Cocaine Bear

COCAINE BEAR

Cocaine Bear

COCAINE BEAR

Ab 13. April 2023 im Kino

Hält, was der Titel verspricht: Ein Bär auf Koks

Kokain bewirkt im Zentralnervensystem eine Stimmungsaufhellung, ein Gefühl gesteigerter Leistungsfähigkeit sowie das Verschwinden von Hunger- und Müdigkeitsgefühlen. Weiss Wikipedia.

Trash mit Budget

Alles soweit richtig. Nur das mit dem Verschwinden des Hungergefühls stimmt nicht ganz. Schließlich zernagt der zugekokste Titelheld in Elisabeth Banks Horror-Creature-Komödie reihenweise Opfer. Eine wahre Geschichte: 1985 schmeißt Andrew Carter Thornton säckeweise Koks aus einem Flugzeug, die wertvolle Fracht landet zwischen Fauna und Flora in den Wäldern Georgias. Eine Bande Drogenschmuggler macht sich auf die Suche nach dem weißen Pulver – nicht ahnend, dass ihnen ein Schwarzbär zuvorgekommen ist und bereits Geschmack an der Droge gefunden hat. Völlig druff tobt er durch den Wald und beißt nieder, was sich ihm und seiner neuen Sucht in den Weg stellt.

Hält, was der Titel verspricht: COCAINE BEAR ist ein Trashfilm – aber mit Budget. Vollkommen blödsinnig, gerade deshalb unterhaltsam. Und immerhin mit Ray Liotta in einer seiner letzten Rollen. Vor allem für die Szenen, in denen der (von Weta computeranimierte) Bär mitspielt, lohnt sich der Spaß. Das ist herrlich blutig und besonders ein Gemetzel in einem Krankenwagen ist zum Einrollen schrecklich. Noch lustiger wäre das Ganze wahrscheinlich nur, wenn man sich selbst vorher eine fette line gelegt hätte.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Cocaine Bear“
USA 2021
95 min
Regie Elisabeth Banks

alle Bilder © Universal Pictures International Germany

AIR – DER GROSSE WURF

AIR – DER GROSSE WURF

Ab 06. April 2023 im Kino

Warum der neue Film von und mit Ben Affleck so gut ist

Ein Film über die Vermählung von Nike mit Michael Jordan. Turnschuh trifft Rookie. Ben Affleck führt Regie. Klingt nach einem Kinoerlebnis, das sich allenfalls Sneaker Fanatiker herbeisehnen. Doch manchmal hauen einen genau die Filme um, von denen man gar nichts erwartet. Was Ben Affleck hier abliefert, ist ein perfekter Slam Dunk.

Ein Feelgood Movie für alle

In den letzten Jahren wäre vor lauter Jlo, Sad ‘ffleck Memes und Dunkin’ Donuts Kaffee-Paparazzi-Promenieren in Pacific Palisades (Ben mit dem Kaffeebecher der Fettgebäck-Kette vor seiner Haustüre war ein vielfach verbreitetes Fotomotiv während des Covid-Lockdowns) beinahe in Vergessenheit geraten, was für ein begabter Regisseur der Mann ist. Wie herzerwärmend die Chemie immer noch zwischen seinem Jugendfreund Matt Damon und ihm funktioniert, wie instinktsicher er seine Mannschaft zu Höchstleistungen dirigieren kann, ohne dass es in Over-Acting endet.

Die Geschichte ist bekannt, vielleicht nicht jedem im Detail: Es sind die 80er, Marktführer Adidas und Converse stehen bei den Kids hoch im Kurs und Nike kann als biederer Joggingschuh kaum punkten. Bis Basketball-Nerd Sonny Vaccaro (Matt Damon hervorragend als verplauzter Nike Manager) gegen die Vorbehalte von Nike Boss Phil Knight (Ben Affleck genau richtig zwischen verkauzt und berechnend) das gesamte Marketingbudget auf einen jungen Ausnahmespieler setzt, um die Konkurrenz endlich mit Coolness zu besiegen.

Die Verhandlungen sind zäh, der Film ist alles andere. Schlagfertige Dialoge wechseln sich ab mit magnetisierenden Ultra-Closeups, die Entscheidung, Michael Jordan immer nur von hinten zu zeigen, statt einen Method Actor zu besetzen sehr schlau, denn überhaupt geht es hier nicht um die NBA Ikone, sondern seine Mutter. Eine umwerfende Viola Davis diktiert als Deloris Jordan dem Weltkonzern neue Regeln. Ja, die omnipräsente 80er-Jahre Mucke ist sehr hitparadenorientiert, doch passt zur sentimentalen Absicht Afflecks. Ein Feelgood Movie für alle.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Air“
USA 2023
112 min
Regie Ben Affleck

alle Bilder © Warner Bros. Pictures Germany

DIE KAIRO VERSCHWÖRUNG

DIE KAIRO VERSCHWÖRUNG

Kinostart 06. April 2023

Während unsereins in jungen Jahren vielleicht davon träumt, mal in Oxford oder Cambridge zu studieren, ist für einen echten Muslim die Azhar-Universität in Kairo das höchste der Gefühle. Adam (Tawfeek Barhom), Sohn eines einfachen Fischers, hat es geschafft: Er erhält ein Stipendium für das renommierte Institut. Kaum ist er dort eingetroffen, stirbt das Oberhaupt der Universität, der Großimam. Es beginnt ein Kampf um seine Nachfolge. Der dubiose Regierungsbeamte Ibrahim (Fares Fares) rekrutiert Adam als Informanten für die ägyptische Stasi, denn der Geheimdienst will seinen Wunschkandidaten zum neuen Großimam wählen lassen. Adam gerät nicht nur zwischen die Fronten der religiösen und politischen Eliten des Landes, sondern bald auch in Lebensgefahr.

Mehr Arthouse- als Actionkino

Verrat! Intrige! Mord! Alle Zutaten für einen handfesten Thriller sind vorhanden. Und doch ist „Boy from Heaven“ (so der Originaltitel) ganz anders als die übliche Krimikost. Die Geschichte erinnert an eine nahöstliche Interpretation von Ecos „Der Name der Rose“: Ein junger, naiver Lehrling und sein Ziehvater versuchen einen mysteriösen Kriminalfall zu lösen.

Tarik Salehs spannender Politthriller hat einen reißerischen deutschen Titel, gibt aber einen ruhigen, fast dokumentarischen Einblick in eine dem westlichen Auge verschlossene Welt. Das ist mehr Arthouse- als Actionkino. Im Wettbewerb des Festivals de Cannes 2022 gewann „Die Kairo Verschwörung“ den Preis für das „Beste Drehbuch“.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Boy from Heaven“
Schweden /  Frankreich / Finnland 2022
125 min
Regie Tarik Saleh

alle Bilder © X Verleih

MANTA MANTA – ZWOTER TEIL

MANTA MANTA – ZWOTER TEIL

Kinostart 30. März 2023

Lieber Til Schweiger, wir müssen reden. Nicht darüber, dass Sie sich seit Jahren weigern, ihre Filme vor dem Kinostart Kritikern zu zeigen. Das ist in Ordnung. Es wäre sogar besser gewesen, wenn Sie es auch diesmal dabei belassen hätten. Nein, die beleidigte Leberwurst im Kaschmirpulli steht Ihnen gut und das bösartige Geschreibsel brauchen Sie sich wirklich nicht antun. Auch dass in ihrem neuen Werk nicht die parabelhaften Fragen nach Familienpolitik, Emanzipation und motorischer Regression aufgegriffen werden – geschenkt. Worüber wir reden müssen, ist der ausgestreckte Mittelfinger, den Sie mit MANTA MANTA – ZWOTER TEIL allen Zuschauern ins Gesicht strecken.

In jeder Hinsicht grottenschlecht

Selbst mit größter Offenheit für Klamauk und tiefergelegter Erwartungshaltung: Ihr neuer Film ist in jeder Hinsicht grottenschlecht. Nicht komisch, nicht kultig und dabei auch noch handwerklich fragwürdig. Sie werden im Vorspann als Regisseur, Produzent, Drehbuchautor und Editor genannt. War es also Ihre Idee, jede noch so belanglose Szene in epileptischer Frequenz zu zerhackstücken? Sind die Zeiten des unheilvollen „MTV-Schnitts“ nicht schon seit den 90ern vorbei? Und ja, eine alte Filmweisheit lautet: Anschluss gibt’s am Bahnhof. Das haben Sie sich offensichtlich zu Herzen genommen. Aber: Das war als Witz gemeint.

Apropos Witz: Nur weil Schauspieler beim Dreh eine gute Zeit haben, wird ein Film nicht automatisch lustig. Humor bedeutet nicht, anderen beim Lachen zuzuschauen. Wenigstens sind Sie um Nachhaltigkeit bemüht und recyceln artig – den Scherz mit den vollgepinkelten Stiefeln gab es schon im ersten Teil. So was nennt man wohl Fanservice. Auch Ihrer Vorliebe, Szenen mit zu laut abgemischter Kitschmusik zu unterlegen, um so nicht vorhandene Emotionen zu erzeugen, sind Sie treu geblieben. Leider.

Trotzdem viel Erfolg. Vielleicht gibt es genügend Fans, die über die letzten 30 Jahren vergessen haben, dass MANTA – DER FILM (mit Helge Schneider), und nicht MANTA, MANTA! (mit Ihnen) eine Fortsetzung verdient hätte.

INFOS ZUM FILM

Deutschland 2023
126 min
Regie Til Schweiger

alle Bilder © Constantin Film

DER GYMNASIAST

DER GYMNASIAST

Kinostart 30. März 2023

„Mein Leben ist zu einem wilden Tier geworden, das mich beißt, wenn ich ihm zu nahe komme.“
Internatsschüler Lucas (niedlich: Paul Kircher) ist traumatisiert. Seit dem tödlichen Autounfall seines Vaters ist seine Familie von Trauer überwältigt. Als ihn sein Bruder Quentin einlädt, ein paar Tage nach Paris zu kommen, ändert sich für den 17-Jährigen alles. DER GYMNASIAST ist eine sehr persönliche Erzählung des Regisseurs Christophe Honoré, in dem er den frühen Tod seines eigenen Vaters verarbeitet.

L'art pour l'art

Erst mal das Positive: die Schauspieler! Allein Juliette Binoche (immer toll), Vincent Lacoste und Erwan Kepoa Falé sind Grund genug, sich die über zweistündige Trauerarbeit der Familie Ronis anzuschauen. Vor allem aber der junge Paul Kircher ist eine Entdeckung. Er trägt den Film, spielt authentisch und glaubwürdig den schwulen Teenager, dem der Boden unter den Füßen wegbricht. Beim Filmfestival von San Sebastian gab es dafür bereits einen Preis als bester Hauptdarsteller.

Und sonst? Großaufnahmen, Zeitraffer, wackelige Kamera: L’art pour l’art – der Film ist voller Kunstgriffe ohne tieferen Sinn. Mehr irritierend als erhellend ist eine Art gefilmtes Voiceover, in dem Lucas redundant in die Kamera spricht, was sich auch so durch die Handlung erschließt. Das lenkt vom Wesentlichen ab und erzeugt unnötige Längen. LE LYCÉEN – ein französisches Drama, vor allem wegen der Besetzung sehenswert.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Le Lycéen“
Frankreich 2022
122 min
Regie Christophe Honoré

alle Bilder © Salzgeber

THE ORDINARIES

THE ORDINARIES

Kinostart 30. März 2023

Das ganze Leben ist ein Film: Menschen sind entweder Hauptfiguren, Nebenfiguren oder – geächtete – Outtakes. In diesem bizarren Paralleluniversum hat Paula die wichtigste Prüfung ihres Lebens vor sich: Sie muss beweisen, dass auch sie das Zeug zur Hauptfigur hat. Als Klassenbeste in Cliffhanger, Zeitlupe und panischem Schreien bringt sie eigentlich beste Voraussetzungen mit. Um noch emotionaler spielen zu können, sucht sie nach „Flashbacks“ von ihrem Vater, der vor vielen Jahren bei einem Massaker ermordet wurde. Doch sein Name ist aus allen Datenbanken gelöscht. War ihr Vater wirklich eine strahlende Hauptfigur, die den Heldentod starb?

Science-Fiction-Comedy-Musical-Drama

Eine verwöhnte, ignorante Oberschicht und das einfache Volk, das in eingezäunten DDR-Gettos haust – das Setting erinnert an Terry Gilliams Dystopieklassiker BRAZIL, wild gemixt mit der künstlichen 50er-Jahre-Welt der TRUMAN SHOW. Nur dass die Ordinaries-Protagonisten nicht irgendwann aus der Kulisse treten und sich in der Realität wiederfinden.

Mehr Mut zum Schnitt! Denn die etwas dünne Story ermüdet auf Dauer mit Wiederholungen. Regisseurin Sophie Linnenbaum hat eine Kurzfilmidee auf 120 Minuten gestreckt. Dafür punktet das Science-Fiction-Comedy-Musical-Drama mit Ausstattung, skurrilen visuellen Einfällen und originellen Details. So gibt es zum Beispiel „Fehlbesetzungen“ wie das Hausmädchen, dass von einem verlebten Mann gespielt wird. Oder Paulas Mutter, die als Nebenfigur nur über einen begrenzten Wortschatz verfügt: „Ich habe mir Sorgen gemacht. Ich bin stolz auf dich“ lauten ihre monoton heruntergebeteten Drehbuchphrasen.

THE ORDINARIES ist (über)-ambitioniertes, teils clever gemachtes Genrekino aus Deutschland. Auszeichnungen gab es bereits reichlich: unter anderem den First Steps Award und diverse Publikumspreise. Ein nicht durchweg überzeugendes Spielfilmdebüt, das trotz Längen neugierig auf die nächsten Arbeiten der Regisseurin macht.

INFOS ZUM FILM

Deutschland 2022
120 min
Regie Sophie Linnenbaum

alle Bilder © notsold und Port au Prince Pictures

SISI UND ICH

SISI UND ICH

Kinostart 30. März 2023

Sisi hier, Sisi da, Sisi wo man hinschaut. Ihre kaiserliche Omnipräsenz gibt sich schon wieder die Ehre. Neben diversen Netflix- und RTL-Serien war zum Thema zuletzt der österreichische Oscarbeitrag CORSAGE im Kino zu sehen.

Wilde Neuinterpretation des vielerzählten Mythos

Irma Gräfin von Sztáray bewirbt sich als Hofdame von Kaiserin Elisabeth von Österreich-Ungarn. Doch das Casting ist nicht ohne: Erst schlägt ihr die gestrenge Mutter die Nase blutig, dann wird sie wie ein Stück Vieh untersucht und verhört. Endlich auserwählt, kommen sich die Gräfin und die Kaiserin auf Sisis Sommersitz auf Korfu schnell nah.

SISI UND ICH ist all das, was CORSAGE gerne gewesen wäre. Eine wilde Neuinterpretation des vielerzählten Mythos. Grotesk und sehr komisch. Susanne Wolff und Sandra Hüller sind schlichtweg grandios, Locations und Kostüme erlesen, und das Ganze wird von einem überraschend modernen Soundtrack zwischen Nico und Portishead begleitet. Sehr gelungen.

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Deutschland / Schweiz / Österreich 2023
132 min
Regie Frauke Finsterwalder

alle Bilder © DCM

SICK OF MYSELF

SICK OF MYSELF

Kinostart 23. März 2023

Thomas, der Dieb. So lautet die Überschrift eines Artikels in einer angesagten Kunstzeitschrift. Und genau das ist er: Ein Dieb, der aus geklauten Designermöbeln Kunst macht. Damit hat er Erfolg und das wiederum passt seiner Freundin Signe gar nicht. Sie ist neidisch. Doch Neid macht erfinderisch: Im Internet findet sie dubiose russische Pillen, die als Nebenwirkung schwere Hautirritationen auslösen. Signe schmeißt gleich ganze Packungen davon ein. Ihr Plan geht auf. Sie wird mit Mitleid überschüttet, in den Medien wird von ihrer mysteriösen Krankheit berichtet, und sogar Thomas entschuldigt sich. Aber dann läuft die ohnehin schon schlimme Geschichte komplett aus dem Ruder.

Der Vergleich mit Ruben Östlund drängt sich auf

Eine beißende Gesellschaftssatire aus Skandinavien – da drängt sich der Vergleich mit Ruben Östlund auf, der zuletzt mit TRIANGLE OF SADNESS das Publikum herausgefordert und gespalten hat. Viel gekotzt wird in SICK OF MYSELF (sic!) natürlich auch, denn sich in Filmen übergeben ist das neue Schwarz.

Die Idee ist gut: das um Aufmerksamkeit buhlende Paar, das sich mit immer neuen Sensationen gegenseitig die Butter vom Brot nehmen will. Im Gegensatz zu Östlund bleiben die Figuren in SYK PIKE („Krankes Mädchen“, so der Originaltitel) allerdings durchweg unsympathisch. Das erschwert das Mitleiden. Borgli zeichnet ein vernichtendes Bild von einer zunehmend egozentrischen Gesellschaft. Ein Superlativ kann SICK OF MYSELF schon mal für sich beanspruchen: Es ist mit Sicherheit die unromantischste Komödie des Jahres.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Syk Pike“
Norwegen 2022
95 min
Regie Kristoffer Borgli

alle Bilder © MFA+

LARS EIDINGER – SEIN ODER NICHT SEIN

LARS EIDINGER – SEIN ODER NICHT SEIN

Kinostart 23. März 2023

Ein eitler Fatzke. Typischer Schauspieler. Ein Genie. Neutral stehen die wenigsten Lars Eidinger gegenüber. Dass er gut ist, darauf können sich fast alle einigen. Doch immer wieder verstören seine emotionalen Auftritte und seine Sucht, im Mittelpunkt zu stehen. Oder ist das auch nur ein böses Klischee? Nach seinem inzwischen legendären Tränenausbruch bei einer Berlinale-Pressekonferenz wurde er mit Hasskommentaren und hämischen Artikeln im Feuilleton überschüttet. Da könnte man schon fast Mitleid bekommen, wenn nicht Eidinger selbst in einem Interview gesagt hätte, dass er sich stets der Kameras und Zuschauer bewusst ist. „Ich bin gar nicht da, wenn mich keiner anschaut.“ Also doch alles nur Show?

Lars Eidinger spielt Lars Eidinger

Privat sei er ganz anders, zurückhaltend und still, so sein Freund Thomas Ostermeier. Der holt ihn 1999 an die Schaubühne. Spätestens mit Hamlet und Richard III wird das Regie/Schauspiel-Duo weltberühmt. Für Eidinger folgen Rollenangebote in internationalen Spielfilmproduktionen. Heute ist er einer der gefragtesten deutschen Schauspieler.

Reiner Holzemer hat Lars Eidinger neun Monate mit der Kamera begleitet. Als Rahmen dient die Probenarbeit für die Jedermann-Inszenierung bei den Salzburger Festspielen 2021. Hier kommt es auch zu einer erinnerungswürdigen Szene: Eidinger ist gerade in einen Monolog versunken, da wagt es Regisseur Michael Sturminger leise mit einer Kollegin zu sprechen. Eidinger rastet komplett aus, die anderen im Raum senken betreten den Blick zu Boden, der Regisseur versucht sich zu rechtfertigen. Im Interview antwortet Eidinger später auf die Frage, ob ihm bei dem Streit auch bewusst war, dass die Kamera läuft mit einem lapidaren „Ja“. So weit, so unsympathisch. 

Lars Eidinger spielt Lars Eidinger, der Lars Eidinger spielt. Sein Werdegang von der Ernst Busch-Schule bis zum gefeierten Schauspielstar und Holzemers Blick auf seine oft unkonventionelle Arbeitsweise sind interessant, doch am stärksten bleiben die Theatermitschnitte, in denen Eidinger das macht, was er am besten kann: schauspielern.

INFOS ZUM FILM

Deutschland 2023
92 min
Regie Rainer Holzemer

alle Bilder © FILMWELT

DIE FABELMANS

DIE FABELMANS

Kinostart 09. März 2023

Steven Spielberg ist in Hochform und keiner will es sehen. Wie schon zuletzt seine Neuverfilmung der WEST SIDE STORY ist auch DIE FABELMANS an den amerikanischen Kinokassen gefloppt. Filme für Erwachsene funktionieren nicht mehr, unkt die US-Presse. Dabei sollte man gerade Filme wie DIE FABELMANS im Kino auf der großen Leinwand sehen. Nicht nur wegen Janusz Kamińskis magischen Bildern, sondern weil die 151 Minuten lange Kindheits- und Jugenderinnerung Spielbergs einen Sog entfaltet, dem man sich ohne Ablenkung hingeben muss.

Michelle Williams wird als Kandidatin für den Oscar gehandelt

Cecil B. DeMilles THE GREATEST SHOW ON EARTH öffnet dem kleinen Sam die Augen, besonders eine Kollisionsszene mit zwei Zügen und einem Auto. Zu Hause stellt er das Unglück mit Spielzeug nach. Seine Mutter bringt ihn auf die Idee, das Ganze zu filmen, damit er es sich so oft ansehen kann, wie er will. Voilà. Das erste Werk des Jungregisseurs ist fertig. In immer aufwändigeren Produktionen setzt er bald seine Schwestern und Freunde in Szene. Während sich seine Eltern mehr und mehr auseinanderleben, hat Sam Fabelman seine Bestimmung gefunden: das Filmemachen.

Großartig: Gabriel LaBelle als junger Sammy Fabelman aka Steven Spielberg und Judd Hirsch in einer Gastrolle als schräger Onkel Boris. Michelle Williams, die die Mutter spielt, wird als Kandidatin für den Oscar gehandelt. Für ihre Gesamtleistung hätte sie es verdient, obwohl sie in manchen Szenen dermaßen überdreht spielt, dass man sich fragt: Ist das noch Schauspielkunst oder schon Overacting?

Im Januar diesen Jahres gewann THE FABELMANS den Golden Globe als bestes Drama. Er habe sich lange nicht getraut, so eine persönliche Geschichte zu erzählen, sagt der Regisseur bei der Preisverleihung. Quatsch, denn den viel persönlicheren Film über die Ängste seiner Kindheit hat er schon vor 40 Jahren gedreht: ET.

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Originaltitel „The Fabelmans“
USA 2022
151 min
Regie Steven Spielberg

alle Bilder © Universal Pictures International Germany

ALLE WOLLEN GELIEBT WERDEN

ALLE WOLLEN GELIEBT WERDEN

Kinostart 08. März 2023

Pünktlich zum internationalen Frauentag gibt es einen Film aus der Kategorie: Was hätten wohl die Franzosen aus diesem Stoff gemacht? Wahrscheinlich eine federleichte Sommer-Komödie mit viel Herz und Charme. Wir Deutschen gehen da anders ran – problembewusster.

Kinder nerven und Eltern sowieso

Ein langer Tag im Leben der Psychotherapeutin Ina. Ihre egozentrische Mutter feiert 70sten Geburtstag, ihre Tochter hat pubertierend dauerschlechte Laune und ihr Freund will unbedingt nach Norwegen auswandern. Mittendrin Ina, die es allen recht machen will. Bei dem ganzen Stress kein Wunder, dass sie sich in letzter Zeit so schlecht fühlt.

Katharina Wolls Kinodebüt ALLE WOLLEN GELIEBT WERDEN beschäftigt sich mit dem Druck, der auf modernen Frauen lastet. Einerseits Haushalt führen und fürsorgliche Mutter sein, andererseits Karriere machen und die Familie managen – widersprüchliche Erwartungen, die großes Konfliktpotenzial bergen. Doch Wolls Film kratzt nur an der Oberfläche, befriedigt weder als Komödie noch als Drama.

Auch Bildungsbürger mit gut bezahlten Berufen, Neuwagen und schönen Wohnungen haben es nicht leicht, ja ja. Am Ende steht kein Erkenntnisgewinn, außer, dass Kinder nerven und Eltern sowieso. Das beste Argument für ALLE WOLLEN GELIEBT WERDEN ist die tolle Hauptdarstellerin Anne Ratte-Polle, die ihre Rolle mit leiser Ironie spielt und bei all der Qual fast bis zum Ende bewundernswert die Haltung wahrt.

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Deutschland 2022
80 min
Regie Katharina Woll

alle Bilder © Camino

SONNE UND BETON

SONNE UND BETON

Kinostart 02. März 2023

Berlin, Sommer 2003: Lukas, Julius, Gino und Sanchez – vier Jungs, die jede Menge Scheiß bauen und denen jede Menge Scheiß widerfährt. Muss das sein, diese vulgäre Sprache? Ja, denn in „Gropius“ aufzuwachsen ist nichts für Weicheier. Gangster oder Opfer. Hier gilt: Der Klügere tritt nach. An Drogen und Schlägereien kommt keiner vorbei. Die Sprache ist so rau wie die vier minderjährigen Kleingangster, die dringend 500 € klar machen müssen, sonst gibts Schläge von den Arabern.

Irgendwo zwischen EIS AM STIEL und 4 BLOCKS

Digger, ich schwöre, ich zerficke dir dein Gesicht. Herzige Dialoge wie dieser werfen die interessante Frage auf: Haben Jugendliche in den Nuller-Jahren wirklich schon derart penetrant gediggert wie heute? Dass mittlerweile 10-Jährige „Diggi“ schwafelnd durch die Straßen laufen, schlimm genug. Aber vor 20 Jahren? Man kann sich bei der Gelegenheit ohnehin fragen, weshalb Regisseur David Wnendt die Geschichte nicht in die Jetztzeit verlegt hat. Altmodische Handys und ein paar Nachrichtenbilder von Kanzler Schröder sind die einzigen Hinweise auf die Anfang-Tausender und haben keinen echten Mehrwert.

Felix Lobrecht zählt zu den gefeiertsten Comedians des Landes, füllt mit seinen Shows die größten Stadien und „Gemischtes Hack“ hat sowieso jeder schon einmal gehört, der sich für Podcasts interessiert. Die massenkompatible Verfilmung seines Bestsellers SONNE UND BETON liegt irgendwo zwischen EIS AM STIEL und 4 BLOCKS für Jugendliche. Bisschen doof, bisschen nervig, trotzdem lustig und sehr kurzweilig.

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Deutschland 2023
119 min
Regie David Wnendt

alle Bilder © Constantin Film Verleih

DER ZEUGE

DER ZEUGE

Kinostart 02. März 2023

Carl Schrade, ein ehemaliger Juwelenhändler, der jahrelang in verschiedenen Konzentrationslagern gefangen gehalten wurde, sagt als Kronzeuge vor einem US-Militärgericht gegen seine Peiniger aus. Auf der Anklagebank sitzen SS-Männer, NSDAP-Funktionäre und Ilse Koch, die Frau des berüchtigten KZ-Kommandanten Karl Koch.

Fast nüchtern werden die Gräueltaten der Nazis nacherzählt

DER ZEUGE basiert auf realen Gerichtsprotokollen. Regisseur Bernd Michael Lade stellt in seinem Prozess-Drama Täter- und Opferaussagen gegenüber. Fast nüchtern werden die Gräueltaten der Nazis nacherzählt, die zum Tod von Millionen Menschen in den Konzentrationslagern führten.

Lade setzt auf Realismus und lässt die Aussagen der Protagonisten von Anfang bis Ende übersetzen. Ganz so, wie es in den Gerichtsprotokollen geschrieben steht. Spricht ein Angeklagter Deutsch, so wird seine Aussage von einer Übersetzerin auf Englisch wiederholt. Umgekehrt werden die englischen Zeugenaussagen ins Deutsche übersetzt. Wort für Wort, Satz für Satz. Das erfordert Geduld. Natürlich wäre es kein Problem gewesen, spätestens nach fünf Minuten den üblichen Crossfade zu machen und alle Figuren in einer Sprache sprechen zu lassen. Oder Untertitel. Doch solchen filmischen Tricks verweigert sich der Regisseur, um „mit einem inneren Widerhall die Aussagen fühlbar zu machen.“ Für den Zuschauer anstrengend, aber immerhin konsequent durchgezogen.

Bernd Michael Lade selbst spielt die Hauptrolle, seine Ex-Ehefrau Maria Lade gibt mit blecherner Transistorradiostimme die Übersetzerin, der gemeinsame Sohn Jonathan agiert als Statist im Hintergrund, neben ihm sein Halbbruder Ludwig Simon. Ein Kammerspiel mit Familienbesetzung, das noch viele Schülergenerationen im Geschichtsunterricht begleiten wird.

INFOS ZUM FILM

Deutschland 2022
93 min
Regie Bernd Michael Lade

alle Bilder © Neue Visionen

TÁR

TÁR

Kinostart 02. März 2023

Dass Cate Blanchett unlängst Filmpreisverleihungen als „Pferderennen“ kritisierte, ist alles andere als Neid einer Besitzlosen. Für ihre Titelrolle in dem Musikdrama TÁR bereits bei den Golden Globes und der Biennale als beste Darstellerin ausgezeichnet, ist die 53-Jährige erneut vielversprechende Anwärterin auf den Oscar.

Aufstieg und Fall einer Diva

Das Werk erzählt die fiktive Geschichte von Lydia Tár, die als erste Chefdirigentin der Berliner Philharmoniker das Vorspielen weiblicher Talente mit ihren privaten Interessen vermischt. Dieser Machtmissbrauch schadet auf Dauer sowohl ihrer ehelichen Beziehung zu Violinistin Sharon als auch ihrer einmaligen Karriere.

Die anspruchsvolle Rolle ist Cate Blanchett auf den Leib geschrieben, sie dominiert den Film. Ganze 158 Minuten lang. TÁR ist in vielerlei Hinsicht anzumerken, dass Todd Field in seiner dritten Regiearbeit nach 16-jähriger Schaffenspause ein immenses Mitteilungsbedürfnis hat: Künstlerporträt, #MeToo-Thematik, konzertantes Making-of, Selbstmord, Schulhofmobbing, Altersarmut – um nur einige Themen zu nennen. Das Ganze inszeniert in vermeintlich originalem Berliner Lokalkolorit zwischen vermülltem Neuköllner Hinterhof und stylish komponiertem Waschbeton-Refugium. Dazu Gustav Mahlers fünfte Symphonie und zeitgenössische Kompositionen von Hildur Guðnadóttir sowie eine Riege von Co-Darstellern, die das Universum der Lydia Tár bevölkern: Noémie Merlant, Julian Glover, Nina Hoss als erste Geige und vor allem viele echte Orchestermusiker.

Ein intellektuell anspruchsvoller Film, der beachtlichen Erfolg bei der Kritik, mutmaßlich weniger beim unterhaltungsaffinen Publikum haben dürfte. Dafür bietet TÁR buchstäblich zu viel des Guten.

Text: Anja Besch

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „TÁR“
USA 2022
158 min
Regie Todd Field

alle Bilder © Universal Pictures International Germany

WANN WIRD ES ENDLICH WIEDER SO SEIN, WIE ES NIE WAR

WANN WIRD ES ENDLICH WIEDER SO SEIN, WIE ES NIE WAR

seit 23. Februar 2023 im Kino

Eine etwas andere Kindheit: Josse wächst auf dem Gelände einer psychiatrischen Klinik auf. Für den jüngsten Sohn von Direktor Meyerhoff (Devid Striesow) gehören die körperlich und geistig Behinderten quasi zur Familie. Am besten schläft er, wenn er nachts die Schreie der Patienten hört. Vielleicht weil er selbst immer wieder Tobsuchtsanfälle bekommt. Dann setzen ihn die Eltern auf die Waschmaschine. Das Schleudern beruhigt den hypersensiblen Jungen.

Ergreifend und voll absurder Momente

Kann man die mittlerweile fünf autobiografischen Romane Joachim Meyerhoffs überhaupt verfilmen? Ja, man kann. Komisch, ergreifend und voll absurder Momente: Sonja Heiss hat die 70er-Jahre Stimmung des zweiten Bands der Lebenserinnerungen des Schauspielers punktgenau eingefangen. Dabei sind die Figuren nicht einmal so besetzt, wie man sich das vielleicht beim Lesen vorstellt. Aber dank der stimmigen Inszenierung und dem hervorragenden Spiel taucht man schnell in die Welt der schrägen Familie ein.

Joachim Meyerhoff erzählt in seinen Büchern keine klassisch aufgebaute Geschichte, sondern reiht Erinnerungen und Begebenheiten lose aneinander. Kleiner Wermutstropfen: Der Stoff hätte locker für eine Fernsehserie gereicht. Ganze viermal wechselt der Schauspieler des Josse: vom Kind zum Teenager bis zum jungen Mann. Das geht dann doch ein bisschen zu schnell. Trotzdem: WANN WIRD ES ENDLICH WIEDER SO, WIE ES NIE WAR ist die gelungene Verfilmung eines unverfilmbaren Buchs, hoffentlich mit Fortsetzung.

INFOS ZUM FILM

Deutschland 2023
116 min
Regie Sonja Heiss

alle Bilder © Warner Bros. Pictures Germany

BERLINALE 2023 – FINALE

BERLINALE 2023 – FINALE

Zeit für ein Fazit:
Frauen rauchen im Kino wie die Schlote (Golda, Ingeborg, etc.).
THE PLAYCE ist abscheulich.
Die S-Bahn fährt wieder.
Statt Schnee war Regen.
Baustellen sind kein Ersatz für Glamour.
Der diesjährige Wettbewerb hatte so viel anstrengendes Arthousekino wie noch nie.
Framerate hätte TÓTEM oder ROTER HIMMEL den goldenen Bären gegönnt.
Und tatsächlich gewonnen haben:

Goldener Bär FILM

Nicolas Philibert - SUR L'ADAMANT

Auch ein Dokumentarfilm unterliegt gewissen dramaturgischen Gesetzen und steht und fällt mit seinem Cast. Und der ist auf der Adamant leider nicht besonders interessant. Philiberts schlicht gemachter Film über das Narrenschiff bietet wenig Erhellendes für den Zuschauer. Der viel bessere Film mit (echten) Verrückten lief in der Sektion Generation: WANN WIRD ES ENDLICH WIEDER SO SEIN, WIE ES NIE WAR

roter himmel

Silberner Bär GROSSER JURYPREIS

Christian Petzold - ROTER HIMMEL

Im extra trüben Wettbewerb leuchtet ROTER HIMMEL besonders hell. Wie schon in UNDINE platziert Petzold moderne Charaktere in ein märchenhaftes Setting. Leichte Komödie mit Tiefgang.

Silberner Bär JURYPREIS

João Canijo - MAL VIVER

In dem 127 Minuten langen Filmjuwel aus Portugal giften sich fünf unsympathische Frauen in einem leer stehenden Hotel an. Am Ende sind alle tot. Leider ganz ohne Witz oder wenigstens Camp erzählt.

Silberner Bär REGIE

Philippe Garrel - LE GRAND CHARIOT

Schon interessant, wie man nach ein paar Tagen Berlinale einen Film über ein Puppentheater als beinahe mainstreamig wahrnimmt. Geballtes Arthouse in all seinen Schattierungen hinterlässt eben seine Spuren im Hirn.

Silberner Bär HAUPTROLLE

Sofía Oter - 20.000 SPECIES OF BEES

Das Featuredebüt der Spanierin Estibaliz Urresola Solaguren ist ein netter Kinderfilm mit reizender Besetzung und lobenswertem Anliegen. Die Nichthandlung vom Jungen, der ein Mädchen sein möchte, hätte sich locker in einem Drittel der Zeit wegerzählen lassen.

Silberner Bär NEBENROLLE

Thea Ehre - BIS ANS ENDE DER NACHT

Die bemühte Liebesgeschichte zwischen schwulem Cop und Transfrau bleibt von der ersten bis zur letzten Minute unglaubwürdig. Thea Ehres laienhaftes Spiel wurde mit dem Silbernen Bären ausgezeichnet.

Silberner Bär DREHBUCH

Angela Schanelec - MUSIC

Echtes Kopfkino. Im Sinne von: total verkopft. Der silberne Bär für das beste Drehbuch. Ausgerechnet für einen Film, den wirklich niemand versteht.

Silberner Bär KAMERA

Hélène Louvart - DISCO BOY

DISCO BOY ist ein verfilmter Fiebertraum. Es ist alles seltsam im Langfilmdebüt des italienischen Regisseurs Giacomo Abbruzzese. Aber seltsam heißt in diesem Fall gut.

BERLINALE 2023 – TAG 9

BERLINALE 2023 – TAG 9

Frei nach Heribert Faßbender: „Sie sollten die Berlinale nicht zu früh abschalten. Es kann noch schlimmer werden.“ Machen wir uns nicht länger was vor, Carlo Chatrian verfolgt als künstlerischer Leiter einen perfiden Plan: Er will aus dem ehemalige A-Festival ein Autorenfilmfestival machen. Wie er das anstellt? Ganz einfach: Filme, die bisher in der unschaubaren Sektion Forum liefen, werden jetzt im Wettbewerb gezeigt. Man kann nur hoffen, dass der allgemeine Frustaufschrei über die fortschreitende Verkopfung nicht ungehört bleibt. Rettet die Unterhaltung!

WETTBEWERB

BIS ANS ENDE DER NACHT

Der Pressetext macht Angst: „Ein gewiefter Plot, der pures Oszillieren ist. Ein geistreiches Vexierbild des Emo-Intellekts. Ein Film wie eine Möbiusschleife aus Genre- und Autorenkino.“
Komplizierte Worte für eine einfache Geschichte: Robert ist verdeckter Ermittler. Über die fingierte Beziehung mit der Transfrau Leni soll er das Vertrauen eines Internet-Drogenhändlers gewinnen.

BIS ANS ENDE DER NACHT enttäuscht auf mehreren Ebenen. Die bemühte Liebesgeschichte zwischen dem schwulen Cop und Leni bleibt von der ersten bis zur letzten Minute unglaubwürdig. Es mag an der mangelnden Chemie oder dem laienhaften Spiel von Thea Ehre liegen. Auch als Krimi ist es nur durchschnittliche Tatortware. Ein paar witzige Dialoge gehen in peinlichen, tiefsinnig gemeinten Beziehungsgesprächen unter. Positiv zu vermerken an Christoph Hochhäuslers oszillierender Möbius-Emo-Schleife: Sie hat mehr Handlung als alle anderen Wettbewerbsfilme zusammen und Timocin Ziegler ist sehr überzeugend als harter Bulle mit weichem Kern.

Deutschland 2023
123 min
Regie Christoph Hochhäusler 
Bild © Heimatfilm

WETTBEWERB

ART COLLEGE 1994

Die Kraft der Suggestion: Wenn alle, die ihn schon gesehen haben, behaupten, ART COLLEGE 1994 sei der schlechteste Film im Wettbewerb, dann sind die Erwartungen in den Keller geschraubt. Aber Überraschung: Liu Jians 2D-Zeichentrickfilm über ein paar Slacker im China der frühen 90er-Jahre ist besser als gedacht.

Es ist der zweite Zeichentrickfilm in diesem Wettbewerb. Während SUZUME ein echter crowd pleaser mit bunten Bildern und überwältigender Tonspur ist, erinnert ART COLLEGE 1994 eher an eine Fingerübung des Slackerspezialisten Richard Linklater, nur eben auf Chinesisch.

Der Filmemacher und Maler Liu Jian erzählt von seiner eigenen Jugend zu einer Zeit, als sich das Reich der Mitte langsam dem Westen öffnet. Ein Film von einem ehemaligen Kunststudenten über Kunststudenten? Klar, das ist schon sehr selbstreferenziell. Und nach einer Stunde beginnt sich die ereignislose Handlung mit Dialogen über Existenzialismus, das Leben und Mädchen zu ziehen. Zum Glück wurde ART COLLEGE 1994 im ungemütlichen Berlinale Palast gezeigt und nicht im herrlich bequemen CinemaxX. Sonst wäre man vielleicht doch noch weggeratzt.

China 2023
118 min
Regie Liu Jian
Bild © Nezha Bros. Pictures Company Limited, Beijing Modern Sky Culture Development Co., Ltd

WETTBEWERB

SUR L’ADAMANT

Dokumentarfilme haben im Wettbewerbsprogramm Tradition, 2018 gewann TOUCH ME NOT sogar den Goldenen Bären. Im besten Fall entlässt eine gut gemachte Doku den Zuschauer ein bisschen schlauer in die Welt. Dass seit 2010 mitten in Paris ein Schiff auf der Seine ankert, auf dem psychisch Kranke behandelt werden – wer hätte es gewusst? In seiner Langzeitbeobachtung lässt Regisseur Nicolas Philibert die Patienten der Tagesklinik zu Wort kommen.

Auch ein Dokumentarfilm unterliegt gewissen dramaturgischen Gesetzen und steht und fällt mit seinem Cast. Und der ist auf der Adamant leider nicht besonders interessant. Philiberts schlicht gemachter Film über das Narrenschiff bietet wenig Erhellendes für den Zuschauer. Wem der Sinn nach echtem Wahnsinn steht, dem sei ein Spaziergang durch Berlins Straßen an jedem x-beliebigen Tag empfohlen.

Frankreich / Japan 2022
109 min
Regie Nicolas Philibert
Bild © TS Production / Longride

BERLINALE 2023 – TAG 8

BERLINALE 2023 – TAG 8

Vorletzter Tag! Ist es nur Einbildung, oder dauert die Berlinale in diesem Jahr länger als irgendeine Berlinale jemals zuvor. Vielleicht liegt es auch an der Wettbewerbsauswahl. Wenigstens hat ROTER HIMMEL gestern etwas Hoffnung gemacht. Heute gibts drei Filme mit drei Sternen. Ein durchschnittlicher Tag auf einer durchschnittlichen Berlinale.

WETTBEWERB

LIMBO

Nein, das ist keine Fortsetzung von BREAKING BAD und das ist auch nicht Walter White, der da in den australischen Outbacks an seinem Wagen lehnt. Travis Hurley heißt der Doppelgänger und macht sich daran, den Fall einer vor 20 Jahren ermordeten Aborigines-Frau neu aufzurollen. Er stößt auf eine Mauer des Schweigens, denn Hurley ist weiß und die Wahrheit kompliziert.

 Zum Einschlafen braucht er abends eine Spritze Heroin. Simon Baker spielt den stoischen Cop als gebrochene Figur. Knochentrocken, wie die Landschaft, in der er ermittelt. Regisseur Ivan Sen hat die karge, von Opal-Minen zerklüftete Wüste in strengen Schwarz-Weiß-Bildern wirkungsvoll in Szene gesetzt. LIMBO funktioniert als humorbefreite Version eines Coen-Brothers-Films, als Cop-Movie und als Porträt einer verlorenen Gesellschaft.

Australien 2023
95 min
Regie Ivan Sen
Bild © Bunya Productions

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PAST LIVES

Das kennt man aus der Kindheit: Eltern ziehen um, und schwupps verschwindet der beste Freund oder die beste Freundin aus dem Leben. So geht es auch Hae Sung und Nora, als deren Familie aus Südkorea emigriert. 20 Jahre später treffen sich die Kindheitsfreunde in New York wieder, wo Nora mit ihrem amerikanischen Mann lebt.

Das Publikum liebt PAST LIVES – in Berlin wie in Sundance. Und tatsächlich, beim Thema verpasste Chancen kann sich wohl jeder wiederfinden… wäre der Jugendfreund vielleicht doch der bessere Ehepartner gewesen? Aber niemand ist umsonst da, wo er ist und hat den Menschen geheiratet, den er geheiratet hat – so das lapidare Fazit des Films. Für einige Tränen reichte es am Ende. Sowohl auf der Leinwand – als auch im Publikum.

USA 2022
105 min
Regie Celine Song
Bild © Jon Pack

SPECIAL GALA

TÁR

#MeToo andersrum: TÁR erzählt die fiktive Geschichte von Lydia Tár (Cate Blanchett), die als erste Chefdirigentin der Berliner Philharmoniker das Vorspielen weiblicher Talente mit ihren privaten Interessen vermischt. Dieser Machtmissbrauch schadet auf Dauer sowohl ihrer Ehe als auch ihrer Karriere.

Die anspruchsvolle Rolle ist Cate Blanchett auf den Leib geschrieben, sie dominiert den Film. Ganze 158 Minuten lang. TÁR ist in vielerlei Hinsicht anzumerken, dass Todd Field in seiner dritten Regiearbeit nach 16-jähriger Schaffenspause ein immenses Mitteilungsbedürfnis hat: Künstlerporträt, #MeToo, konzertantes Making-of, Selbstmord, Schulhofmobbing, Altersarmut – um nur einige Themen zu nennen. Ein intellektuell anspruchsvoller Film, der beachtlichen Erfolg bei der Kritik, mutmaßlich weniger beim unterhaltungsaffinen Publikum haben dürfte.

USA 2022
158 min
Regie Todd Field
Bild © Universal Pictures International Germany

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SUZUME

Ein junges Mädchen, eine sprechende Katze und ein gelber Hocker sind die Stars von Makoto Shinkais Wettbewerbsfilm. Die 17-jährige Suzume öffnet versehentlich die Tür zu einer anderen Welt. Überall in Japan öffnen sich daraufhin weitere Türen, hinter denen sich ein todbringender Riesenwurm verbirgt.

Nach Tagen des Gemeckers über zu intellektuelles Kunstkino im Wettbewerb nun dieser animierte Actionkracher aus Japan. Mit Schauspielern aus Fleisch und Blut könnte das auch die neueste Produktion der Marvel-Studios sein. Animefans werden begeistert sein, für normale Zuschauer erschließt sich der Reiz der riesenäugigen, nasenlosen Zeichentrickfiguren nur bedingt. SUZUME ist großer Kitsch, schön bunt, hat Humor und beeindruckt mit epischen Bildern. Was das alles mit der Suse zu tun hat, bleibt ein Rätsel.

Suse

Japan 2022
121 min
Regie Makoto Shinkai
Bild © 2022 „Suzume“ Film Partners

BERLINALE 2023 – TAG 7

BERLINALE 2023 – TAG 7

Morgens auf dem Weg zum Potsdamer Platz benglisht die Tramfahrerin die Fahrgäste an: „Wir kriejen die Tür nich zu, wennse am Haltepush klebn!“ Haltepush für Stop-Knopf! Das hat sich bestimmt die BVG-Marketingabteilung ausgedacht. Nie war Berlin internationaler!

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roter himmel

ROTER HIMMEL

Christian Petzold sei Dank – endlich ein Film, der mehr als nur okay ist. Im extra trüben Wettbewerb leuchtet ROTER HIMMEL besonders hell. Ein Top-Favorit für den Goldenen Bären.

Zwei Freunde, der eine Fotograf, der andere Schriftsteller, machen ein paar Tage Urlaub an der Ostsee. In ihrem Ferienhaus treffen sie Nadja, die sich nachts mit Devid (im Osten gab es nicht nur Maiks), dem örtlichen Rettungsschwimmer vergnügt. Vier junge Menschen, von denen drei Spaß haben, nur Leon, der Schriftsteller quält sich. Die gute Laune der anderen lässt ihn immer mürrischer werden. Es ist Sommer, um das Haus herum brennt der Wald, der Himmel färbt sich rot, bald regnet es Asche.

ROTER HIMMEL ist der zweite Teil einer Trilogie. Wie schon in UNDINE platziert Petzold moderne Charaktere in ein märchenhaftes Setting. Diesmal ins deutscheste aller deutschen Märchensettings: den Wald. Die Symbolik des alles verschlingenden Feuers für die Qualen des Autors erdrückt dabei nicht, der Ton bleibt leicht. Dazu eine ausgezeichnete Besetzung, vor allem Paula Beer als lebensfrohe Nadja und Thomas Schubert als miesepetriger Leon.

Deutschland 2023
102 min
Regie Christian Petzold
Bild © Christian Schulz / Schramm Film

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20.000 SPECIES OF BEES

Der achtjährige Aitor ist genervt. Ständig wird es mit seinem Namen angeredet. Viel lieber hätte er einen Mädchennamen. Im Sommerurlaub auf dem Land vertraut sich das Kind seiner bienenzüchtenden Tante an.

Die Berlinale neigt sich langsam ihrem Ende entgegen und es gab bisher noch keinen genderfluiden Film im Wettbewerb! Auftritt der 20.000 Bienen. Das Featuredebüt der Spanierin Estibaliz Urresola Solaguren ist ein netter Kinderfilm mit reizender Besetzung und lobenswertem Anliegen. Die Nichthandlung vom Jungen, der ein Mädchen sein möchte, hätte sich locker in einem Drittel der Zeit wegerzählen lassen.

Originaltitel „20.000 especies de abejas“
Spanien 2023
125 min
Regie Estibaliz Urresola Solaguren
Bild © Gariza Films, Inicia Films

WETTBEWERB

MAL VIVER

MAL VIVER heißt auf Deutsch übersetzt „Kaum Leben“. Das ist es auch, was der Zuschauer schon nach wenigen Minuten empfindet, der diesen Wettbewerbsbeitrag sehen darf. Worum gehts? Um Mütter, die nicht fähig sind, ihre Töchter zu lieben, die wiederum nicht fähig sind, Mütter zu sein.

In dem 127 Minuten langen Filmjuwel aus Portugal giften sich fünf unsympathische Frauen in einem leer stehenden Hotel an. Am Ende sind alle tot. Leider ganz ohne Witz oder wenigstens Camp erzählt.

Portugal / Frankreich 2023
127 min
Regie João Canijo
Bild © Midas Filmes

BERLINALE SPECIAL

GOLDA

Kippen und Kaffee. Die notorische Kettenraucherin Golda Meir war die erste Frau im israelischen Ministerpräsidialamt. GOLDA erzählt vom Jom-Kippur-Krieg 1973. Unter Meirs Führung gewann Israel zwar gegen Ägypten und Syrien, doch Tausende bezahlten dafür mit ihrem Leben.

Ein ordentlich gemachtes Geschichtsdrama, wie es sie dutzendfach gibt. GOLDA ist ein klassischer Faktenfilm, ohne allzu viel Experimentierfreude inszeniert. Die größte Kritik: Regisseur Guy Nattiv vertraut nicht auf Helen Mirrens Schauspielkunst und vergräbt ihr Gesicht unter einer dicken Latexschicht. Als ob sich die Zuschauer auf Golda Meirs Kampf um Israel nur dann einlassen könnten, wenn die Schauspielerin das Aussehen des Originals bis in die letzte Falte imitiert. Höhepunkt des Mummenschanzes ist eine FORREST GUMP-artige Szene, in der die verkleidete Helen Mirren mit echten Archivaufnahmen verschmilzt. Gumminase und technische Spielereien lenken von der eigentlich spannenden Geschichte ab.

GB 2022
100 min
Regie Guy Nattiv
Bild © Jasper Wolf

BERLINALE 2023 – TAG 6

BERLINALE 2023 – TAG 6

Seltsam: Seit Tagen verschickt die Presseabteilung der Berlinale Mails, in denen dezidiert die Ankunftszeiten diverser Berlinale-VIPs aufgelistet sind. Der und der Schauspieler landet mit Flug soundso um 10.10 Uhr am BER. Der und der Regisseur kommt um 16.50 Uhr mit dem Zug am Hauptbahnhof an. Fehlen nur das Gleis und die Wagennummer. Ist es eine Aufforderung, die VIPs abzuholen, damit sie sich nicht in der S- und U-Bahn-gestörten Stadt verlieren? Bei der Qualität des diesjährigen Wettbewerbs wäre Promis durch Berlin fahren wahrscheinlich unterhaltsamer.

WETTBEWERB

LE GRAND CHARIOT

Der Große Wagen ist nicht nur ein Sternbild, er ist auch ein kleines Theater. Philippe Garrel erzählt die Geschichte einer Familie von Puppenspielern: die erwachsenen Geschwister Louis, Martha und Lena, ihr Vater, der die Truppe leitet, und die Großmutter, die die Puppenkostüme näht. Eines Tages stirbt der Vater während einer Aufführung. Seine Kinder müssen entscheiden, ob und wie es mit dem Puppentheater weitergeht.

Schon interessant, wie man nach ein paar Tagen Berlinale einen Film über ein Puppentheater als beinahe mainstreamig wahrnimmt. Geballtes Arthouse in all seinen Schattierungen hinterlässt eben seine Spuren im Hirn. Regisseur Philippe Garrel steht nicht nur selbst vor der Kamera, er hat auch gleich seine eigenen drei Kinder als eben diese besetzt. Eine Familiengeschichte von einer echten Familie gespielt. LE GRAND CHARIOT erfindet das Rad nicht neu, ist aber ein liebenswerter Blick auf Kunst und Künstlerseelen.

Frankreich / Schweiz 2022
95 min
Regie Philippe Garrel
Bild © Benjamin Baltimore / 2022 Rectangle Productions – Close Up Films – Arte France Cinéma – RTS Radio Télévision Suisse – Tournon Films

WETTBEWERB

MUSIC

Echtes Kopfkino. Im Sinne von: total verkopft. Achtung, jetzt wirds anspruchsvoll: Angela Schanelecs Film rätselt sich elliptisch durch den verpuzzelten Mythos des Ödipus (steht jedenfalls so im Presseheft). Es geht von den 1980er-Jahren bis ins Heute, von den Stränden Griechenlands bis an die Seen um Berlin. Dazu spielt der Kassettenrekorder Barockmusik.

Bitte jemand anderen nach seiner/ihrer Meinung fragen. Framerate muss sich wegen erwiesener Ignoranz enthalten. 2019 wurde hier Angela Schanelecs letzter Berlinale-Film ICH WAR ZUHAUSE, ABER… komplett verrissen und gewann anschließend den Silbernen Bären für die beste Regie.

Deutschland / Frankreich / Serbien 2023
108 min
Regie Angela Schanelec
Bild © faktura film / Shellac

HOMMAGE

DIE FABELMANS

Cecil B. DeMilles THE GREATEST SHOW ON EARTH öffnet dem kleinen Sam die Augen, besonders eine Kollisionsszene mit zwei Zügen und einem Auto. Zu Hause stellt er das Unglück mit Spielzeug nach. Seine Mutter bringt ihn auf die Idee, das Ganze zu filmen, damit er es sich so oft ansehen kann, wie er will. Voilà. Das erste Werk des Jungregisseurs ist fertig.

Steven Spielberg erzählt seine eigene Kindheit und Jugend, inklusive gescheiterter Ehe seiner Eltern. Im Januar diesen Jahres gewann THE FABELMANS den Golden Globe als bestes Drama. Er habe sich lange nicht getraut, so eine persönliche Geschichte zu erzählen, sagt der Regisseur bei der Preisverleihung. Quatsch, denn den viel persönlicheren Film über die Ängste seiner Kindheit hat er schon vor 40 Jahren gedreht: ET.

DIE FABELMANS wurde gestern als Deutschlandpremiere im Rahmen der Hommage zu Ehren Steven Spielbergs gezeigt. Die ausführliche Framerate-Kritik erscheint zum Kinostart am 8. März.

Originaltitel „The Fabelmans“
USA 2022
151 min
Regie Steven Spielberg
Bild © Universal Pictures International Germany

PANORAMA

SAGES FEMMES

Es ist fast, als hätte es zu SAGES FEMMES mehrere Drehbücher gegeben. Zum einen zeigt das Drama den hyperrealistisch inszenierten Alltag auf einer Entbindungsstation in Frankreich. Zwischen überfüllten Fluren, Kreißsälen und Monitoren haben die beiden Neuen, Sofia und Louise einen holprigen Start. In der zweiten Hälfte des Films erzählt Regisseurin Léa Fehner dann die recht konventionelle Geschichte einer obdachlosen jungen Mutter, die von den Hebammen in ihre WG aufgenommen wird. Dieser Teil ist weitaus weniger interessant als die Arbeitshölle im Kreißsaal.

Nichts für schwache Nerven: Zwischen echter Geburt, Kaiserschnitt und Tod fließen nicht nur auf der Leinwand die Tränen. Am Ende dann reale Aufnahmen von Hebammen, die für bessere Arbeitsbedingungen und mehr Lohn demonstrieren. Vor allem in der starken ersten Hälfte zeigt SAGES FEMMES die Auswüchse eines völlig unterfinanzierten Gesundheitssystems – unbeschönigt und mitreißend.

Frankreich 2023
99 min
Regie Léa Fehner
Bild © Geko Films

PANORAMA

ALL THE COLOURS OF THE WORLD ARE BETWEEN BLACK AND WHITE

Eine der vielen Farben zwischen Schwarz und Weiss ist Grau. Und davon gibt es ja bekanntermaßen viele Schattierungen. Grau in allen Abstufungen kann es dem Gemüt auch bei diesem gut gemeinten, aber freudlosen Panorama-Beitrag werden.

Halb zog es ihn, halb sank er hin. Bambino lassen die Avancen seiner Nachbarin kalt, denn sein Herz schlägt für den charismatischen Bawa. Gefährlich, denn in Nigeria ist Homosexualität ein Tabu. ALL THE COLOURS… ist ein wichtiger Film mit Anliegen, doch leider ist die Geschichte von der verbotenen Männerliebe unbeholfen inszeniert und auch nicht besonders gut gespielt. Eher quälend.

Nigeria 2023
93 min
Regie Babatunde Apalowo
Bild © Polymath Pictures

PANORAMA

PERPETRATOR

Die Zutaten für ein echtes C-Movie sind alle da: 80er-Jahre Synthie-Musik à la John Carpenter, Overacting plus abstruse Story: Die toughe Jonny bekommt von ihrer Tante zum 18. Geburtstag einen Kuchen nach magischem Familienrezept und macht nach Verzehr eine radikale Metamorphose durch.

Hätte man das alles nicht gefühlt schon hundert Mal in besser gesehen, wäre man vielleicht geschockt. So aber ist Jennifer Reeders Film nur ein müder Aufguss von David Cronenbergs Body Horror gemischt mit soapigen CHILLING ADVENTURES OF SABRINA-Elementen.

USA 2023
100 min
Regie Jennifer Reeder
Bild © WTFilms

BERLINALE 2023 – TAG 5

BERLINALE 2023 – TAG 5

Am Potsdamer Platz hat nach vierhundertjähriger Umbauzeit THE PLAYCE eröffnet. Die Vorkriegsgeneration wird sich erinnern, da waren mal die Arkaden, eine Shoppingmall mit den üblichen Verdächtigen von H&M bis MediaMarkt, die so auch in Gelsenkirchen hätte stehen können. Nun also THE PLAYCE. Eine Wortschöpfung aus Play und Place: ein Spielplatz. Dazu passt, dass sich im 1. OG eine „Arcade“ befindet, eine lärmende Spielhalle, als hätte man sich direkt ins Amerika der 1980er-Jahre zurückgebeamt. Auch der Sinn des gigantischen NBA-Stores im Erdgeschoss erschließt sich wohl nur echten Basketball-Fans. Viele gibts davon scheinbar nicht – bisher überwiegt die Verkäuferzahl die der Kundschaft. Daneben eröffnet demnächst ein Barbie-Mattel-Store. Hinter der Amerikanisierung scheint System zu stecken. Hauptanziehungspunkt soll der gigantische Food-Hub sein, erdacht und umgesetzt von – richtig – einem Amerikaner, der mit dem gleichen Konzept in Prag angeblich Erfolg feiert. Man mag es kaum glauben. Wenn es in der Hölle eine Kantine gibt, dann sieht sie so aus. Ein riesiges, fensterloses Verlies mit 22 Restaurants und dem Charme einer Tiefgarage. Was das alles mit der Berlinale zu tun hat? Einiges, denn die Zeit zwischen den Filmen will gefüllt werden, am liebsten mit Nahrungsaufnahme. Nur kann einem bei all der neuen Trostlosigkeit der Appetit vergehen.

WETTBEWERB

TÓTEM

Tona hat Geburtstag, es wird wohl sein letzter sein. Der junge Vater ist todkrank. Familie und Freund treffen sich zu einem Abschiedsfest. Mittendrin: Tonas siebenjährige Tochter Sol.

Der mexikanischen Autorin und Regisseurin Lila Avilés gelingt das Kunststück, ihren Film und vor allem die junge Schauspielerin Naíma Sentíes absolut authentisch und mit großer Natürlichkeit in Szene zu setzen.

TÓTEM ist eine Liebeserklärung an die Familie, das Leben und den Tod. Keine ganz leichte Kost, aber wer sich darauf einlässt, wird mit einem spirituellen, berührenden und oft komischen Film belohnt. Bis jetzt der stärkste Wettbewerbsbeitrag.

Mexiko / Dänemark / Frankreich 2023
95 min
Regie Lila Avilés
Bild © Limerencia

PANORAMA

PASSAGES

Rainer Werner Fassbinder is back! In körperlich besserer Verfassung zwar, aber mit ähnlich unausstehlichem Verhalten hinter der Kamera. RWF heißt hier Tomas (Franz Rogowski) und ist ein deutscher Regisseur in Paris. Schwul. Eigentlich. Denn nach dem letzten Drehtag verbringt er die Nacht mit einer jungen Frau (Adèle Exarchopoulous). Er beichtet den Seitensprung am nächsten Morgen seinem Ehemann (Ben Whishaw). Doch dann wird aus der Affäre mehr. Nicht nur Tomas muss sich entscheiden, wie es weitergehen soll.

Famos, mit welchem Tempo Regisseur Ira Sachs durch die Geschichte saust. Es wird zwar genrebedingt viel geredet, aber nie zu viel. Kein Todlabern – wenn das Nötigste gesagt ist, prescht die Handlung weiter. Das macht PASSAGES extrem kurzweilig. Wo Ben Whishaw draufsteht, ist selten was Schlechtes drin. So auch hier. Der Brite ist ein Garant für gute Filme, von PADDINGTON bis BOND (er spielt in der Daniel Craig-Ära den Q). Glänzend auch, wie Franz Rogowski absolut glaubwürdig zwischen unsympathischem Kotzbrocken, sensiblem Mann und genervter Zicke wechselt.

Frankreich 2023
91 min
Regie Ira Sachs
Bild © SBS Poductions

PERSPEKTIVE DEUTSCHES KINO

GERANIEN

Schauspielerin Nina kehrt in ihre Heimatstadt zurück, um ihre geliebte Großmutter zu beerdigen. Trotz organisatorischer Probleme und emotionaler Schwierigkeiten mit ihrer entfremdeten Mutter findet die Familie in ihrer unterschiedlich ausgelebten Trauer (fast) zueinander. Und dann muss sich Nina noch entscheiden: Charakterschauspielerin bleiben oder doch eine gut bezahlte Rolle im TRAUMSCHIFF annehmen?

GERANIEN ist ein konventionell gemachter, aber durchaus liebenswerter Film. Regisseurin Tanja Eden hat die ehrliche Art der Ruhrpottler inklusive Trinkhallen und spießiger Reihenhauskultur glaubwürdig eingefangen. Durchweg gut gespieltes Drama mit komischen Elementen.

Deutschland 2023
84 min
Regie Tanja Eden
Bild © Claudia Schroeder

PANORAMA

HEROICO

Untergebene anschreien, nach oben buckeln und nach unten treten. Diese Verhaltensmuster kennt man sonst nur von der Unternehmenskultur eines großen Automobilkonzerns, in HEROICO ist es der Alltag in einer Kaserne. Der 18-jährige Luis verpflichtet sich als Soldat, hauptsächlich wegen der Krankenversicherung für sich und seine kranke Mutter. Sein neues Leben an der nationalen Militärakademie Mexikos wird zur Qual.

Regisseur David Zonanas Film beginnt als klassisches Soldaten-Ausbildungsdrama, wie man es seit FULL METAL JACKET schon oft gesehen hat. Doch nach und nach entwickelt sich die Geschichte zu einem Horrortrip. Was ist wahr, was ist Einbildung? Alptraum und Realität vermischen sich immer mehr. Guter Film und ein weiterer Beweis, dass am Soldatenleben rein gar nichts schön ist.

Mexiko / Schweden 2023
88 min
Regie David Zonana
Bild © Teorema

BERLINALE 2023 – TAG 4

BERLINALE 2023 – TAG 4

Echte Fans behaupten, nur im Berlinale-Palast käme wahres Festivalfeeling auf. Ihr Ahnungslosen. Im frisch renovierten CinemaxX gibt es neue, wunderbar weiche Ledersessel, die sich fast in Liegeposition fahren lassen. Herrlich! Fast wünscht man sich, der nächste Film möge schön langweilig sein, um sich einem erquickenden Schlummer hinzugeben.

WETTBEWERB

DISCO BOY

Gar nicht zum Einschlafen, aber trotzdem traumhaft: DISCO BOY.

Aleksei, ein junger Belarusse auf der Flucht, schließt sich der Fremdenlegion an, um die französische Staatsbürgerschaft zu bekommen. Irgendwo im Nigerdelta verteidigt Jomo als Aktivist im bewaffneten Kampf sein Dorf. Aleksei ist Soldat, Jomo Guerillakämpfer. In einem weiteren sinnlosen Krieg verflechten sich ihre Schicksale.

Wer zu den Glücklichen (oder Unglücklichen) zählt, die nachts lebhaft träumen, dürfte das kennen: Alles wirkt real, nichts macht Sinn und trotzdem ergibt alles einen Sinn. DISCO BOY ist ein verfilmter Fiebertraum. Es geht um Männlichkeit (wie so oft bei dieser Berlinale), Traumata, geistige Verschmelzung und Tanz. Die fragmentarisch erzählte Geschichte wird von einem großartigen Franz Rogowski getragen, schon sein zweiter beeindruckender Auftritt bei dieser Berlinale. Dazu ein ebenso befremdlicher wie grandios passender Elektroscore. Es ist alles seltsam im Langfilmdebüt des italienischen Regisseurs Giacomo Abbruzzese. Aber seltsam heißt in diesem Fall gut.

Frankreich / Italien / Belgien / Polen 2023
91 min
Regie Giacomo Abbruzzese
Bild © Films Grand Huit

PANORAMA

SISI UND ICH

Sisi hier, Sisi da, Sisi wo man hinschaut. Ihre kaiserliche Omnipräsenz gibt sich schon wieder die Ehre. Neben diversen Netflix- und RTL-Serien war zum Thema zuletzt der österreichische Oscarbeitrag CORSAGE im Kino zu sehen.

Irma Gräfin von Sztáray bewirbt sich als Hofdame von Kaiserin Elisabeth von Österreich-Ungarn. Doch das Casting ist nicht ohne: Erst schlägt ihr die gestrenge Mutter die Nase blutig, dann wird sie wie ein Stück Vieh untersucht und verhört. Endlich auserwählt, kommen sich die Gräfin und die Kaiserin auf Sisis Sommersitz auf Korfu schnell nah.

SISI UND ICH ist all das, was CORSAGE gerne gewesen wäre. Eine wilde Neuinterpretation des vielerzählten Mythos. Grotesk und sehr komisch. Susanne Wolff und Sandra Hüller sind schlichtweg grandios, Locations und Kostüme erlesen, und das Ganze wird von einem überraschend modernen Soundtrack zwischen Nico und Portishead begleitet. Sehr gelungen.

Deutschland / Schweiz / Österreich 2023
132 min
Regie Frauke Finsterwalder
Bild © Bernd Spauke

WETTBEWERB

INGEBORG BACHMANN - REISE IN DIE WÜSTE

Apropos CORSAGE, bzw. Vicky Krieps. Die spielt die Hauptrolle in Margarethe von Trottas Wettbewerbsbeitrag INGEBORG BACHMANN – REISE IN DIE WÜSTE.

Ingeborg Bachmann und Max Frisch. Die beiden weltberühmten Autoren begegnen sich 1958, verlieben sich, ziehen zusammen, ertragen sich bald nicht mehr. Er neidet ihr den Ruhm; Sie ist genervt von seinem Schreibmaschinengeratter und seiner Eifersucht sowieso. Bachmann zieht nach Rom, verfällt immer mehr ihrer Tabletten- und Alkoholsucht. Bei einer Reise mit ihrem Freund Adolf Opel in die Wüste reflektiert sie ihre gescheiterte Beziehung zu Frisch.

Der Tagesspiegel schreibt über den chinesischen Wettbewerbsbeitrag THE SHADOWLESS TOWER: „Die Kamera scheint eher zufällig dabei zu sein“. Bei INGEBORG BACHMANN – REISE IN DIE WÜSTE ist das genaue Gegenteil der Fall. Alles wirkt ausdrücklich für die Kamera inszeniert und ausgestattet. Den Statisten stehen die Regieanweisungen ins Gesicht geschrieben, die 50er-Jahre-Welt ist im Studio nachgebaut. Vicky Krieps spielt die draufgängerische Autorin mit gebremster Energie, dafür mit Kostümwechsel in jeder Szene. Ronald Zehrfeld ist nach anfänglicher Irritation als pfeifenrauchender Max Frisch eine erstaunlich überzeugende Besetzung. Margarethe von Trottas unmoderne Ingeborg-Bachmann-Hommage ist ein Film nur für Erwachsene, sehr ernst, sehr maniriert.

Schweiz / Österreich / Deutschland / Luxemburg 2023
110 min
Regie Margarethe von Trotta
Bild © Wolfgang Ennenbach

PERSPEKTIVE DEUTSCHES KINO

KNOCHEN UND NAMEN

Schauspieler Boris und Schriftsteller Jonathan sind seit vielen Jahren ein Paar. Die beiden leben mittlerweile ein wenig aneinander vorbei. Während der eine im Bett liegt und Drehbücher liest, arbeitet der andere im Nebenraum am Schreibtisch. Als Jonathan sich für seinen neuen Roman immer intensiver mit dem Tod auseinandersetzt und Boris bei Filmproben seinem jüngeren Kollegen Tim näher kommt, beginnen sie, ihre Liebe zu hinterfragen.

Regisseur Fabian Stumm erzählt in seinem Langfilmdebüt eine unterhaltsame Beziehungsgeschichte im Stil von Tom Tykwers DREI. Neben vielen gelungenen Szenen – Boris bei den Proben mit einer anstrengenden französischen Regisseurin – gibt es auch eine unnötige Seitengeschichte mit Jonathans 10-jähriger Nichte.

Deutschland 2023
104 min
Regie Fabian Stumm
Bild © Postofilm

GENERATION

L‘AMOUR DU MONDE

Margaux ist eine echte Transuse, euphemistisch könnte man sie auch als sanftmütig bezeichnen. Die 14-Jährige schleppt sich unbeteiligt durchs Leben, ein Praktikum in einem Kinderheim absolviert sie ohne Leidenschaft. Erst die Freundschaft zur kleinen Juliette (Esin Demircan, stiehlt den erwachsenen Darstellern die Schau) und dem stoischen Fischer Joël weckt sie (vorübergehend) aus ihrer Lethargie. 

Coming of Age Film aus der Schweiz, ungefähr so belebend wie das Gespräch mit einem mürrischen Teenager. Da können sogar 76 Minuten lang sein.

Schweiz 2023
76 min
Regie Jenna Hasse
Bild © Langfilm

BERLINALE 2023 – TAG 3

BERLINALE 2023 – TAG 3

Hair-Reinspaziert, Hairport, Vier Haareszeiten, Lockenvilla. Hat die deutsche Friseur-Innung eine großflächige Werbekampagne in Berlin gestartet? Nein, es ist das Plakat zur Berlinale 2023. Diesmal sollen die Zuschauer:innen im Mittelpunkt stehen, deshalb die eigenwilligen Zeichnungen von Menschen mit Frisuren. Im Kino trägt man Dauerwelle. Nächstes Jahr bitte wieder Plakate mit Bär.

WETTBEWERB

MANODROME

Ralphie wird demnächst Vater, aber sein Job als Uber-Fahrer (da freut sich der Berlinale-Sponsor) und seine persönliche Situation machen ihn nicht glücklich. Als er in einen seltsamen Männer-Club (oder sollte man sagen: Sekte?) aufgenommen wird, drängen unterdrückte Sehnsüchte an die Oberfläche und lassen Ralphie durchdrehen.

Aus der beliebten Berlinale-Sektion: What the Fuck? John Trengoves Film ist ein FIGHT CLUB für Arme. Oder ist das als Komödie gemeint? Immerhin sind die 95 Minuten über toxic masculinity at it’s best nicht langweilig und schön, Jesse Eisenberg mal außerhalb seiner Mark-Zuckerberg-Comfort-Zone spielen zu sehen.

GB / USA 2023
95 min
Regie John Trengove
Bild © Wyatt Garfield 

PANORAMA

DRIFTER

Der 22-jährige Moritz (Lorenz Hochhuth) zieht nach Berlin, der Liebe wegen. Kurz darauf macht sein Freund mit ihm Schluss und Moritz macht das, was schwule Männer in der Großstadt so machen – er geht ins Fitnessstudio. Zu seinen neuen Muskeln gesellen sich bald Tattoos, die Haare werden abrasiert, das Netzhemd übergeworfen und ab gehts ins Nachtleben. Mit viel Drogen und noch mehr wechselnden Sexualpartnern wird Moritz am Ende zu „einem richtig schwulen Mann“, wie es eine Freundin erfreut feststellt. Handlungsarmer, aber stimmungsvoller Debütfilm von Hannes Hirsch.

Deutschland 2023
79 min
Regie Hannes Hirsch
Bild © Salzgeber

BERLINALE SPECIAL

SONNE UND BETON

Berlin, Sommer 2003: Lukas, Julius, Gino und Sanchez – vier Jungs, die jede Menge Scheiß bauen und denen jede Menge Scheiß widerfährt. Muss das sein, diese vulgäre Sprache? Ja, denn in Gropiusstadt aufzuwachsen ist nichts für Weicheier. Hier gilt: Der Klügere tritt nach. An Drogen und Schlägereien kommt keiner vorbei. Die Sprache ist so rau wie die vier minderjährigen Kleingangster, die dringend 500 € klar machen müssen, sonst gibts Schläge von den Arabern.

Digger-ich-schwöre-ich-zerficke-dir-dein-Gesicht. Die interessanteste Frage zu SONNE UND BETON: Haben Jugendliche in den Nuller-Jahren wirklich schon derart penetrant gediggert wie heute? Dass mittlerweile 10-Jährige „Diggi“ schwafelnd durch die Straßen laufen, kennt man. Aber vor 20 Jahren? Man kann sich bei der Gelegenheit sowieso fragen, weshalb Regisseur Wnendt die Geschichte nicht in die Jetztzeit verlegt hat. Altmodische Handys und ein paar Nachrichtenbilder von Kanzler Schröder sind die einzigen Hinweise auf die Anfang-Tausender und haben keinen Mehrwert. Die massenkompatible Verfilmung von Felix Lobrechts Bestseller liegt irgendwo zwischen EIS AM STIEL und 4 BLOCKS für Jugendliche. Bisschen doof, bisschen nervig, trotzdem lustig und auf jeden Fall kurzweilig.

Deutschland 2023
119 min
Regie David Wnendt
Bild © Constantin Film Verleih

WETTBEWERB

THE SHADOWLESS TOWER

Der geschiedene Restaurantkritiker Gu Wentong erfährt, wo sein Vater lebt, zu dem er seit Jahren keinen Kontakt hat, und er beginnt eine Beziehung mit einer jüngeren Kollegin. Zwischendurch werden sehr viele Zigaretten geraucht und Handynachrichten verschickt.

Wo hört Meditation auf, wo fängt Langeweile an? THE SHADOWLESS TOWER ist ein klassischer Berlinale-Film aus China. Nichts, was man sich freiwillig im Kino ansehen würde. Aber natürlich trifft den Film keine Schuld, wenn im ausverkauften Berlinale-Palast ein Riese vor einem sitzt und man die Untertitel nicht mehr lesen kann. Vielleicht war es auch ein Feuerwerk der Unterhaltung. Wir werden es nie erfahren.

Originaltitel „Bai Ta Zhi Guang“
Volksrepublik China 2022
144 min
Regie Zhang Lu
Bild © Lu Films

PANORAMA

REALITY

Der Film schildert die im Jahr 2017 durchgeführte Hausdurchsuchung bei der Whistleblowerin Reality Winner im US-Bundesstaat Georgia. Das Besondere daran ist, dass sich kein Drehbuchautor die Dialoge ausgedacht hat. Regisseurin Tina Sattler lässt für ihren Debütfilm die Schauspieler ausschließlich die unveränderten Originalsätze aus einer FBI-Tonaufzeichnung sprechen.

Inhaltlich interessant und gut gespielt. Mit der Realität kann man es allerdings auch übertreiben. Der Mehrwert dieser stilistischen Spielerei erschließt sich nicht.

USA 2023
85 min
Regie Tina Sattler
Bild © Seaview

GENERATION

DANCING QUEEN

Mina ist ein dickes Mädchen. Trotzdem will sie unbedingt bei einem Hip-Hop-Tanzwettbewerb mitmachen, auch um in die Nähe des coolen Tänzers E. D. Win zu kommen. Mithilfe ihrer patenten Großmutter und gegen den Willen ihrer Eltern macht sie sich ans Training.

Vorhersehbare Komödie mit dem Herz am rechten Fleck. Für junge Zuschauer gibts positive Botschaften: Bodyshaming ist doof und wer will, der kann.

Norwegen 2023
85 min
Regie Aurora Gossé
Bild © Åsmund Hasli Amarcord

BERLINALE 2023 – TAG 2

BERLINALE 2023 – TAG 2

Zeit für Pressetextpoesie:
„Patric Chiha versetzt das Paar aus Henry James‘ Kurzgeschichte „The Beast in the Jungle“ in den Club und kontrastiert sein schicksalhaftes Warten mit dem ultimativen Im-Moment-Sein und dem hedonistischen Begehren der Tänzer*innen, in immerwährenden Choreografien die Zeit aufzulösen.“ Die weniger lyrische Framerate-Kritik zu LA BÊTE DANS LA JUNGLE gibts weiter unten.

GENERATION

WANN WIRD ES ENDLICH WIEDER SO SEIN, WIE ES NIE WAR

Eine etwas andere Kindheit: Josse wächst auf dem Gelände einer psychiatrischen Klinik auf.  Für den jüngsten Sohn von Direktor Meyerhoff (Devid Striesow) gehören die körperlich und geistig Behinderten quasi zur Familie. Am besten schläft er, wenn er nachts die Schreie der Patienten hört. Tagsüber schließt er Blutsbrüderschaft mit seinem Hund und kommt dem Doppelleben seines Vaters auf die Spur.

Kann man die mittlerweile fünf autobiografischen Romane Joachim Meyerhoffs überhaupt verfilmen? Ja, man kann. Komisch, ergreifend, voll absurder Momente und Begebenheiten: Sonja Heiss hat die 70er-Jahre Stimmung des zweiten Bands der Lebenserinnerungen des Schauspielers punktgenau eingefangen. Dabei sind die Figuren nicht einmal so besetzt, wie man sich das vielleicht beim Lesen vorstellt. Aber dank der stimmigen Inszenierung und dem hervorragenden Spiel taucht man schnell in die Welt der Familie Meyerhoff ein. Die sehr gelungene Romanverfilmung ist im Nebenprogramm Generation fast ein wenig verschenkt. Einziger Wermutstropfen: Der Stoff hätte locker für eine Fernsehserie gereicht. Ganze viermal wechselt der Schauspieler des Josse vom Kind zum Teenager bis zum jungen Mann. Das geht dann doch ein bisschen zu schnell.

Deutschland 2023
116 min
Regie Sonja Heiss
Bild © 2022 Komplizen Film GmbH / Warner Bros. Entertainment GmbH / Frédéric Batier

WETTBEWERB

BLACKBERRY

Wer die Zukunft verpennt, hat keine. Der ehemalige Vorstandsvorsitzende eines großen deutschen Automobilkonzerns pflegte seinen Managern den Telefonhersteller Nokia als warnendes Beispiel für wirtschaftliche Ignoranz vorzuhalten. Irgendwann kam das erste Smartphone in den Handel und fegte die Finnen vom Markt. Nicht das iPhone, sondern das BlackBerry revolutionierte 1999 die Art, wie die Welt arbeitet, spielt und kommuniziert. Wer konnte schon ahnen, dass die kanadische Herstellerfirma RIM nur acht Jahre später von Apple vaporisiert wird.

Matt Johnson erzählt die Geschichte vom Aufstieg und Fall des BlackBerrys mit viel Witz und waschechten Nerds. Der unerbittliche Kampf um den Platz an der Spitze, die Arroganz und das fehlende Gespür für sich rasant weiterentwickelnde Technik – der Wettbewerbsbeitrag BLACKBERRY ist nicht nur ein spannender Wirtschaftskrimi, sondern vor allem eine sehr komische Gesellschaftssatire. Toll besetzt und dank leicht matschigen 16-mm-Looks ein authentischer Blick in eine Vergangenheit, die noch gar nicht so lange her ist, technisch aber steinzeitlich anmutet.

Kanada 2023
121 min
Regie Matt Johnson
Bild © Budgie Films Inc.

WETTBEWERB

THE SURVIVAL OF KINDNESS

Wüste, sengende Sonne, eine schmutzige Frau in einem Käfig. Das simpel gestrickte Hirn assoziiert sofort MAD MAX. Sollte sich tatsächlich ein Actionfilm ins Wettbewerbsprogramm verirrt haben? Aber nein, das ist die Berlinale. Und je Berlinale, desto absurder. Die Frau bricht aus dem Käfig aus, läuft durch verschiedene Landschaften, wird von Gasmasken tragenden Weißen gejagt und endet schließlich in einem dystopischen Industriegebiet.

THE SURVIVAL OF KINDNESS ist eine Parabel auf Rassismus. Oder auf die Historie der Menschheit. Man versteht es auch nach 96 Minuten nicht so recht. Wenigstens erzählt Regisseur Rolf de Heer seine Geschichte konsequent, ohne auch nur in die Nähe von mainstreamiger Unterhaltung zu kommen. Selbst die Dialoge sind artifiziell, mehr Laute und Grunzen statt Sprache. Ganz falsch war der MAD-MAX-Gedanke nicht: THE SURVIVAL OF KINDNESS ist ebenfalls eine Produktion aus Down Under.

Australien 2022
96 min
Regie Rolf de Heer
Bild © Triptych Pictures 

WETTBEWERB

Irgendwann werden wir uns alles erzählen

IRGENDWANN WERDEN WIR UNS ALLES ERZÄHLEN

Sommer 1990. Ein Bauernhof an der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze. Johannes hat für seine Freundin Maria und sich den Dachboden bei seinen Eltern zum kleinen Idyll gemacht. Maria liest Dostojewski, streift durch die Wiesen und widmet sich auch sonst dem süßen Nichtstun. Ihre Begegnung mit Henner, dem um einiges älteren Nachbarn, macht der Beschaulichkeit ein Ende. Eine tragische Liebe nimmt ihren Lauf.

IRGENDWANN WERDEN WIR UNS ALLES ERZÄHLEN gehört in die Kategorie Filme, bei denen schon nach wenigen Minuten klar ist, dass man sich weder für die Figuren noch ihre deprimierenden Probleme interessiert. Das hölzern gespielte Drama von der verbotenen Liebe verläuft ereignislos und zieht sich über 129 Minuten wie Kaugummi. Sehenswert sind in diesem ersten deutschen Wettbewerbsbeitrag einzig die sommerlichen Landschaften Ostdeutschlands. Fazit: Es gibt ihn noch, den typisch deutschen Problemfilm.

Deutschland 2023
129 min
Regie Emily Atef
Bild © Pandora Film / Row Pictures

May (Anaïs Demoustier) und John (Tom Mercier aus dem 2019-Berlinale-Gewinner SYNONYMES) begegnen sich in einem Club. Immer wieder – von den späten 70ern bis in die 2000er-Jahre. Disco geht, Techno kommt. Erst fällt die Mauer, dann fallen die Zwillingstürme in New York. May und John altern nicht, sprechen über eine „geheimnisvolle Sache“, die kommen wird. Alles sehr rätselhaft und unverständlich. Sind die beiden Vampire? Reisende durch die Zeit? Ist John der Tod? Wer will es wissen? Kommentiert wird die Geschichte der Liebenden von  Béatrice „Betty Blue“ Dalle als ewige Türsteherin des Clubs. Kunst aus Frankreich.

Frankreich / Belgien / Österreich 2023
110 min
Regie Patric Chiha
Bild © Elsa Okazaki

GENERATION

ZEEVONK

Lena ist sauer. Denn ein riesiges Seemonster hat ihren Vater getötet. Dass der Fischer mit seinen Kollegen einfach so auf hoher See Schiffbruch erlitten hat – undenkbar für das Mädchen. Mit ihren Freunden Kaz und Vincent macht sie sich auf die Suche nach Beweisen für ihre Theorie.

Das Seemonster als Sinnbild für den Tod, der bekämpft werden muss. Wie Captain Ahab jagt Lena den Feind. Das ist in seiner Symbolik ein bisschen dick aufgetragen. Emotional bleibt der holländische Generation-Beitrag dabei eher unterkühlt. Am Ende fließen die Tränen, doch bis es so weit ist, zieht es sich.

Belgien / Niederlande 2023
98 min
Regie Domien Huyghe
Bild © A Private View