DEAR EVAN HANSEN

DEAR EVAN HANSEN

Es gab mal eine Schauspielerin namens Joan Crawford. Die war dafür berühmt, dass sie ihren Kindern unter Wutanfällen verbot, Kleidung auf Drahtbügeln aufzuhängen. NO WIRE HANGERS! Im Trash-Camp-Klassiker „Mommie Dearest“ glaubhaft nachgestellt. (hier die Szene) Joan hatte im wahren Leben eine Adoptiv-Tochter. Christina Crawford war ebenfalls Schauspielerin, unter anderem wirkte sie in der Serie „The Secret Storm“ mit. Eines Tages wurde sie schwer krank. Die Produzenten fanden es eine gute Idee, die Rolle ersatzweise mit Christinas Mutter Joan zu besetzten. Warum das erwähnenswert ist? Christina war damals in ihren 20ern, Joan 62.

„Dear Evan Hansen…“, so beginnt der schüchterne Evan einen Brief an sich selbst am ersten Tag in der Oberstufe – ein Rat seines Therapeuten. Durch unglückliche Umstände gerät ein Ausdruck dieses Briefes in die Hände von Evans Mitschüler Connor. Die beiden kennen sich kaum, Connor ist ein schwieriger Einzelgänger. Kurz darauf nimmt er sich das Leben, wird mit dem Brief in der Tasche gefunden, den seine Eltern als Abschiedsbrief an Evan interpretieren. Evan, der der trauernden Familie Trost spenden will, behauptet, Connors bester Freund gewesen zu sein und spinnt die erfundene Geschichte immer weiter aus.

Und was hat nun Joan Crawford mit „Dear Evan Hansen“ zu tun? Die Hauptrolle in der Broadway-Musicalverfilmung wird von Ben Platt gespielt. Der ist 28. Die Figur, die er spielt, soll ein 17-jähriger Highschoolschüler sein. Platts Aussehen ist wie der viel zitierte Unfall, bei dem man nicht wegschauen kann. Trotz puppenhaft geschminktem Gesicht, aufgetufften Haaren und Kinderklamotten sieht er wie ein verkleideter Mittdreißiger mit Doppelkinn aus. Creepy!

Wie es sich für ein amerikanisches Musical gehört, sind die Songs von Benj Pasek und Justin Paul (u. a „The Greatest Showman“, „La La Land“) nett und catchy. Es wird viel geweint (vor und auf der Leinwand) und würde nicht der irritierende Anblick des fehlbesetzten Hauptdarstellers ablenken, wäre „Dear Evan Hansen“ ganz okay, wenn auch mit 137 Minuten Laufzeit entschieden zu lang.
Achtung: Bei uns startet der Film synchronisiert, schauderhafterweise wurden auch die Songs ins Deutsche übersetzt.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Dear Evan Hansen“
USA 2021
137 min
Regie Stephen Chbosky
Kinostart 28. Oktober 2021

alle Bilder © Universal Pictures International Germany

ANTLERS

ANTLERS

Wie kommt es, dass Kinder-Zeichnungen in Filmen oft wie abstrakte expressionistische Meisterwerke aussehen? Auch der erst 12-jährige Lucas malt seitenweise künstlerisch Hochwertiges in sein Schulheft. Die blutigen Bilder sind Ausdruck seiner Ängste, denn zu Hause verbirgt er ein entsetzliches Geheimnis. Dass er einerseits niemandem etwas davon verraten will, andererseits ausführliche Storyboards dieses Geheimnisses malt – das Drehbuch will es so. Seine Lehrerin Julia macht sich große Sorgen und bittet ihren Bruder Paul, den örtlichen Sheriff, der Sache nachzugehen.

Ein Feuilletonist würde jetzt irgendwas von „atmosphärisch dicht“ schwadronieren – aber das ist ja schließlich Framerate hier. Also kurz und knapp gesagt: „Antlers“ fängt gut an, verliert sich aber schnell in langweiligen Klischees.
„Let the right one in“, „Twin Peaks“, „Alien“, „The Thing“ – die Reihe der zitierten Klassiker ließe sich beliebig fortsetzen. Dazu noch ein alter Indianer, der geheimnisvolles Zeug von mythologischen Kreaturen nuschelt, ein bisschen Gesellschaftskritik und verdrängte Traumata aus der Kindheit. Zuviel des Guten. Nur Humor geht dem Arthouse-Horror komplett ab. Dafür nimmt er sich selbst viel zu ernst.

„Antlers“ ist ein großes Gewurschtel. Es entsteht der Eindruck, als hätte der Film eine verlustreiche Testscreeningschlacht verloren. Ganze Sequenzen wurden scheinbar entfernt oder nachträglich umgestellt. Das Stückwerk führt dazu, dass die Geschichte nie richtig in Fahrt kommt.
Am gelungensten sind die Szenen zwischen der besorgten Lehrerin Julia und ihrem schwer verstörten Schüler Lucas (sehr gut: Jeremy T. Thomas). Das hätte ein schön düsteres Drama über Missbrauch werden können, doch leider ist es nur ein durchschnittlicher Horrorfilm geworden.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Antlers“
USA 2021
99 min
Regie Scott Cooper
Kinostart 28. Oktober 2021

alle Bilder © Walt Disney Studios Motion Pictures Germany

HALLOWEEN KILLS

HALLOWEEN KILLS

Malus. Peius. Pessimus.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Halloween Kills“
USA 2021
105 min
Regie David Gordon Green
Kinostart 21. Oktober 2021

alle Bilder © Universal Pictures International Germany

VENOM: LET THERE BE CARNAGE

VENOM: LET THERE BE CARNAGE

Der Verleih besteht auf Spoiler-Verbot. Aber was soll man schreiben, wenn weder über die Geschichte noch über die überall gehypte Midcreditscene etwas verraten werden darf? Venoms pränormatives Interesse gilt dem Phänomen der Rache in seiner historischen und begriffsgeschichtlichen Genese, seiner ethnologisch und kulturanthropologisch fundierten Ausprägung und seinen Darstellungsformen im Bereich des Imaginären.

ODER ein Zitat aus dem Presseheft:

Venom wird erneut von Tom Hardy verkörpert. Die Regie übernahm Andy Serkis. In weiteren Hauptrollen sind Michelle Williams und Naomie Harris zu sehen. Den Bösewicht Cletus Kasady/Carnage spielt Woody Harrelson (im Woody-Harrelson-Auto-Modus / Anm. d. Red.)

Statt Kritik eine lahme Checklist:
Schauspieler – gut
Geschichte – nicht vorhanden
Effekte – okay
Der ganze Film – naja

Die gute Nachricht: Das blutleere CGI-Blutbad dauert nur 97 Minuten. In den USA hat „Venom: Let there be Carnage“ am Startwochenende 90 Millionen Dollar eingespielt. Beeindruckend. Und erstaunlich.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Venom: Let there be Carnage“
USA 2021
97 min
Regie Andy Serkis
Kinostart 21. Oktober 2021

alle Bilder © Sony Pictures

THE FRENCH DISPATCH

THE FRENCH DISPATCH

Wes Anderson ist ein Genie.

5/5

Es gibt wohl kaum einen Regisseur der Gegenwart, der so vor Originalität und visuellem Einfallsreichtum strotzt wie Wes Anderson. Sein neuester Film ist eine liebevoll komische Hommage an den Journalismus. Mit spielerischer Fantasie und visionärem Geist erweckt der Meisterregisseur eine Sammlung von herrlich schrulligen Geschichten zum Leben, die in der letzten Ausgabe des fiktiven Magazins „The French Dispatch“ veröffentlicht werden.
Neben seinem hochkarätigen Stammensemble (u. a. Bill Murray, Owen Wilson, Adrien Brody) haben diesmal die Oscarpreisträgerin Frances McDormand und Jungstar Timothée Chalamet einen unvergesslichen Auftritt. Für das typische Wes-Anderson-Feeling sorgen die fantastische Ausstattung und das liebevolle Spiel mit Miniaturen und Zeichentricksequenzen. „The French Dispatch“ ist ein Muss für Fans. In Cannes gab es dafür minutenlang Standing Ovations.

Wes Anderson ist ein überschätztes One-Trick-Pony.

1/5

Das englische Wort „pretentious“ wurde eigens für den US-amerikanischen Regisseur erfunden. Im Gegensatz zu Woody Allen, der auch nur eine Geschichte in sich trägt, diese aber wenigstens durch wechselnde Genres immer wieder neu verpackt, ergeht sich Anderson in reiner Selbstverliebtheit und zitiert sich am liebsten selbst. Den visuellen Schnickschnack, wie das Spiel mit Farbe und Schwarz-Weiß oder theaterhaft aufgeschnittene Sets kennt man mittlerweile zur Genüge.
Neben den üblichen Verdächtigen sind die immer latent genervt wirkende Frances McDormand und Jungstar Timothée Chalamet mit dabei. Letzterer macht ein paar ironische Bemerkungen über seine knabenhafte Figur. So originell sind Drehbuchautoren: Den gleichen Scherz gab es gerade erst in „Dune“ zu hören.
Wer bisher nicht mit dem Anderson-Universum warm geworden ist, den wird auch „The French Dispatch“ nicht bekehren. Für eine halbe Stunde mögen der visuelle Witz und die sprachliche Akrobatik ganz amüsant sein – auf 108 Minuten gedehnt ist es nur aufgeplusterte Langeweile.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „The French Dispatch“
USA 2020
108 min
Regie Wes Anderson
Kinostart 21. Oktober 2021

alle Bilder © Walt Disney Studios Motion Pictures Germany

THE LAST DUEL

THE LAST DUEL

Ritter Jean (Matt Damon) und Junker Jacques (Adam Driver) werden zu erbitterten Feinden, nachdem Jeans Frau, Marguerite (Jodie Comer), behauptet, von Jacques brutal vergewaltigt worden zu sein. Der beteuert zwar seine Unschuld, doch Jean glaubt seiner Frau und bringt den ehemaligen Freund vor Gericht. Der Ausgang eines vom König angeordneten Duells soll über Schuld und Unschuld entscheiden.

#metoo im 14. Jahrhundert – Die Drehbuchautoren Matt Damon, Ben Affleck und Nicole Holofcener lassen die Männer im Kettenhemd ausgesprochen schlecht aussehen. Die Handlung wird aus drei Perspektiven gezeigt: der des Ehemanns, der des Vergewaltigers und zuletzt der des Opfers. Den Kunstgriff, die gleiche Geschichte aus verschiedenen Blickwinkeln zu erzählen, kennt man zum Beispiel von der 40 Jahre alten ZDF-Miniserie „Tod eines Schülers“.

Matt Damon, durch eine Vokuhila und einen abscheulichen Kinnbart entstellt, liefert wie immer eine solide Leistung ab – dröge kann er gut. Ganz ausgezeichnet: Jodie Comer als missbrauchte Frau, die sich zur Wehr setzt. Adam Driver bleibt im Star Wars-Modus und gibt erneut den ambivalenten Shakespeare-Schurken, dessen britischer Akzent kommt und geht wie Ebbe und Flut. Die große Überraschung ist der Auftritt des platinblond gefärbten Ben Afflecks, der sich mit seinem losen Mundwerk aus einem lustigeren Film hierher verirrt hat.

Ridley Scotts visuelles Universum bleibt seit „Gladiator“ unverändert und kennt nur zwei Farbstimmungen: stahlblau und kerzenwarm. Auch die immer gleichen Schlachten bei beständig schlechtem Matsche-Wetter kennt man aus zahllosen anderen Abenteuerfilmen. Hundertfach kopiert und zitiert, sieht aber immer noch gut aus.

FAZIT

Ja, so san’s, die alten Rittersleut’ – wenn sie sich nicht gerade die Köpfe einschlagen, gibt es außer Saufen und Schnackseln wenig Freizeitbeschäftigung. „The Last Duel“ bietet nicht viel Neues, ist aber dank seiner Erzählstruktur – wie der Engländer sagen würde – growing on you. Häufig genug, dass bei einer Laufzeit von 2,5 Stunden in der letzten Stunde das große Mopsen einsetzt. Hier aber ist das Gegenteil der Fall: Anfangs ein bisschen zäh, doch je länger es dauert, desto interessanter wird es. Also Geduld, es lohnt sich am Ende.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „The Last Duel“
USA 2021
153 min
Regie Ridley Scott
Kinostart 14. Oktober 2021

alle Bilder © Walt Disney Studios Motion Pictures Germany

HOCHWALD

HOCHWALD

Lost in Südtirol. Mario (Thomas Prenn) schlägt sich mit Aushilfsjobs durchs Leben, in seiner Freizeit zieht er bunte Retro-Kleidung an und tanzt alleine in der Schulaula. Für die Einwohner in seinem streng katholischen Heimatdorf ist er eine spinnerte Dancing-Queen, auf so einen hat man gerade noch gewartet. Als Mario seinen Freund Lenz in Rom besucht, werden sie Opfer eines Terroranschlags in einer Schwulenbar.

Immer wenn er überfordert ist, zieht der heroinsüchtige Mario eine Faschingsperücke auf. Diese und viele andere Drehbuchideen erinnern daran, dass es sich bei „Hochwald“ um ein Regiedebüt handelt. Evi Romen hat ein gutes Gespür für Atmosphäre und inszeniert den Kontrast zwischen Dorfgemeinschaft und feindseliger Ausgrenzung glaubhaft. Doch die Regisseurin verzettelt sich im Laufe der Handlung zu sehr: Sexuelle Orientierung, Religion, Terrorismus und Drogensucht – die vielen komplexen Themen kann der Film nur streifen, das wirkt oft angestrengt. Im Interview sagt sie: „Das Weglassen ist mir sehr schwergefallen, weil ich sehr viel an sehr tiefen persönlichen Recherchen in dieses Projekt gesteckt habe und sehr viel Material hatte.“ Weniger wäre sehr viel mehr gewesen. Preise hat es trotzdem gehagelt: „Hochwald“ wurde mit dem Goldenen Auge des Zürich Film Festivals und dem Großen Diagonale Preis ausgezeichnet. Hauptdarsteller Thomas Prenn gewann den Österreichischen Filmpreis als „Bester männlicher Hauptdarsteller“.

INFOS ZUM FILM

Österreich / Belgien 2020
107 min
Regie Evi Romen
Kinostart 07. Oktober 2021

alle Bilder © Edition Salzgeber

TITANE

TITANE

Alles einsteigen, dabei sein, die nächste Fahrt geht rückwärts! Ein Film wie eine Achterbahnfahrt. Der Versuch, den Inhalt von „Titane“ zu beschreiben: Die kleine Alexia überlebt schwerverletzt einen Autounfall. Im Krankenhaus wird ihr eine Titanplatte in den Schädel geschraubt. Daraufhin entwickelt sie eine sehr innige Beziehung zu Autos, Martin Winterkorn hätte das gefallen. Naheliegend, dass sie sich im Erwachsenenalter ihren Lebensunterhalt als Erotik-Tänzerin bei Motorshows verdient. Eines Abends verlangt ein Fan mehr als ein Autogramm, seine Zudringlichkeit muss er mit dem Leben bezahlen. Um unterzutauchen, nimmt Alexia die Identität eines vor zehn Jahren verschollenen Jungens an. Dessen Vater, Feuerwehrkommandant Vincent, akzeptiert den vermeintlich zurückgekehrten Sohn ohne Zögern. Das seltsame Paar entwickelt eine ganz besondere Eltern-Kind-Beziehung.

So weit, so weird. Vielleicht sollte noch erwähnt werden, dass Alexia eine Serienmörderin ist und nicht in sondern von einem Auto geschwängert wird. Statt Blutungen und Milcheinschuss sondert ihr Körper Motoröl ab. Ja genau, so eine Art Film ist das. Regisseurin Julia Ducournau mag David Cronenberg, Body-Horror und Brutalität. Ein selbst zugefügter Nasenbeinbruch ist nur einer von vielen „Aua, ich kann nicht hinschauen“-Momenten des Films. „Titane“ ist unsinnig, absurd, unterhaltsam, verrückt und poetisch. Der What-the-Fuck-Faktor ist ungefähr so groß wie seinerzeit bei Darren Aronofskys „Mother!“. Das könnte je nach Geschmack zwischen null und fünf Sterne bekommen. Einigen wir uns also auf die goldene Mitte. Eins ist das provokante Gender-Verwirrspiel aber mit Sicherheit nicht: langweilig.

Von der Kritik fast einhellig als Meisterwerk und sogar als „Neuerfindung des Kinos“ gefeiert, gewann der Film dieses Jahr die Goldene Palme in Cannes.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Titane“
Frankreich / Belgien 2021
108 min
Regie Julia Ducournau
Kinostart 07. Oktober 2021

alle Bilder © Koch Films

Nö! Nö! Nönö! Dietrich Brüggemanns Ruf hat seit seinem #allesdichtmachen-Fiasko heftig gelitten. Zu Recht. Insgesamt eine selten dämliche Aktion, die allenfalls die Eitelkeit der beteiligten Personen vorgeführt hat. Nun also Brüggemanns neuer Film „Nö“. Ganz unvoreingenommen besprochen, denn Kunst und Künstler soll man ja bekanntlich voneinander trennen.

Zwischen genial und dilettantisch wechselnd, erzählt die romantische Tragikomödie von einem Paar, das über sieben Jahre hinweg versucht, seine Liebe zu finden, beziehungsweise zu erhalten. Der Arzt Michael (Alexander Khuon) und seine Freundin, die Schauspielerin Dina (Anna Brüggemann), sind eigentlich glücklich miteinander. Doch eines Nachts überlegt Michael, ob es nicht besser wäre, sich zu trennen. Kann das schon alles gewesen sein? Weiter so mit dem vorgegebenen Spießerleben oder ausbrechen?

Eine Generation auf den Seziertisch. Kaum jemand zwischen 30 und 60, der sich nicht in mindestens einem der vom Geschwisterpaar Anna und Dietrich Brüggemann erdachten Bilder wiederfinden wird. Die Vorliebe des Regisseurs fürs Surreale erzeugt schöne Momente, etwa bei der zu einer Sekunde festgefrorenen Unterhaltung zwischen einem aufgeschnittenem Patienten auf dem OP-Tisch und seinem Arzt. Anderes, wie die „Flucht“ aus einer Geburtsklinik, die sich unversehens in eine Kriegshölle verwandelt (soll wohl für das gefährliche Leben da draußen stehen), erhebt zu penetrant den Zeigefinger und wirkt bemüht.

Wie schon Brüggemanns Berlinale-Gewinner „Kreuzweg“ kommt „Nö“ fast ohne Schnitte aus. Kameramann Alexander Sass drehte die 15 Szenen größtenteils statisch in langen One-shot-Einstellungen. Das verleiht dem Film eine theaterhafte Note. Und ähnlich einem Theaterabend gibt es auch hier großartige und weniger gelungene Momente auf der Bühne zu sehen. So ist das szenische Liebesdrama am Ende ein bisschen von allem: lustig und ernst zugleich, bisweilen auch angestrengt und banal.

INFOS ZUM FILM

Deutschland 2021
119 min
Regie Dietrich Brüggemann
Kinostart 30. September 2021

alle Bilder © FLARE FILM / FILMWELT Verleihagentur

JAMES BOND – KEINE ZEIT ZU STERBEN

JAMES BOND – KEINE ZEIT ZU STERBEN

Sag zum Abschied leise Servus. Daniel Craig hat die Schnauze voll, dies ist unwiderruflich sein letzter Bond. Mit etwas Glück wird aus dem Abschiedsschmerz im Laufe der Zeit Vermissen und dann eine schöne Erinnerung. Durch die zahlreichen Verschiebungen hatten die Bond-Fans knapp anderthalb Jahre Zeit, innerlich Abschied zu nehmen. Ursprünglich sollte es bereits im April 2020 geschüttelte Martinis geben. Wenigstens für Daniel Craig eine Erlösung, denn der wollte sich nach seinem letzten Auftritt in „Spectre“ „lieber die Pulsadern aufschneiden, als noch einmal als Bond vor der Kamera zu stehen“. Erst schmale 50 Millionen Pfund Gage konnten ihn überzeugen, ein allerletztes Mal die Walther PPK zu zücken.

Hat sich das lange Warten gelohnt? Großes JA und kleines nein. Es ist natürlich ein Erlebnis, den Film im Kino zu sehen. Die ersten zwei Drittel sind auch wirklich toll. Es gibt zahlreiche charmante Hinweise auf die letzten 24 Filme, der Humor stimmt, Bilder und Musik sind groß. Alles noch besser als erwartet. Nur das letzte Drittel ist, wie schon bei „Spectre“, der Schwachpunkt des Films und macht ihn gefühlte 45 Minuten zu lang.

Zum Inhalt nur so viel: James Bond kommt einem geheimnisvollen Bösewicht auf die Spur, der im Besitz einer brandgefährlichen neuen Technologie ist. Die Welt muss ein weiteres Mal gerettet werden. 

Fast drei Stunden Zeit nimmt sich Regisseur Cary Joji Fukunaga, die Geschichte von Bond zu Ende zu erzählen. Daniel Craig, der die Rolle des Superspions anfangs mit düsterer Brutalität gespielt hat, nähert sich auf seine alten Tage erfrischenderweise der gehobenen Augenbrauen-Ironie von Roger Moore an. Im 25. Kapitel der Filmreihe hat neben einem wenig überzeugenden Rami Malek als Ober-Schurke auch der in „Spectre“ sträflich unterforderte Christoph „Blofeld“ Waltz einen Kurzauftritt. Die Locations sind wie immer atemberaubend, die Stunts irrwitzig, die Bond-Frauen schön (dass sie nicht mehr Bond-Girls heißen, ist Mit-Drehbuchautorin Phoebe Waller-Bridge zu verdanken) und die Sprüche gewohnt lässig. In einer Top 5 der Craig-Bonds würde „Skyfall“ immer noch Platz 1 belegen. Silber für „Casino Royale“ und „No Time to Die“ direkt dahinter. Insgesamt ein fulminanter und würdiger Abschied aus dem Geheimdienst ihrer Majestät.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „James Bond – No Time To Die“
GB / USA 2020
163 min
Regie Cary Joji Fukunaga
Kinostart 30. September 2021

alle Bilder © Universal Pictures International

TED BUNDY: NO MAN OF GOD

TED BUNDY: NO MAN OF GOD

Als sie das Drehbuch zugeschickt bekommt, fragt sich Regisseurin Amber Sealey zu Recht: „Warum wollen die noch einen Ted-Bundy-Film machen?!“, gibt es doch mittlerweile unzählige Spiel- und Dokumentarfilme, die sich mit dem Leben des Serienkillers auseinandersetzen. Bundy vergewaltigte und tötete laut eigener Aussage mehr als 30 Frauen und Mädchen. Bill Hagmaier, einer der ersten Profiler, die dazu ausgebildet wurden, psychologische Täterprofile von Serienmördern zu erstellen, sollte im Auftrag des FBI den zum Tode Verurteilten zum Reden bringen. Das Interview zog sich über fünf Jahre, die Tonbandaufzeichnungen lieferten später die Vorlage für den Bestseller „Ted Bundy: Conversations with a Killer“.

„Ted Bundy: No Man of God“ ist ein Kammerspiel: Die meisten Szenen finden im Verhörraum statt. Bundy strahlt eine subtile Bösartigkeit aus, der sich Hagmaier kaum entziehen kann. Ein wenig erinnert das Katz- und Mausspiel an Hannibal Lecter und Clarice Starling. Elijah Wood spielt Hagmaier mit einer unaufdringlichen Energie, sanft und großäugig. Luke Kirby, der dem echten Bundy frappierend ähnlich sieht, verkörpert die Manierismen und Sprache des Mörders hervorragend. Obwohl sich einige der Interviewszenen unnötig in die Länge ziehen, bleibt die Spannung dank der schauspielerischen Leistungen durchweg erhalten. Regisseurin Amber Sealey versteht es, ihre weibliche Sicht unaufdringlich in den Film einzuweben. Manchmal verharrt die Kamera wie nebenbei kurz auf einer Frau am Rande einer Einstellung – eine Statistin auf dem Bürgersteig, in einem Auto, in einem Flur – als leise Erinnerung daran, dass in Filmen über männliche Serienmörder die Opfer oft vergessen werden.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „No Man of God“
USA 2021
100 min
Regie Amber Sealey
Kinostart 23. September 2021

alle Bilder © Central Film

SCHACHNOVELLE

SCHACHNOVELLE

Die gymnasiale Oberstufe kann sich freuen: Wenn in Zukunft Stefan Zweigs Weltbestseller „Schachnovelle“ durchgenommen wird und der Lehrer den 4:3 Röhrenfernseher auf dem quietschenden Rollwagen ins Klassenzimmer fährt, dann wird (hoffentlich) nicht mehr die zähe 1960er-Verfilmung mit Curd Jürgens und Mario Adorf gezeigt, sondern diese fabelhafte Neuverfilmung von Philipp Stölzl.

Die Macher haben sich entschieden, aus der 1942 von Zweig im Exil geschriebenen Geschichte lieber ein Stück pralles Kino als langweiliges Arthouse zu machen. Die Bilder von Kameramann Thomas W. Kiennast sind groß und cineastisch, der Schnitt von Sven Budelmann virtuos und Ingo Ludwig Frenzels Soundtrack kann locker mit jeder Hollywoodproduktion mithalten. Und erst die Schauspieler: Oliver Masucci trägt den Film, spielt die vielschichtige Figur des Dr. Bartok präzise, wechselt mühelos zwischen ironisch-süffisantem Wiener Schmäh und bis zum Irrsinn gequältem Opfer. Sein Kontrahent Albrecht Schuch zeigt in einer Doppelrolle erneut, dass er zu den besten Schauspielern der jüngeren Generation gehört.

Stölzl und Drehbuchautor Eldar Grigorian interessieren sich nicht für eine artige Buchverfilmung, sie vermischen und ordnen die Geschichte neu. Das monatelange Verhör Bartoks im Hotel Metropol durch den Gestapo-Leiter Böhm, in dem der Anwalt geheime Nummernkonten preisgeben soll, ist labyrinthisch mit der Schiffsreise Bartoks von Europa nach New York verwoben. Als Zuschauer kann man bald nicht mehr zwischen Realität, Einbildung, Wahrheit und Wahnsinn unterscheiden. Ein surrealer Psychothriller, ein großer Wurf.

INFOS ZUM FILM

Deutschland 2020
111 min
Regie Philipp Stölzl
Kinostart 23. September 2021

alle Bilder © STUDIOCANAL

TOUBAB

TOUBAB

Das ist mal echt Pech: Babtou ist gerade aus dem Knast entlassen worden, seine Kumpels veranstalten eine spontane Willkommensparty und Zack – ein dummer Spruch, Schlägerei, Polizei. Die Konsequenzen sind dramatisch: Babtou soll in den Senegal abgeschoben werden, obwohl er in Deutschland geboren wurde und in Frankfurt aufgewachsen ist. Seine einzige Chance: die Heirat mit einer Deutschen. Da sich auf die schnelle keine willige Kandidatin finden lässt, springt Freund Dennis ein. Die neue „schwule“ Liebe sorgt im Hochhaus Ghetto für Ärger und Verwirrung.

Klingt nach alberner Komödie, ist aber ein überraschend guter Film. Natürlich lassen sich ein paar Klischees nicht vermeiden – so sind die beiden deutschen Beamten, die dem jungen Glück eine Scheinehe nachweisen wollen, ein bisschen sehr dick aufgetragen. Und auch auf die penetranten „Ja Mann, Digger, Alter“-Dialoge könnte man gut verzichten. Aber die Geschichte hat Herz, viele gute Momente und vor allem eine tolle Besetzung. Farba Dieng und Julius Nitschkoff spielen die besten Freunde erfrischend unverkrampft und mit dem richtigen Timing für Lässigkeit und Tiefgründigkeit. Für ihre schauspielerische Leistung wurden die beiden mit dem Bayerischen Filmpreis ausgezeichnet. Regisseur Florian Dietrich wollte einen Film machen, „der nicht elitär ist und trotzdem eine klare politische Botschaft hat: ein bunter, starker, aufrechter Mittelfinger sozusagen.“ Das ist geglückt.

INFOS ZUM FILM

Deutschland / Senegal 2021
96 min
Regie Florian Dietrich
Kinostart 23. September 2021

alle Bilder © Camino

EIN NASSER HUND

EIN NASSER HUND

Der 16-jährige Iraner Soheil zieht mit seinen Eltern nach Berlin-Wedding. Schnell freundet er sich beim Kicken mit ein paar Migrantenjungs an, verliebt sich in das türkische Mädchen Selma. Was Soheil seinen neuen Freunden verschweigt: Er ist kein Muslim, sondern Jude. Als er sich gezwungenermaßen outet, ist der Beef (#Jugendsprache) vorprogrammiert. Krass antisemitisch! Ja, Mann!

Der Wedding ist nicht nur im Kommen (seit über 50 Jahren), sondern auch Heimat für Araber, Kurden, Türken, Palästinenser – alles eine große Familie. Doch wehe, ein Jude verirrt sich hierhin, dann ist es mit der Toleranz vorbei. „Für die Deutschen bin ich ein Kanake, für die Türken ein Jude und für die Israelis ein Terrorist“, stellt Soheil resigniert fest. Wie soll es da jemals Weltfrieden geben?

Viel zu viel reißt der Film in zu kurzer Zeit an: Die Hauptfigur Soheil verändert sich im Sauseschritt vom guten Jungen zum gefeierten Sprayer, dann zum bösen Dealer, Messerstecher, unfreiwilligen Vater, Bandenopfer, Fachmann für Nahostkonflikte und schließlich zum israelischen Soldaten. Jeder Erinnerungsfetzen aus der Buchvorlage von Arye Sharuz Shalicar wird unmotiviert zu einer Filmszene verwurstet, egal, ob das einen größeren Zusammenhang ergibt oder nicht. Möglich, dass der Film erst am Schneidetisch zerhackstückt wurde, aber flüssig erzählt geht anders.

Damir Lukačević verfolgt das hehre Ziel, einen politischen Film über Hass und Gewalt, Toleranz und das schwierige Zusammenleben verschiedener Kulturen zu machen. Das ist nur teilweise geglückt. Die jungen (Laien)-Darsteller machen ihre Sache ordentlich, doch einige Szenen, besonders die mit Kida Khodr Ramadan (unvermeidlich), bewegen sich auf gehobenem Schüler-Theater-Niveau.

INFOS ZUM FILM

Deutschland 2021
102 min
Regie Damir Lukačević
Kinostart 09. September 2021

alle Bilder © Warner Bros. Pictures Germany

SHANG-CHI AND THE LEGEND OF THE 10 RINGS

SHANG-CHI AND THE LEGEND OF THE 10 RINGS

Dass es Marvel mit dem asiatischen Markt ernst meint, beweist schon die Anfangsszene: Da wird gefühlt 20 Minuten lang ausschließlich Mandarin mit Untertiteln gesprochen. Eine kleine Sensation für einen US-Blockbuster.

„Shang-Chi“ erzählt die Geschichte eines jungen Mannes, der sich dem Einfluss seines Vaters entziehen möchte, einem der mächtigsten Verbrecher der Welt. Es geht um Familie, Trauer und natürlich wie immer bei Marvel um Heldenbildung. So wie zuletzt „Black Panther“ die schwarze, integriert nun „Shang-Chi“ die asiatische Community ins Superhelden-Universum.

Der neue Marvel-Film ist Teil der PHASE IV (Nichtkenner lesen jetzt sowieso nicht weiter) und bläst kräftig frischen Wind ins MCU. „Shang-Chi and the Legend of the 10 Rings“ besticht durch eine wilde Mischung aus Martial-Arts und Fantasy. Die furiosen Kampfszenen (vor allem in einem Bus und später auf einem wackligen Hochhausgerüst) sind perfekt choreografiert und bereiten großen Spaß. „Crouching Tiger, Hidden Dragon“ auf Speed. Wie üblich bei Marvel, ist der dritte Akt mit seiner kopfschmerzerzeugenden CGI-Schlacht der uninteressanteste Teil des Films. Dafür gibt es ein unerwartetes Wiedersehen mit Fuchur, dem Glücksdrachen aus der unendlichen Geschichte … Oder zumindest einem engen Verwandten.

Obwohl die 133 Minuten Laufzeit ein paar Längen haben, ist „Shang-Chi“ visuell aufregendes, äußerst unterhaltsames Überwältigungskino. Und das Sitzenbleiben bis zum Ende des Abspanns lohnt sich: die beiden After-Credit-Szenen machen schon mal Appetit auf die nächsten Marvel-Abenteuer.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Shang-Chi and the Legend of the 10 Rings“
USA 2021
133 min
Regie Destin Daniel Cretton
Kinostart 02. September 2021

alle Bilder © Marvel Studios

BEFLÜGELT – EIN VOGEL NAMENS PENGUIN BLOOM

BEFLÜGELT – EIN VOGEL NAMENS PENGUIN BLOOM

Sam Bloom (Naomi Watts) führt mit ihrem Mann Cameron (Andrew Lincoln) und ihren drei Söhnen ein beneidenswert glückliches Leben in Australien. Herrliches Haus direkt am Meer – perfekt, denn Sam ist leidenschaftliche Surferin. Alles könnte so schön sein, bis eines Tages ein Unfall das Leben der Familie erschüttert. Sam bricht sich das Rückgrat und ist danach von der Brust abwärts gelähmt. Aus ihrer Depression und Verbitterung können ihr weder Mann noch Kinder heraushelfen. Erst ein adoptierter Flötenvogel (heißt so, ist aber nur eine Krähe, die sich für was Besseres hält) verleiht der Gelähmten wieder Zuversicht und holt sie ins Leben zurück.

Okay, das klingt wirklich furchtbar: Ein Vogel, der „Flügel“ verleiht. Aber „Penguin Bloom“, wie der Film viel weniger peinlich im Original heißt, ist ein überraschend unkitschiges Drama mit herausragender Besetzung. Andrew Lincoln hat sich sichtlich von der jahrelangen Zombiejagd erholt, die drei Kinder machen ihre Sache ausgezeichnet und vor allem Naomi Watts verleiht der Geschichte mit ihrem leisen, zurückhaltenden Spiel die nötige Erdung. Mit anderer Besetzung hätte das auch gründlich schiefgehen können. Jeder Sonntagabend auf dem ZDF ist dafür Beweis.

Eine gelähmte Mutter, die sich zurück kämpft – das wäre Stoff genug für einen abendfüllenden Film gewesen. Die inspirierende Krähe hätte es da gar nicht gebraucht. Doch Sam Blooms Geschichte ist wahr. Dass ihr bei ihrem Weg aus der Depression ein Vogel zur Seite stand – das hat sich kein Drehbuchautor, sondern das Leben ausgedacht.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Penguin Bloom“
USA / Australien 2020
95 min
Regie Glendyn Ivin
Kinostart 19. August 2021

alle Bilder © Leonine

FREE GUY

FREE GUY

Guy (Ryan Reynolds) ist ein kleiner Angestellter bei der Free City Bank und grinst sich mit optimistischer Heiterkeit durchs Leben. Bis er eines Tages seiner Traumfrau begegnet und dabei entdeckt, dass er nichts weiter als eine Hintergrundfigur in einem Open-World-Videospiel ist. Surprise! Nichts ist real, alles fake. Guy beschließt, der Held seiner eigenen Geschichte zu werden, denn der finstere Entwickler des Spiels (Taika Waititi) plant, die bunte Videowelt offline zu schalten.

Ryan Reynolds – ein Schauspieler, bei dem man sich immer fragt, ob seine Rolle als Deadpool nur ein zufälliger Glücksgriff war, oder ob ihn Knebelverträge daran hindern, in besseren Filmen mitzuspielen. Auf einen guten Film folgen bei ihm zuverlässig drei mäßige. Und auch Taika Waititi liefert mit seinem Auftritt in „Free Guy“ unfreiwillig den Beweis, dass nicht alles, was er anfasst, automatisch zu Gold wird.

„Free Guy“ ist die knallbunte Pixel-Version von „The Truman Show“. Lauter, schneller, glatter, oberflächlicher. Eine Neuinterpretation für die Gamer-Generation sozusagen. Fragt sich nur, ob die angesprochene Zielgruppe die Energie aufbringt, sich von ihrer Konsole zu lösen, um den Weg ins Kino zu finden.

Wieder mal eine Komödie, die im Trailer vielversprechender aussieht, als sie es am Ende ist. Einige nette visuelle Ideen, ein charmanter Hauptdarsteller und ein paar witzige Verweise auf das Marvel Universum reichen nicht, um „Free Guy“ vor seiner Mittelmäßigkeit zu bewahren.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Free Guy“
USA 2021
115 min
Regie Shawn Levy
Kinostart 12. August 2021

alle Bilder © Walt Disney Studios Motion Pictures Germany

NAHSCHUSS

NAHSCHUSS

Die DDR, eine Sinfonie in Beige. Wer den Geruch von Wofasept und das Kratzen von Dederon vermisst, wer überhaupt findet, dass das Leben viel zu bunt ist, der kann jetzt im Kino eine kleine Zeitreise zurück in die Deutsche Demokratische Republik anno 1981 machen.

„Nahschuss“ – der Titel bezieht sich auf eine Hinrichtungsmethode, bei der dem Verurteilten hinterrücks direkt ins Genick geschossen wurde – lässt von der ersten Einstellung an keinen Zweifel aufkommen: Das wird schlecht enden.
Werner Teske war am 26. Juni 1981 der letzte DDR-Bürger, an dem die Todesstrafe vollstreckt wurde. „Nahschuss“ ist von seiner Geschichte inspiriert.

Der Ingenieur Franz Walter (Lars Eidinger) ist überglücklich, als ihm seine Professorin eröffnet, er sei als ihr Nachfolger im Gespräch. Im Gegenzug soll er beim Auslandsnachrichtendienst der DDR tätig werden. Zusammen mit seinem Kollegen Dirk (Devid Striesow) wird er zu Einsätzen in die feindliche BRD geschickt. Anfangs noch ganz pflichtbewusster Sozialist, erwecken die menschenverachtenden Methoden der Stasi bei Franz bald tiefsten Widerwillen und lösen eine Depression aus. Selbst seine Frau Corina (Luise Heyer) dringt kaum noch zu ihm durch. Franz will aussteigen, raus aus dem System, doch es gibt keinen Weg.

Von Ostalgie keine Spur. Franziska Stünkels Film ist eine Abrechnung mit einem Unrechtssystem, in dem die Methoden des Nationalsozialismus unter neuem politischen Deckmantel fortgesetzt wurden. Deutschlands fleißigster Schauspieler Lars Eidinger spielt Franz Walter leise und zurückhaltend. Er macht nachvollziehbar, in welchen Zwängen sich Menschen in der DDR ausgesetzt sahen, egal ob sie für oder gegen den Staat waren. Ganz hervorragend auch Devid Striesow als dubioser Stasi-Kollege, der sich zwar linientreu gibt, aber gleichzeitig den Verlockungen des Westens nicht widerstehen kann. Luise Heyer macht mit ihrer nuancierten Darstellung das herausragende Trio komplett.
„Nahschuss“ ist ein düsterer, sehr ernsthafter Film über ein vergessenes Kapitel deutscher Geschichte.

INFOS ZUM FILM

Deutschland 2020
116 min
Regie Franziska Stünkel
Kinostart 12. August 2021

alle Bilder © Alamode Film

GENERATION BEZIEHUNGSUNFÄHIG

GENERATION BEZIEHUNGSUNFÄHIG

Beziehungen und Romantik sind Tim (Frederick Lau) ein Gräuel. Nach One-Night-Stands meldet er sich grundsätzlich nicht zurück, auf Tinder wartet schon die nächste Frau. Als er sein weibliches Pendant Ghost (Luise Heyer) kennenlernt und sich unversehens in sie verliebt, muss er von seiner eigenen bitteren Medizin kosten: Nach ein paar intensiven Dates wird er von seiner Angebeteten geghostet.

„Generation Bziehungsunfähig“ ist eine weitgehend unlustige Komödie mit einem nervigen Frederick Lau und einer charmanten Luise Heyer. Michael Nasts Sachbuch-Bestseller, 2016 erschienen, liefert die Vorlage. In der Verfilmung dient die verstolperte Liebesgeschichte als lockere Rahmenhandlung für eine Reihe eher zusammenhangloser Begebenheiten aus dem Leben eines Beziehungskrüppels.

„Die Känguru-Chroniken“ waren letztes Jahr so erfolgreich, dass gerade eine Fortsetzung gedreht wird. Folglich gibt es eine Menge Zuschauer, die auch Helena Hufnagels Film zum Brüllen komisch finden werden. Humor ist eben Geschmacksache, wusste schon Til Schweiger.
Apropos: Besonders störend an „Generation Beziehungsunfähig“ ist wieder mal die Unart, jede Szene mit einem Popsong zu unterlegen. Hier scheint die Auswahl von einem pensionierten rbb-Redakteur getroffen worden zu sein. Als Tim und sein Opa einen Joint rauchen ist die musikalische Begleitung dazu – richtig: Don’t Bogart That Joint – so originell kann nur deutsche Comedy sein.

INFOS ZUM FILM

Deutschland 2020
80 min
Regie Helena Hufnagel
Kinostart 29. Juli 2021

alle Bilder © Warner Bros. Pictures Germany

OLD

OLD

Spoiler-Tourette:
„The Sixth Sense“ – Bruce Willis war die ganze Zeit tot!
„Unbreakable“ – Mr. Glass ist der Bösewicht!
„The Village“ – Die Handlung spielt in der Gegenwart!

In der Tradition, den großen Twist am Ende eines M. Night Shyamalan-Films nicht zu verraten, besteht der Verleih auf einem Spoiler-Verbot. Also gut: Stillschweigen. Wenigstens das sei verraten: Shyamalan hat im Laufe seiner Karriere ein paar gute, viele schlechte und einige miserable Filme gemacht. „Old“ gehört zweifelsohne zur letzteren Kategorie.

Ein Ehepaar (Gael García Bernal, Vicky Krieps) will sich mit seinen beiden Kindern, 6 und 11 Jahre alt, an einem paradiesischen Strand erholen. Doch der feuchte Südsee-Bacardi-Werbetraum birgt ein dunkles Geheimnis: Einmal dort angelangt, kann man den Strand nicht mehr verlassen und – noch schlimmer – wird dort trotz SPF 50 rasend schnell alt. Der Albtraum aller Eltern: Gerade hat die Sechsjährige noch Sandburgen gebaut, schon eine Stunde später ist sie ein schwangerer Teenager. Die Uhr tickt, denn am Ende eines Tages ist ein Menschenleben rum und es wartet Gevatter Tod.

Und jetzt alle erschrocken schauen! „Old“ offenbart die beiden großen Schwächen Shyamalans: Selbst aus halbwegs guten Darstellern kann er unbegabtes Laienspiel herauskitzeln (zur Erinnerung: Mark Wahlberg in „The Happening“) und seine Dialoge sind oft derart unbeholfen und angestrengt wichtigtuend, dass sie höchstens für ein paar unfreiwillige Lacher taugen.

Die eigentlich interessante Idee vom zeitfressenden Strand (die Vorlage liefert die Graphic Novel „Sandcastle“) wird in der Verfilmung zu einer missglückten Mischung aus Twilight Zone und Fantasy Island. Fehlt nur Hervé Villechaize, der als Tattoo um die Ecke biegt.
Kleiner Spoiler: Die Auflösung am Ende ist viel weniger aufregend, als sich Shyamalan das vorgestellt hat.
Einen halben Punkt extra gibt es für den trashigen Unterhaltungswert.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Old“
USA 2020
108 min
Regie M. Night Shyamalan
Kinostart 29. Juli 2021

alle Bilder © Universal Pictures International Germany

NOBODY

NOBODY

„Mister Cellophane shoulda been my name ‚cause you can look right through me“

Der Song aus dem Musical „Chicago“ trifft zu 100 Prozent auf Hutch Mansell zu – dem Inbegriff eines durchsichtigen Zellophan-Mannes. Der Familienvater führt ein eXtra-langweiliges Leben und wird von Kollegen, Frau und Kindern konsequent übersehen. Erst ein nächtlicher Einbruch bei ihm zu Hause setzt eine Ereigniskette in Gang, die aus dem braven Langweiler einen blutigen Rächer macht.

„John Wick“ lässt grüßen – Die Ähnlichkeiten sind kein Zufall, Drehbuchautor Derek Kolstadt hat sich neben „Nobody“ auch das enorm erfolgreiche Keanu Reeves-Franchise ausgedacht. Dementsprechend brilliert „Nobody“ vor allem mit seinen blutigen Action-Szenen. Die sind ausgeklügelt choreografiert, rasant geschnitten und haben hohen Unterhaltungswert. An der ein oder anderen Stelle gibt’s zwischen den Schägereien auch was zu lachen, Punkte aber vor allem für die Besetzung: Bob Odenkirk macht es sichtlich Spaß, endlich mal körperlich zu werden, nachdem er sich jahrelang als aalglatter Anwalt Saul Goodman aus allen brenzligen Situationen nur rausquatschen durfte. Leider raubt die deutsche Synchronisation mindestens 80 % seines Charmes – wenn möglich, die Originalversion schauen.

Kein Spoiler-Alert: Dass hinter der Mr. Nobody-Fassade ein Berufskiller steckt, ist spätestens seit dem Trailer keine Überraschung mehr. Ist „Nobody“ ein guter Film? Nicht unbedingt. Aber Bob Odenkirks neue Karriere als Actionheld funktioniert ganz gut. Bleibt nur zu hoffen, dass er nicht den gleichen Weg wie Liam Neeson oder Bruce Willis einschlägt, zwei ehemals hervorragende Schauspieler, die mittlerweile nur noch mit den immer gleichen Action-Flics ihr Geld machen.

FAZIT

Gehobene Konfektionsware mit guten Schauspielern.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Nobody“
USA 2021
92 min
Regie Ilya Naishuller
Kinostart 01. Juli 2021

alle Bilder © Universal Pictures International Germany

CRUELLA

CRUELLA

Disney verdonnert zu absolutem Stillschweigen und Spoiler-Verbot bei Höchststrafe. Deshalb nur ein Satz zum Inhalt: „Cruella“ erzählt mit jeder Menge Camp die Anfänge der aus „101 Dalmatiner“ bekannten Super-Schurkin mit der unguten Vorliebe für etwas zu echten Animal-Print.

Schon wieder die nächste Realverfilmung eines Zeichentrickklassikers aus dem Mäusestudio. Im Unterschied zu den bisherigen Versuchen arbeitet sich diese Neuinterpretation aber nicht eins zu eins an ihrer Vorlage ab. Und – Überraschung: „Cruella“ ist richtig gut geworden. Look und Story sind erstaunlich düster und mutig für einen Disneyfilm – mehr „The Joker“, weniger „Pongo und Perdita“.

Sollte der Film im nächsten Jahr Oscars gewinnen (falls es bis dahin noch Oscars gibt, die Golden Globes haben sich ja gerade selbst erledigt), dann verdientermaßen für Hair & Makeup, Production Design und Kostüme!

Laufsteg, Glamour, Designerdrama – wer nach Ende der originalbesetzten TV-Show „Project Runway“ Modeentzugserscheinungen verspürt, kommt hier auf seine Kosten. „Cruella“ ist ein einziges Fashion-Statement. Kostümdesignerin Jenny Beavan (u.a. „Mad Max – Fury Road“) präsentiert eine fantastische Kollektion nach der anderen. Zurückhaltung ist passé – das ist wie eine Haute Couture-Show auf Koks, ausgedacht von Vivienne Westwood, Yves Saint Laurent und Karl Lagerfeld.

„Cruella“ ist all das, was „Birds of Prey (And the Fantabulous Emancipation of One Harley Quinn)“ gerne gewesen wäre: originell, schräg und mit liebevoll gzeichneten Figuren erzählt. Die Stars des Films sind (neben den Kostümen) die beiden oscargekrönten Emmas. Emma Stone mixt in der Titelrolle Bosheit, Irrsinn und Verletzlichkeit zu einem perfekten Cocktail. Und Emma Thomson spielt als niederträchtige Baroness von Hellman sogar Meryl Streeps Prada-Hexe an die Wand.

FAZIT

Fantasievoller, Disney-untypischer Spaß. Eher nix für Kinder.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Cruella“
USA 2020
134 min
Regie Craig Gillespie
Kinostart 27. Mai 2021 (wo möglich)
und ab dem 28. Mai mit VIP-Zugang* auf Disney+

alle Bilder © Walt Disney Studios Motion Pictures Germany

THE DISSIDENT

THE DISSIDENT

Kein Märchen aus 1001 Nacht: Es war einmal ein tapferer Journalist namens Jamal Ahmad Khashoggi. Der lebte in den USA und schrieb für die angesehene Washington Post. Eines Tages befand der Kronprinzen von Saudi Arabien der Schreiberling sei lästig, denn der kritisierte ihn öffentlich.

Als der wackere Jamal seine Verlobte Hatice ehelichen wollte, besuchte er das saudi-arabische Konsulat in Istanbul. So geschehen am 2. Oktober 2018. Danach ward er nie mehr gesehen.

Schnell gab es Hinweise, Prinz Mohammed bin Salman stecke hinter der Ermordung seines Rivalen. Es wurden ein paar Bauernopfer gebracht, doch obwohl die Beweislast erdrückend war, gab es bis heute keinerlei Bestrafung oder nennenswerte politische Konsequenzen für seine Hoheit. Und wenn Jamal nicht gestorben wäre, dann lebte er noch heute. Ende.

„The Dissident“ von Regisseur und Oscar-Gewinner Bryan Fogel („Ikarus“) ist ein Dokumentar-Thriller, der die Geschichte um die Vertuschung eines unglaublichen Mordfalls erzählt. Bislang unveröffentlichtes Video-Material und aufschlussreiche Interviews mit Weggefährten des Ermordeten machen „The Dissident“ zu einer spannenden True-Crime-Story über Macht und Machtmissbrauch im Digitalzeitalter.

Inhaltlich gelungen, formal gewaltig übertrieben: Mit aufwendigen Animationen und bedrohlicher Musik wirkt der Film wie ein Hollywood-Thriller. Schnitt und Vertonung erinnern eher an „Jason Bourne“ als an eine seriöse Dokumentation. Verstärkt wird die Effekthascherei von einer dramatisch eingesprochenen deutschen Synchronspur. Wenn möglich also lieber die OmU-Version schauen. Mit fast 2 Stunden Laufzeit hätten auch ein paar Straffungen nicht geschadet.

Trotz der Abstriche ist „The Dissident“ ein informatives Stück über Korruption im Nahen Osten und dessen Verstrickungen mit der westlichen Welt. Nebenbei wird in einer hochinteressanten Sequenz erklärt, wie das mit der Meinungsmache bei Twitter und Co. funktioniert: Fliegen und Bienen – wer hätte das gedacht? Sehr erhellend.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „The Dissident“
USA 2020
118 min
Regie Bryan Fogel
ab 16. April 2021 digital zu kaufen, ab 23. April als VoD zu leihen

Plakat The Dissident

alle Bilder © DCM

DER GEHEIME GARTEN

Niemand mag arrogante Klugscheißer. Das muss auch die 10-jährige Mary Lennox (Dixie Egerickx) erkennen. Obwohl sie gerade beide Eltern verloren hat, bringt kaum jemand Mitgefühl für die hochnäsige Waise auf. Ihr einziger Verwandter ist der trübsinnige Onkel Archibald (Colin Firth), der als Witwer mit seinem kränklichen Sohn ein düsteres Landgut in Yorkshire, England bewohnt. Um der gestrengen Aufsicht von Haushälterin Mrs. Medlock (Julie Walters) zu entfliehen, erkundet Mary die neblig-graue Moorlandschaft rund um das Anwesen auf eigene Faust. Dabei stößt sie zufällig auf einen verwunschenen „geheimen“ Garten. Gemeinsam mit ihrem Cousin und ihrem neugewonnen Freund Dickon entdeckt sie dort eine magische Welt, die nicht nur ihr eigenes Leben komplett verändert.

Das 1911 erschienene Buch „The Secret Garden“ von Frances Hodgson Burnett wurde schon unzählige Male verfilmt. Diese Version von Marc Munden ist eine interessante Mischung aus Hitchcocks Gothic-Horror-Klassiker „Rebecca“ und kunterbuntem Schlumpfhausen-Film geworden. Eine Mixtur mit ein paar Schwächen: Die zickige Mary nervt zu Beginn sehr und der jauchzende Geigen-Score hätte auch ein paar Gänge zurückschalten können. Aber visuell ist „Der geheime Garten“ ein Rausch, die farbenprächtigen Bilder wirken wie lebendig gewordene Gemälde. Besonders die prachtvoll üppigen Gartenszenen erwecken umgehend den Wunsch nach einer eigenen grünen Parzelle (schöner Traum).

FAZIT

Angenehm ernsthafter Kinderfilm um Verlust, Trauer und Magie. 

Originaltitel „The Secret Garden“
Großbritannien 2019
100 min
Regie Marc Munden
Kinostart 15. Oktober 2020