Auch wenn das diesjährige Berlinale-Plakat aussieht, als sei ein minderbegabter Grafiker gestolpert und hätte eine Handvoll Zahlen und Buchstaben verschüttet – die Vorfreude ist trotzdem groß:
9 Tage lang Filme, Filme und nochmals Filme. Los geht’s!
MY SALINGER YEAR
(Berlinale Special Gala)
Der Berlinale-Eröffnungsfilm – seit Jahren eine Geschichte des Scheiterns. Und diesmal?
Die Figurenkonstellation erinnert auf den ersten Blick an „Der Teufel trägt Prada“: Die gestrenge Chefin, das naive Mädchen, der gütig-hilfsbereite Mitarbeiter, der nervige Boyfriend – alle sind dabei. Aber „My Salinger Year“ erzählt dann doch eine ganz andere Geschichte. New York, Mitte der 1990er-Jahre: Joanna hat gerade ihr Studium in Berkley geschmissen, ist in die Großstadt gezogen. Von ihrem neuen Job als Assistentin der Literaturagentin Margaret (Sigourney Weaver, wie immer toll) hat sie zwar keine Ahnung, versucht aber ihr Bestes. In der Agentur dreht sich alles um den Kultautor J. D. Salinger. Joannas Hauptaufgabe ist es, dessen Fanpost zu beantworten. Doch eigentlich will sie lieber selbst Schriftstellerin werden. Weshalb sie dann nicht einfach schreibt, bleibt rätselhaft. Am Ende erkennt sie, dass sie sich von den Erwartungshaltungen anderer befreien und ihren eigenen Weg gehen muss. Amen.
„My Salinger Year“ ist einer dieser bequemen Romika-Schuh-Filme, die man sich am besten Sonntagnachmittags im Kino oder noch besser bei einer schönen Tasse Tee auf dem Sofa anschaut. Tut nicht weh, beleidigt nicht die Intelligenz des Zuschauers – nette Unterhaltung.
Kanada / Irland 2020
101 min
Regie Philippe Falardeau
MINAMATA
(Berlinale Special Gala)
Der Mensch ist böse. Schon lange vor Erin Brockovich haben Chemiekonzerne aus Profitgier die Umwelt mit ihren Abfällen vergiftet. „Minamata“ erzählt von solch einem Fall aus dem Jahr 1971. Der einst gefeierte Kriegsfotograf W. Eugene Smith (Johnny Depp) hat seine besten Tage hinter sich. Erst die Begegnung mit der Japanerin Aileen, die ihm von den verheerenden Auswirkungen einer Quecksilbervergiftung im japanischen Fischerdorf Minamata erzählt, weckt seinen alten Kampfgeist. Er kann den Herausgeber des Magazins „Life“ überzeugen, ihn nach Japan zu schicken, wo er der Geschichte auf den Grund gehen soll.
Johnny Depp spielt den von inneren Dämonen gequälten Fotografen zurückgenommen und glaubhaft. Das Anliegen des Films ist lobenswert, die Kameraarbeit herausragend, die Geschichte einigermaßen fesselnd – und doch bleibt „Minamata“ trotz emotional überbordender Musik über weite Strecken seltsam blutleer und distanziert. Genies haben auch mal einen schlechten Tag: Den nervigen Soundtrack hat Ryūichi Sakamoto komponiert, ein echter Minuspunkt.
GB 2020
115 min
Regie Andrew Levitas
LAS MIL Y UNA
(Panorama)
Iris ist 17, lesbisch und lebt in einer Sozialwohnungssiedlung irgendwo in Argentinien. Würde nicht den ganzen Tag die Sonne scheinen und aus den Radios brasilianische Musik quäken, könnte es aber ebenso gut Berlin-Marzahn sein. Alle um sie herum haben Sex, nur Iris nicht. Bis die selbstbewusste Renata die Bildfläche betritt – Iris verliebt sich.
Die Coming-out und Coming-Of-Age-Geschichte ist langatmig erzählt, nur in wenigen Momenten entwickelt sich Charme. Regisseurin Clarisa Navas hat ihren Film fast dokumentarisch inszeniert. Ein bisschen erinnert „Las Mil Y Una“ damit an eine argentinische Version von Larry Clarks „Kids“, nur noch trübsinniger. Nach einer Stunde setzt das große Gähnen ein, kann aber auch an der schlechten Luft im überfüllten Kino gelegen haben. Gewinnt bestimmt den Teddy Award.
Englischer Titel „One in a Thousand“
Argentinien / Deutschland 2020
120 min
Regie Clarisa Navas