüchse des Kapitalismus aufs Korn. Insofern ist „the MENU“ dem oscargekrönten „Parasite“ nicht unähnlich.

Selten wurde Grausamkeit so ästhetisch serviert. „the MENU“ nutzt den visuellen Stil der augenschmausigen NETFLIX-Serie „Chef’s Table“, inklusive ironischer Zwischentitel mit pseudo-poetischen Wortschöpfungen für den jeweiligen Gang. Aus der rundum delikaten Besetzung stechen vor allem der immer fabelhafte Ralph Fiennes als Chefkoch und Hong Chau als eiskalt professionelle Oberkellnerin Elsa hervor. „the MENU“ ist eine zugleich komische und bitterböse Abrechnung mit der grotesken Welt der Spitzengastronomie. Guten Appetit.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „The Menu“
USA 2022
107 min
Regie Mark Mylod

alle Bilder © Walt Disney Studios Motion Pictures Germany

BEAUTIFUL BEINGS

Kinostart 10. November 2022

Für den 14-jährigen Balli läuft es denkbar schlecht: Er lebt mit seiner drogenabhängigen Mutter in einem runtergekommenen Haus, ein Auge wurde ihm „versehentlich“ vom Stiefvater weggeschossen, in der Schule wird er regelmäßig gemobbt. Kein schönes Leben. Als Balli die gleichaltrigen Addi, Konni und Siggi kennenlernt, entwickelt sich langsam eine Freundschaft zwischen den vier Jungs.

Was ist wahre Freundschaft?

Der Film des isländischen Regisseurs wirkt wie eine zeitgemäße Interpretation von „Stand By Me“. Nur um einiges rougher und näher an der Wirklichkeit. Der Kontrast könnte nicht größer sein: Zu Hause dominieren die Väter, durchweg Loser, vom Trinker bis zum brutalen Schläger ist alles dabei. Auf der anderen Seite steht die pubertäre Grenzen austestende Freundschaft zwischen den Jungs, die immer wieder überraschend zärtliche Momente hat.

„Beautiful Beings“ wirft interessante Fragen auf: Was ist wahre Freundschaft? Wie lässt sich der eigene Weg finden? Und können beste Freunde schlechten Einfluss nehmen? Regisseur Guðmundsson ist ein bewegendes, in stimmungsvollen Bildern gedrehtes Coming-Of-Age-Drama mit vier tollen Newcomern geglückt. „Berdreymi“ wird im kommenden Jahr von Island ins Rennen um den Oscar für den besten internationalen Film geschickt.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Berdreymi“
Island / Dänemark / Schweden / Niederlande / Tschechische Republik 2022
123 min
Regie Guðmundur Arnar Guðmundsson

alle Bilder © Salzgeber

BLACK PANTHER WAKANDA FOREVER

Kinostart 10. November 2022

Regisseur Ryan Coogler hatte keine leichte Aufgabe. Nach dem überraschenden Tod seines Hauptdarstellers Chadwick Boseman 2020 war es mehr als unklar, ob es überhaupt eine Fortsetzung des Megaerfolgs „Black Panther“ geben könnte und sollte.

Der beste MCU-Film aller Zeiten?

Und nun? Die Onlinekritiker überschlagen sich im Vorfeld: „Black Panther Wakanda Forever“ sei „zwar nicht der beste MCU-Film aller Zeiten“, aber immerhin „der beste aus der aktuellen Phase 4“. Darüber lässt sich streiten. Das größte Problem ist nicht die Abwesenheit Bosemans – in all den langen Dialogszenen geht das ohnehin unter – es ist das Fehlen eines schwarzen Panthers generell. Geschlagene zwei Stunden lässt sich der Film Zeit, ehe seine Titelfigur überhaupt in Erscheinung tritt. Doch dann ist es zu spät und zu wenig. Immerhin hält das Kriegsepos einen der besseren MCU-Gegenspieler parat: Namor, König einer verborgenen Unterwassernation, ist ein gut ausgearbeiteter Charakter aus Fleisch und Blut, der sich nicht in eine Reihe mit den oft vergessbaren CGI-Kreaturen stellt.

„Black Panther 2“ sieht wie die düstere Verfilmung einer Las-Vegas-Show von Cirque du Soleil aus und ist erstaunlich humorfrei. Das wiederum kann dem Drehbuch gar nicht hoch genug angerechnet werden, denn witzige oneliner kann wirklich niemand mehr hören. Der epische Abenteuerfilm beeindruckt mit tollen Unterwasserszenen, ist aber mit 161 Minuten entschieden zu lang geraten. „Wakanda Forever“ bekommt da eine ganz neue Bedeutung.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Black Panther Wakanda Forever“
USA 2022
161 min
Regie Ryan Coogler

alle Bilder © Walt Disney Studios Motion Pictures Germany

MRS. HARRIS UND EIN KLEID VON DIOR

Kinostart 10. November 2022

von Anja Besch

Im London der späten 50er fristet die ältliche Kriegerwitwe Ada Harris mit verschiedenen Putzjobs ein bescheidenes Dasein, dessen einzige Ausschweifungen gelegentliche Pub-Besuche sind – bis sie eines Tages ausgerechnet durch die Haute-Couture-Robe einer Kundin aus ihrer pragmatischen Genügsamkeit gerissen wird. Dank eiserner Sparsamkeit und eines ebenso unverhofften Geldsegens läppert sich zwar die nötige Anschaffungssumme zusammen, doch noch befindet sich der Stoff, aus dem ihre Träume sind, im Atelier des großen Couturiers Christian Dior. Endlich in der Hauptstadt der Mode angekommen, schafft es Mrs. Harris nicht nur, ins Allerheiligste vorzudringen, sondern – um aus dem Nähkästchen zu spoilern – eine griesgrämige Direktrice, einen charmanten Grafen, ein existenzialistisches Pärchen und eigentlich tout Paris zu bezaubern.

Wem diese Geschichte vage bekannt vorkommt, der musste vielleicht 1982 die betuliche Fernsehadaption mit Inge Meysel ertragen. Vierzig Jahre später wird Anthony Fabians Kinoversion „Mrs. Harris und ein Kleid von Dior“ endlich Paul Gallicos Literaturklassiker gerecht. Buchstäblich old-fashioned, voller britischem Humor und berührend statt nur rührselig.

Kleider machen Leute und Leute machen Kleider gilt eben auch fürs Filmgeschäft – insbesondere den Cast: Die wunderbare (Oscar®- und BAFTA-nominierte) Lesley Manville in der Titelrolle schart höchstkarätige Co-Darsteller um sich wie Isabelle Huppert, Lambert Wilson oder Jason Isaacs sowie die Jungstars Alba Baptista und Lucas Bravo.

Wenn die Heizungen im Winter auf Sparflamme bleiben, wird es einem mit diesem Film wenigstens richtig warm ums Herz.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Mrs. Harris Goes to Paris“
Großbritannien / Ungarn 2021
116 min
Regie Anthony Fabian

alle Bilder © Universal Picture International Germany

DIE SCHRIFTSTELLERIN, IHR FILM UND EIN GLÜCKLICHER ZUFALL

Kinostart 10. November 2022

Zufallsbegegnungen – der Film. Die Schriftstellerin Jun-hee besucht die Buchhandlung einer früheren Freundin, zu der sie den Kontakt verloren hatte. Bei einem Ausflug trifft sie einen Filmregisseur, der einmal eines ihrer Bücher verfilmen wollte. Später lernt sie bei einem Spaziergang im Park eine berühmte Schauspielerin kennen und schlägt ihr ein gemeinsames Kurzfilmprojekt vor.

Eine beiläufig mitgedrehte, federleichte Fingerübung

So spannend wie das klingt, ist es auch. Es passiert fast nichts in „The Novelist’s Film“, der in Deutschland – das ist jetzt große Mode – unter einem ellenlangen Nonsens-Titel in die Kinos kommt. In meditativen Szenen wird viel geredet, manchmal ist das auch einigermaßen amüsant. Hong Sang-soos dialoglastiger Film ist dramaturgisch weniger kompliziert aufgebaut als seine früheren Werke, die noch viel mehr mit Verschachtelungen und Wiederholungsstrukturen gespielt haben. Den aktuellen Inszenierungsstil des Regisseurs könnte man als „spontan“ bezeichnen, „Die Schriftstellerin, ihr Film und ein glücklicher Zufall“ wirkt wie eine beiläufig mitgedrehte, federleichte Fingerübung.

Nach Hong Sang-soos „The Woman Who Ran“ (2020) und „Introduction“ (2021) hat auch „Die Schriftstellerin…“ den Silbernen Bären in Berlin gewonnen.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „So-seol-ga-ui yeong-hwa“
Republik Korea 2021
92 min
Regie Hong Sang-soo

alle Bilder © Grandfilm

AMSTERDAM

Kinostart 03. November 2022

Anstrengend! Überladen! Nicht so clever, wie er glaubt zu sein! Selten wurden große Stars derart verheizt! Keine Chemie! Totalausfall! Die Kritik ist sich in ihrem vernichtenden Urteil ziemlich einig: David O. Russells neuer Film ist ein kolossaler Flop.

Drama, Screwball-Komödie, Thriller

Die Geschichte von den beiden verwundeten Soldaten, die am Ende des Ersten Weltkriegs eine Krankenschwester kennenlernen, um dann mit ihr gemeinsam eine unvergessliche Jules und Jim-Zeit in Amsterdam zu verbringen, sei von Anfang an von allem zu viel. Drama, Screwball-Komödie, Thriller, Kriegsfilm: Wie soll das zusammenpassen? Erst als sich die Handlung ins New York der 1930er-Jahre verlegt und die drei Freunde einer (wahren) Verschwörung auf die Spur kommen, die das Schicksal der ganzen Welt beeinflussen könnte, finde der Film Tritt, aber dann sei es schon zu spät. So die seltsame, nicht nachvollziehbare Meinung der Kritiker.

Der Film erzählt eine Geschichte – und dass die mal lustig, mal dramatisch ist und auch einmal kurz im Krieg spielt – na und? Sicher, ein paar Kürzungen hätten nicht geschadet, denn 134 Minuten klingen nicht nur lang, sie sind es auch. Aber sich über eine abwechslungsreiche Handlung zu echauffieren, das klingt eher wie eine persönliche Abrechnung mit dem Regisseur.

„Amsterdam“ beginnt stark, schwächelt ein bisschen in der Mitte und fängt sich dann wieder zum Ende. Die Namen aller mitspielenden Stars aufzulisten, würde zu weit führen, aber Christian Bale, John David Washington, Margot Robbie und Chris Rock seien genannt. Und natürlich Robert DeNiro, Rami Malek und Anya Taylor-Joy. Und nicht zu vergessen Taylor Swift. Russel hat große Namen zusammengetrommelt und liefert einen stellenweise lustigen, fast hitchcockschen Thriller mit herausragender Ausstattung, toller Kamera und einem spielfreudigen Mega-Cast.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Amsterdam“
USA 2022
134 min
Regie David O. Russell 

alle Bilder © Walt Disney Studios Motion Pictures Germany

WIR SIND DANN WOHL DIE ANGEHÖRIGEN

Kinostart 03. November 2022

Es war einer der spektakulärsten Kriminalfälle Deutschlands: Am 25. März 1996 wurde um 20.20 Uhr der Publizist und Mäzen Jan Philipp Reemtsma in Hamburg-Blankenese entführt. Erst nach 33 Tagen Gefangenschaft und einer Lösegeldzahlung von 30 Millionen D-Mark wurde er wieder freigelassen. Bis dahin hielten sich Presse, Radio und Fernsehen an eine vereinbarte Nachrichtensperre, sodass die Öffentlichkeit erst im Nachhinein von dem Verbrechen erfuhr. Die Entführer waren ausnahmsweise keine Angehörigen der RAF, sondern ganz gewöhnliche Gangster. Zwei Jahre später wurden sie gefasst, vom Großteil des Lösegelds fehlt bis heute jede Spur.

Kein Kitsch, keine billige Spannung, kein Schnickschnack

Über die Erinnerungen der unheilvollen Tage des Wartens hat Johann Scheerer 2018 ein Buch geschrieben: „Wir sind dann wohl die Angehörigen – Die Geschichte einer Entführung“. Das Drama aus der Perspektive des damals erst 13-jährigen Sohns Johann. Hans-Christian Schmid hat aus diesem autobiografischen Bestseller jetzt einen Film gemacht – und was für einen! Kein Kitsch, keine billige Spannung, kein Schnickschnack. Mit Hans Löw, Justus von Dohnányi, Adina Vetter und Newcomer Claude Heinrich inszeniert der Regisseur eine Art Kammerspiel (ein Großteil der Handlung spielt im Haus der Familie Reemtsma/Scheerer), das die nervenzerreißende Anspannung, das bange Hoffen, das stümperhafte Vorgehen der Polizei und die gescheiterten Lösegeldübergaben auf nüchterne, sachliche Art zeigt, ohne dabei emotionslos zu sein.

„Wir sind dann wohl die Angehörigen“ fokussiert sich – der Titel legt es nah – auf Reemtsmas Frau Ann-Kathrin Scheerer und den gemeinsamen Sohn Johann. Von einer Sekunde auf die andere wird der Familienalltag auf den Kopf gestellt, Polizisten ziehen ins Haus ein, Post und Telefon werden dauerüberwacht. Zwischen gescheiterten Geldübergaben erreichen die Angehörigen die verzweifelten Briefe des Entführten. In all dem Chaos muss sich der pubertierende Junge zurechtfinden, während seine Mutter langsam zu zerbrechen droht.

Der beste Tatort, der kein Tatort ist

Sparsamer Musikeinsatz (hervorragend: The Notwist), punktgenaue Ausstattung und in ruhigen, unaufdringlichen Bildern erzählt – wenn man einen Kriminalfilm macht, dann bitteschön so! Obwohl der (gute) Ausgang der Geschichte bekannt ist, bleibt „Wir sind dann wohl die Angehörigen“ fesselnd von der ersten bis zur letzten Minute. Wer sich über die Opferperspektive informieren will, dem sei Jan Philipp Reemtsmas Buch „Im Keller“ empfohlen.

INFOS ZUM FILM

Deutschland 2022
118 min
Regie Hans-Christian Schmid

alle Bilder © Pandora Film, 23/5

SEE HOW THEY RUN

Kinostart 27. Oktober 2022

Ein allseits unbeliebter Hollywood-Regisseur, der mitten in den Vorbereitungen für die Verfilmung eines erfolgreichen Theaterstücks steckt, wird ermordet. Inspektor Stoppard (Sam Rockwell) und die übereifrige Constable Stalker (Saoirse Ronan) übernehmen den Fall. Schnell stellen sie fest, dass es Parallelen zwischen dem fiktiven Bühnenstück und der Realität gibt.

Es fehlt ein ganz entscheidender Faktor, der einen guten Krimi ausmacht: die Spannung.

Das ist dann auch schon die einzig originelle Idee von Mark Chappells Drehbuch: Das Whodunit „See How They Run“ spielt im Setting des wohl berühmtesten Whodunits, Agatha Christies „The Mousetrap“. Nicht Film im Film, aber Film im Theater sozusagen. Inspiriert vom „Mord im Orientexpress“-Erfolg und natürlich zuletzt „Knives Out“ (Teil 2 erscheint demnächst bei Netflix), hat Regisseur Tom George einen klassischen Mörder-Mystery-Film inszeniert, der stilecht im London der 50er-Jahre angesiedelt ist. Leider fehlt ein ganz entscheidender Faktor, der einen guten Krimi ausmacht: die Spannung. Quälende 98 Minuten schleppt sich die langweilige Geschichte dahin. Versuche, mit einer an Wes Anderson angelehnten Bildsprache das Ganze etwas aufzupeppen, scheitern kläglich – „See How They Run“ sieht nicht mal besonders gut aus, ist nur müdes Zitat.

Wenn schon die Handlung keine Spannung bietet, dann sollte es wenigstens die Besetzung in sich haben: Die bereits erwähnten Erfolgsfilme bieten mit großen Namen wie Daniel Craig oder Penélope Cruz Entertainment per Starpower. Ein Rezept, das schon die trutschigen 70er-Jahre-Verfilmungen mit Peter Ustinov gekonnt befolgt haben. Davon kann bei „See How They Run“ keine Rede sein. Hauptdarsteller Sam Rockwell agiert durchweg, als stünde er kurz vor dem Einschlafen. Ein Gefühl, das sich schon bald auf die Zuschauer überträgt. Und auch der restliche Cast (mit Ausnahme von Saoirse Ronan) ist eher gehobener Durchschnitt.

Für ein gutes Whodunit braucht es eine straffe Regie, gepfefferte Dialoge und (zumindest ein bisschen) suspense. All das fehlt hier. Enttäuschend in jeder Hinsicht.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „See How They Run“
USA 2021
98 min
Regie Tom George

alle Bilder © Walt Disney Studio Motion Pictures GmbH

BROS

Kinostart 27. Oktober 2022

„Bros“ ist leider kein Biopic über die gleichnamige britische Boygroup aus den 1980er-Jahren (When Will I Be Famous?), sondern eine nervige Gay-Rom-Com aus den USA.

Die im Stil einer 80er/90er-Jahre-Liebeskomödie gedrehte Satire auf eine Liebeskomödie aus den 80er/90er-Jahren leidet vor allem unter ihrer unsympathischen Hauptfigur. Bobby (Billy Eichner) ist ein dauersabbelnder Besserwisser, der sich nicht binden kann oder will. Eines Abends lernt er in einem Club den attraktiven Anwalt Aaron kennen. Der ist ein genauso großer Beziehungsmuffel, und so dauert es eine Weile, ehe die beiden zueinanderfinden. Auf dem Weg ins Glück wird pausenlos geredet. Geredet und geredet. Die eigentlich charmante Geschichte erstickt an ihrer penetranten Geschwätzigkeit, es ist kaum auszuhalten.

Ja, es gibt schon ein paar witzige Dialoge über straight actors, die in Hollywoodfilmen schwule Charaktere spielen, nur um einen Oscar zu gewinnen. Und auch der Gastauftritt von Debra Messing als Debra Messing hat komisches Potenzial. Doch die guten Szenen aus dem schwulen Alltag eines New Yorker Museumsdirektors werden unter einem Berg von zwanghafter LGBTQ+-political-correctness begraben. Dazwischen ein paar explizite Sexszenen, die leider auch noch lustig sein sollen – es aber größtenteils nicht sind.

Regisseur Billy Eichner macht Homophobie für den Kassenflop seines Films in den USA verantwortlich

„Bros“ will romantische Komödie, Satire, politisches Statement und LGBTQ+-Geschichtsstunde sein. Unter der Last geht dem Film bald die Puste aus und was anfangs noch für ein paar Lacher sorgt (wie die peinvollen Grindr-Dates der Hauptfigur), zieht sich ab der zweiten Hälfte furchtbar in die Länge. Zum Glück sind die Geschmäcker verschieden. Aber der einhellige Tenor nach der Pressevorführung überrascht dann doch: Wunderbar! Köstlich! Wahnsinnig lustig! Da fragt man sich: Haben die den gleichen Film gesehen?

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Bros“
USA 2022
115 min
Regie Nicholas Stoller

alle Bilder © Universal Picture International Germany

BLACK ADAM

Kinostart 20. Oktober 2022

„Black Adam“ ist ein typischer DC-Superheldenfilm. Kenner der Materie wissen, was das bedeutet. Es gibt viele Kampfszenen in Slow Motion, Blitz und Donner in Videogameoptik und ein paar lachhafte Kostümierungen. Und gerade als man denkt, es sei vorbei, geht es noch eine halbe Stunde weiter.

Dr. Strange oder Dr. Fate? Ant-Man oder Atom Smasher? Cyclone oder Storm? Handlung und Figuren kommen einem aus diversen X-Men und Marvelfilmen vage bekannt vor. Doch bei der Unmenge an Halbgöttern mit Superkräften, die sich mittlerweile auf der Leinwand tummelt, behält ohnehin nur der eingefleischte Nerd den Überblick.

Doofe Unterhaltung, aber nicht der schlechteste DC-Film aller Zeiten. Mehr Lob geht beim besten Willen nicht.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Black Adam“
USA 2022
130 min
Regie Jaume Collet-Serral

alle Bilder © Warner Bros. Entertainment Inc.

WAS DEIN HERZ DIR SAGT – ADIEU IHR IDIOTEN!

Kinostart 20. Oktober 2022

Endlich mal wieder ein Film mit ellenlangem deutschen Verleihtitel. „Was Dein Herz Dir sagt – Adieu Ihr Idioten!“. Kann man machen, ist aber umständlich und kostet Zeit.

Ein knackiges „Adieu ihr Idioten!“ tut es doch auch und ist gleichzeitig der (vermeintliche) Abschiedssatz des Sicherheitsexperten JB (gespielt von Regisseur Albert Dupontel), bevor er sich mit einem Gewehr ins Jenseits befördern will. Bei seinem missglückten Selbstmordversuch ist zufälligerweise die Friseurin Claire anwesend, die „an einer Dauerwelle“ stirbt – So jedenfalls ihre Diagnose. Das Einatmen von zu viel Haarspray hat eine schwere Atemwegserkrankung ausgelöst, Claires Tage sind gezählt. Vor ihrem Tod will sie aber noch unbedingt ihren Sohn wiederfinden. Den hat sie mit fünfzehn zur Welt gebracht und im jugendlichen Wahn zur sofortigen Adoption freigegeben. Bei der gewünschten Familienzusammenführung achtundzwanzig Jahre später braucht sie die Hilfe von JB und dem blinden Archivar Monsieur Blin.

Regisseur Albert Dupontel bezeichnet seine Dramödie selbst als „burlesk“. Das klingt nach Ohnsorg-Theater. Aber die schräge Mischung aus Drama und Komödie ist näher an Terry Gilliam als an Heidi Kabel. Vor allem visuell ist der Film ambitioniert. Buntes Licht und im Studio gedrehte „Außenaufnahmen“ verstärken das leicht Surreale der Geschichte. So ganz rund tickt das dramatische Uhrwerk allerdings nicht – es gibt ein paar nicht zündende Witze zu viel – doch vor allem Virginie Efira als sterbenskranke Suze bewahrt den Film, allzu sehr ins Alberne abzudriften.

Wenn Vergleiche unbedingt sein müssen, dann ist „Was Dein Herz Dir sagt – Adieu Ihr Idioten!“ eine Mischung aus „Die wunderbare Welt der Amelie“, Godards „Breathless“ und sympathisch spinnertem Kunst-Drama mit französischem Charme. So oder so ein Film abseits der Norm, erfrischend anders und deshalb sehenswert.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Adieu Les Cons“
Frankreich 2020
87 min
Regie Albert Dupontel

alle Bilder © Happy Entertainment 

DER NACHNAME

Kinostart 20. Oktober 2022

Früher war alles besser. Nein, ehrlich: Früher war wirklich alles besser. Zum Beispiel „Das Traumschiff“. Bevor das tätowierte Skelett Kapitän wurde und seine aus dem Reiseführer abgelesenen Texte mit rollendem R ins Bordmikro rülpste, gab es mal gestandene, weißhaarige Männer, die die MS Deutschland mit sicherer Hand durch alle Untiefen deutscher Fernsehunterhaltung führten. Vorbei. Spätestens mit dem Tod von Heide Keller (hat auch bei den Drehbüchern mitgeholfen) ging alle Hoffnung fahren, der marode Kahn könnte jemals wieder eine Handbreit Wasser unterm Kiel bekommen. Nicht einmal Sascha „Softsex“ Hehn hatte „Lust“ weiterzumachen.

Im Gegensatz zu den aktuellen Traumschiff-Machern weiß Sönke Wortmann ganz genau, was deutsche Zuschauer wünschen: Schöne Häuser in schönen Landschaften, von schönen Menschen bewohnt, die sich pointierte Dialogduelle liefern. Fürs gute Aussehen sind Iris „Dorian Grey“ Berben, Florian David Fitz und Janina Uhse zuständig. Für Witz und Intellekt sorgen der stets zuverlässig zynische Christoph Maria Herbst, Caroline Peters und Justus von Dohnányi. Eine Besetzung, wie sie einer guten Traumschiff-Folge würdig wäre. Und wie bei der ZDF-Serie sind auch bei „Der Nachname“ die Lösungen aller Probleme schon zwanzig Drehbuchseiten vorher zu erkennen. Macht aber nix, denn wenn man weiß, wie eine Geschichte weitergeht, kann das mitunter eine meditative Wirkung entfalten.

Wie es sich für einen guten Fernseh– Kinofilm gehört, gibt es zu Beginn erst mal eine kurze „Was bisher geschah“-Sequenz (der erste Teil „Der Vorname“ war 2018 überaus erfolgreich), um direkt danach den klassischen „Zweiter-Teil“-Drehbuchkniff anzuwenden, nämlich das Verlegen der Handlung in ein fernes Land. Im Gegensatz zur missglückten „Sex and the City 2“-Abu-Dhabisierung gelingt der Locationwechsel bei „Der Nachname“ problemlos, denn im Grunde macht es keinen Unterschied, ob die unterhaltsame Geschichte um kleinere und größere Familienstreitigkeiten auf Lanzarote oder in München spielt.

„Der Nachname“ – eine nette Komödie im besten Sinne.

INFOS ZUM FILM

Deutschland 2021
91 min
Regie Sönke Wortmann

alle Bilder © Constantin Film

HALLOWEEN ENDS

Kinostart 13. Oktober 2022

Zeit heilt alle Wunden und wenn Du nicht darüber sprechen willst, dann zünde einen Kürbis an oder schreib ein Buch. Gesagt, getan. Die ewige Screamqueen Laurie (Jamie Lee Curtis) verarbeitet ihre fast 45 Jahre währende Geschichte mit Michael Myers in selbstgetippten Memoiren, Bestseller garantiert. Vier Jahre nach den Ereignissen von „Halloween Kills“ scheint der maskierte Serienkiller spurlos verschwunden zu sein. Doch als der junge Babysitter Corey versehentlich einen kleinen (und ausgesprochen nervigen) Jungen tötet (Es war ein UNFALL, euer Ehren!), zeigt das Städtchen Haddonfield seine hässliche Fratze. Corey wird trotz Freispruchs gemobbt, wo er geht und steht. Was all das mit Michael Myers zu tun hat? Berechtigte Frage, denn es dauert eine ganze Weile, bis der in die Handlung zurückfindet und wieder das Metzelmesser schwingen darf.

Was man dem Film anrechnen muss: Trotz unzähliger Persiflagen und Kopien in den letzten Jahrzehnten ist „Halloween Ends“ ein überraschend gut funktionierendes, effektvolles Stück Horrorkino geworden. Als trashiger Slasherfilm hat er alle Zutaten, die man von diesem Genre erwarten darf: ausreichend Schockmomente, ein bisschen selbstironischen Humor, nostalgische Flashbacks auf die Anfänge der Halloween-Saga und viel, viel Blut. Auch wenn sich die Geschichte vor allem in der ersten Hälfte weit vom klassischen Halloween-Franchise entfernt und sich dabei großzügig bei allerlei anderen Horrorklassikern bedient, ist es doch erfrischend, mal einer originellen Handlung zu folgen, die mehr als das typische Abarbeiten des „Zehn kleine Jägermeister“-Klischees zu bieten hat.

Am Ende (SPOILER!) ist Michael Myers dann aber wirklich und endgültig tot. Oder?

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Halloween Ends“
USA 2022
111 min
Regie David Gordon Green

alle Bilder © Universal Pictures International Germany

DER PASSFÄLSCHER

Kinostart 13. Oktober 2022

Auf der Berlinale 2022 lief im Wettbewerb viel mediokre Kost und quälende Kunst, die besseren Filme (so wie dieser) wurden in den Nebenprogrammen versteckt. Ein Trend in Fortsetzung. Schon im vergangenen Jahr folgte das Wettbewerbsprogramm zu sehr dem Kopf und weniger dem Herzen.

Das wiederum kann man von Cioma Schönhaus nicht behaupten: Der junge Mann ist ein wahrer Herzensmensch und läuft mit bester Laune durchs Leben. Obwohl er als Jude in Nazideutschland allen Grund zur Verzweiflung hätte. Vom sogenannten 3. Reich lässt er sich die Laune aber nicht verderben.

„Der Passfälscher“ erzählt die wahre Geschichte vom begnadeten Grafiker Cioma, der dank seiner Fähigkeiten wiederholt der Gestapo entkommen und gerade noch rechtzeitig in die Schweiz entfliehen kann. Mit ausgezeichneter Besetzung (Luna Wedler, Louis Hofmann – der ausnahmsweise mal nicht blank zieht – und Jonathan Berlin) hat Regisseurin Maggie Peren einen oft vergnüglichen, im besten Sinne leichten Film über Chuzpe und Hoffnung in düsteren Zeiten gedreht. Nicht die Neuerfindung des Kinos, aber doch sehenswert.

INFOS ZUM FILM

Deutschland / Luxemburg 2022
116 min
Regie Maggie Peren

alle Bilder © X Verleih

HORIZONT

Kinostart 06. Oktober 2022

Die Jugend von heute lässt sich leicht in zwei Kategorien unterteilen: Zum einen die spaßbesessenen TikTok-Junkies, deren Leben ein einziges LIKE ist, zum anderen die betroffenen Gretas und Lisas, bei denen die Welt kurz vor dem Untergang steht. Dumme Oberflächlichkeit vs. politisches Engagement. Oder geht doch beides zusammen? Diese tiefschürfende Frage stellt Emilie Carpentiers Film „Horizont“.

Die 18-jährige Adja (das Beste am ganzen Film: Tracy Gotoas) wohnt in einem Hochhausgetto am Rande der Stadt, direkt dahinter beginnt das weite Land mit Feldern und Ackerbau. Ausgerechnet dort soll nun ein kapitalistisches Albtraumprojekt entstehen. Die Regierung plant, die Bauern zu enteignen, um den größten Freizeitkomplex Europas zu bauen. Eine Gruppe von Aktivisten hat das Ackerland besetzt und es in eine „Zone zum Schutz vor umweltschädlicher Nutzung“ verwandelt. Unter den Aktivisten ist auch Arthur, den Adja zunächst als Hippie verspottet, um sich dann natürlich doch in ihn zu verlieben…ein hübscher junger Mann mit Werten: Wer kann da schon widerstehen?

Emilie Carpentiers Film ist von guter Absicht durchdrungen, aber die aufbegehrende junge Fridays for Future-Generation wird man mit so einer Schmonzette nicht erreichen. Gut gemeint ist eben nicht gleich gut gemacht. „Horizont“ fühlt sich wie eine französische Episode von „GZSZ“ an: zu platt, zu unglaubwürdig und vor allem mit jeder Menge skizzenhaft gezeichneter Klischeecharaktere bevölkert.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „L’Horizon“
Frankreich 2021
84 min
Regie Emilie Carpentier

alle Bilder © Arsenal Filmverleih 

RIMINI

Kinostart 06. Oktober 2022

Werner Böhm und Rex Gildo können davon kein Lied mehr singen: Wenn sich Schlagerstars nicht gerade durch übermäßigen Alkoholkonsum zugrunde richten oder aus dem Badezimmerfenster springen, dann enden sie entweder im Möbelmarkt oder am Ballermann. Nicht viel besser ist das Schicksal von Richie Bravo, der muss sein Geld als Sänger in Rimini verdienen.

Die besten Jahre liegen schon lange hinter ihm, das Jackett passt nur noch mit Mieder und sein Repertoire gibt er mittlerweile in Hotelhallen zum Besten. Doch Richie weiß, was Fans (und Frauen) wünschen: viel öligen Charme und reichlich körperliche Zuwendung. So könnte das noch ewig weitergehen. Doch eines Tages steht seine erwachsene Tochter vor ihm und verlangt Geld, denn Papa hat sich seit 18 Jahren nicht gemeldet, geschweige denn Unterhalt gezahlt.

Was ist der Superlativ von deprimierend? Rimini im Winter. Eine Stimmung, die der österreichische Film von Ulrich Seidl perfekt einfängt. Trauriger Ort, trauriger Typ: Richie Bravo ist ein Wrack, er säuft und raucht Kette. Bemitleidenswerte Auftritte vor greisem Publikum wechseln sich mit wenig erbaulichen Sexszenen ab, in denen Richie ältere Damen beglückt: Fanservice der besonderen Art. Daneben erzählt „Rimini“ die wie ein Fremdkörper wirkende Nebengeschichte von Richies dementem Vater, der in einem Pflegeheim dahinvegetiert und alte Nazilieder singt. Dank grandiosem Hauptdarsteller tragisch und lustig zugleich.

INFOS ZUM FILM

Österreich / Frankreich / Deutschland 2022
114 min
Regie Ulrich Seidl

alle Bilder © Neue Visionen Filmverleih

ALLES ÜBER MARTIN SUTER. AUSSER DIE WAHRHEIT.

Kinostart 06. Oktober 2022

Die große Zeit des Martin Suter scheint vorbei, nach ein paar genialen Werken um die Jahrtausendwende waren seine letzten Bücher zunehmend banal und enttäuschten sowohl Leser als auch Kritiker. Nun hat Regisseur André Schäfer dem Schweizer Romancier ein filmisches Denkmal gesetzt, in dem – der von Suter selbst erfundene Titel lässt es erahnen – alles und nichts über den Autoren verraten wird.

In der fiktionalen Dokumentation kommen Suter und seine Weggefährten zu Wort, vermischt mit nachgestellten Szenen aus den Romanen „Small World“ und „Die dunkle Seite des Mondes“. Der Autor selbst taucht dabei als stiller Beobachter auf, sozusagen als Schöpfer, der Teil seines Werks wird. Bei der visuellen Umsetzung wird dabei nicht gerade auf die Fantasie der Zuschauer vertraut. Heißt es im von Andreas Fröhlich gesprochenen Off-Text beispielsweise: „Er zündete sich eine Zigarette an und blickte aus dem Fenster“, dann – ja genau – sieht man eben das. Meta ist das nicht. Auch von den Zwängen und Mechanismen des Autorendaseins erfährt man nicht allzu viel. Die fast fiktiv wirkende Figur des brillantinefrisierten „Mannes von Welt“ Suter bleibt so unnahbar wie eine erfundene Figur in einem Roman. Nur in wenigen Szenen, wie der mit seiner Adoptivtochter oder bei den gemeinsamen Bühnenauftritten mit Musikerfreund Stephan Eicher blitzt der Mensch Martin Suter durch.

Schwer zu sagen, ob „Alles über Martin Suter. Ausser die Wahrheit“ ein adäquates Bild des Bestsellerautors zeichnet, immerhin ist es eine unterhaltsame Annäherung an das Phänomen Suter. Dass man am Ende des Films noch mal einen der frühen Romane des Autors lesen möchte, ist ja nicht das schlechteste Zeichen.

INFOS ZUM FILM

Deutschland / Schweiz 2022
90 min
Regie André Schäfer

alle Bilder © DCM

DER BAUER UND DER BOBO

Kinostart 29. September 2022

2014 missachtet eine deutsche Touristin in den österreichischen Bergen die goldenen Top 10 der „Verhaltensregeln für den Umgang mit Weidevieh“ (Absatz 3: Mutterkühe beschützen ihre Kälber, Begegnung von Mutterkühen und Hunden vermeiden!) und muss ihren Fehler mit dem Leben bezahlen. Eine Kuh fühlt sich vom angeleinten Hund der Touristin bedroht und trampelt die Frau zu Tode. Im nachfolgenden Schadensersatzprozess wird der Halter der Kuh zu einer Geldstrafe verurteilt. Richtig so, findet seinerzeit der Journalist Florian Klenk und schreibt einen entsprechenden Artikel im Wiener „Falter“. Das wiederum bringt den Bergbauern Christian Bachler derart auf die Palme, dass er seiner Wut in einem Facebook-Video Luft macht. Frei nach dem Motto: Das bourgeoise Pack in der Großstadt hat eh keine Ahnung und sollte sich mal lieber vor Ort ein Bild vom problematischen Bauerndasein machen. Diese Einladung zum „Praktikum“ nimmt Florian Klenk umgehend an und macht sich auf den Weg zum höchstgelegenen Biobauernhof in der Steiermark.

Besetzung ist das A und O, um mal eine berühmte deutsche Regisseurin zu zitieren. Kurt Langbein hat für seinen lehrreichen und zugleich unterhaltsamen Dokumentarfilm zwei Topcharaktere gefunden: Christian Bachler (der Bauer) hat einen ausgeprägten Sinn für bisweilen derben Humor, trägt sein Herz dabei wahlweise auf der Zunge oder gedruckt auf einem seiner scheinbar unendlich vielen Motto-Shirts. Florian Klenk (der Bobo – österreichischer Slang für einen bourgeoisen Bohemien) ist ein gescheiter Mann, der Bachler mit einer Crowdfundingaktion sogar Haus und Hof retten hilft. Aus den scheinbar gegensätzlichen Männern sind schnell Freunde fürs Leben geworden. Heute kämpfen sie Seite an Seite gegen EU-Regulierungswahnsinn und Klimawandel.

Der ideale Chefredakteur, der die Arbeit aller Mitarbeiter wohlwollend kommentiert und Verbesserungsvorschläge macht, oder die Dorfgemeinschaft, die eine ausgewogene Stammtischdiskussion über das Für und Wider der neuen Zeiten in der Bergwelt führt: Ein paarmal beschleicht einen bei Kurt Langbeins Film das Gefühl, inszenierten Szenen zuzuschauen. Aber manches muss wohl für die Kamera vereinfacht nachgestellt werden. Von diesen kleinen Unstimmigkeiten abgesehen, ist „Der Bauer und der Bobo“ ein mit Leichtigkeit erzählter Film, der empathische Zuschauer trotz aller Komik an der Gier und Ignoranz der Menschheit verzweifeln lassen wird. Es kann gar nicht genug solcher Filme geben.

INFOS ZUM FILM

Österreich 2022
96 min
Regie Kurt Langbein

alle Bilder © 24 Bilder

PETER VON KANT

Kinostart 22. September 2022

François ❤️ Rainer Werner. Nach der kongenialen Verfilmung des Fassbinder-Theaterstücks „Tropfen auf heiße Steine“ (2000) feierte in diesem Jahr Ozons Interpretation des 1972 entstandenen Films „Die bitteren Tränen der Petra von Kant“ Premiere bei der Berlinale.

Peter von Kant ist ein erfolgreicher Filmregisseur und ein echtes Scheusal. Seinen stummen Diener und Assistenten Karl behandelt er wie Dreck. Eines Tages lernt er den jungen Amir kennen. Peter verliebt sich unsterblich in den sexy 24-Jährigen. Er will Amir eine Karriere im Filmgeschäft ermöglichen, lädt ihn ein, bei sich zu wohnen. Neun Monate später ist aus dem schüchternen Jungen ein manipulativer, launischer Star geworden, der sich bald darauf von Peter trennt. Der Regisseur leidet.

„Peter von Kant“ ist ein echter Ozon – stilsicher, artifiziell und ungewöhnlich. Anders als in Fassbinders Film ist hier die Titelrolle männlich besetzt. Das beschert der Geschichte vom cholerischen Filmregisseur eine neue Ebene, denn Peter von Kant ist ganz offensichtlich dem echten Fassbinder nachempfunden. Hanna Schygulla, die auch im Original mitspielt, hat hier einen Gastauftritt als Mutter des Regisseurs. Die Titelrolle ist mit Denis Ménochet besetzt, der bereits zweimal für Ozon vor der Kamera stand.

Dramatisches Theater: François Ozon hat ein etwas zu wortreiches (weniger euphemistisch: geschwätziges), aber ausgezeichnet gespieltes Kammerspiel inszeniert.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Peter von Kant“
Frankreich 2021
84 min
Regie François Ozon

alle Bilder © MFA+ FilmDistribution

ATLANTIDE

Kinostart 08. September 2022

Bunt beleuchtete Motorboote fahren mit lauter Musikbeschallung durch nächtliche venezianische Kanäle. Das sieht zwar hübsch aus, ist für die Anwohner aber wahrscheinlich genauso enervierend wie die monströsen Kreuzfahrtschiffe, die bis vor Kurzem viel zu dicht an der Lagunenstadt vorbeiziehen durften. Regisseur Yuri Ancarani hat sich der eigenwilligen Szene aus jungen Männern und ihren Speedbooten drei Jahre lang angeschlossen und einen semi-dokumentarischen Film über sie gedreht.

„Atlantide“ könnte auch als Videoinstallation in einer Galerie oder als visuelle Begleitung einer Trance/Technoparty laufen. Dieser Stil kommt nicht von ungefähr, Yuri Ancarani ist ein italienischer Künstler, der sich komplett einer klassischen  Dramatik verweigert. Damit erinnert sein Film an Arbeiten des US-Regisseurs Larry Clark. Auch hier ist die Handlung eher eine dahingestreute Skizze von Liebe, Sehnsucht und Tod. Weil man es kaum besser beschreiben könnte, hier ein Auszug aus dem Pressetext:

„Dies ist kein Film über Venedig (…), sondern über seine „Backstreets“, die weiten Wasserwege der Lagune. Ancarani findet dort die seltene Schönheit einer kristallklaren Landschaft, die von einer Gruppe junger Leute bewohnt wird, deren Lebensinhalt es ist, Speedboote aufzumotzen und in einem Rhythmus aus Adrenalin und Chill-out zu leben.“

„Im Rhythmus aus Adrenalin und Chill-out leben“! Wer will das nicht? Weniger lyrisch ausgedrückt: „Atlantide“ ist ein audio-visuelles Erlebnis, ein softer LSD-Trip, untermalt von einem treibenden elektronischen Soundtrack, Hip-Hop und symphonischer Orchestermusik. Die stärkste Szene des Films (siehe Trailer unten) zeigt ein junges Mädchen, das im Drogenrausch auf einem Schnellboot durch das nächtliche Venedig gefahren wird und sich dazu ekstatisch bewegt. Aufregender wird es auch in den restlichen 100 Minuten nicht, darauf muss man sich einlassen wollen.
Jetzt noch mal in poetisch: „Atlantide“ ist ein kunstvoller Fiebertraum aus Musik, Licht und Farben.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Atlantide“
Italien / Frankreich / USA / Qatar 2021
104 min
Regie Yuri Ancarani

alle Bilder © Rapid Eye Movies