BERLINALE 2024 – TAG NEUN

BERLINALE 2024 – TAG NEUN

Zum Abschluss noch ein wenig spirituelle Sinnsuche aus Nepal. Eine der Hauptfiguren im Film SHAMBHALA heißt "Karma". Will uns das scheidende Führungsduo damit zum Abschied etwas sagen? Wir freuen uns jedenfalls auf bessere Zeiten und wünschen Mariëtta und Carlo beruflich alles Gute für die Zukunft. Heute Abend gibt's die Preise, die Ergebnisse dann morgen hier zum Finale.

Wettbewerb

SHAMBHALA

SHAMBHALA

In SHAMBHALA macht sich die junge Pema auf die Suche nach einem ihrer Ehemänner. Ehemänner? Plural? Schlauer werden mit Berlinale-Filmen: Im Tsum-Tal im Himalaya dürfen Frauen mit mehreren Männern gleichzeitig verheiratet sein. Pema ist daher nicht nur Tashis Ehefrau, sondern auch die seiner beiden Brüder Karma und Dawa.

Es ist eine echte Premiere im doppelten Sinn: SHAMBHALA feiert nicht nur seine Welturaufführung bei der Berlinale, es ist zudem der erste nepalesische Film jemals im Wettbewerb. Regisseur Min Bahadur Bham hat in der höchstgelegenen Siedlung der Welt gedreht, 6.000 Meter über dem Meeresspiegel. In solchen Höhen ist die Luft dünn, der wenige Sauerstoff macht müde. Genau wie dieser Film. Trotzdem ist SHAMBHALA erkenntnisreich: So verfügen Nepalesen offenbar über einen schier unbegrenzten Vorrat an Schaltüchern, die sie zu jeder Gelegenheit hervorzaubern, um sie dann um irgendwas oder irgendwen zu legen. Die Besetzung besteht hauptsächlich aus Laiendarstellern, ein großer Schauspielerfilm ist SHAMBHALA daher nicht. Unter normalen Umständen vielleicht ein meditatives, nach neun Tagen und vielen zähen Filmen ein eher einschläferndes Erlebnis.

INFOS ZUM FILM

Nepal / Frankreich / Norwegen / Hongkong, China / Türkei / Taiwan / USA / Katar 2024
150 min
Regie Min Bahadur Bham
Bild © Aditya Basnet / Shooney Films

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BERLINALE 2024 – TAG ACHT

BERLINALE 2024 – TAG ACHT

Alarm! Laut einer Umfrage des Tagesspiegels interessieren sich 87% der Leser nicht für die Berlinale. Dabei gibt es zum Ende noch zwei gute Filme im Wettbewerb …

Wettbewerb

VOGTER

VOGTER

Auf die Skandinavier ist eben Verlass. VOGTER ist ein nordisch-düsterer Psychothriller, angesiedelt in einem dänischen Gefängnis. Als der neue Häftling Mikkel eingeliefert wird, lässt sich Wärterin Eva zur Verwunderung ihrer Kollegen in den Hochsicherheitstrakt versetzen, wo der Neue einsitzt. Was niemand weiß: Die beiden verbindet ein Geheimnis aus der Vergangenheit.

Gustav Möllers Film THE GUILTY  wurde 2021 mit Jake Gyllenhaal für den US-Markt neu verfilmt. Es wäre keine Überraschung, wenn es auch bald ein Remake von VOGTER gäbe – dann aber hoffentlich mit ebenso herausragender Besetzung: Die vor allem aus der Serie BORGEN bekannte Sidse Babett Knudsen spielt den in sich gekehrten Racheengel Eva zwischen selbstzweifelnd und eiskalt. Ihr Widersacher ist eine echte Entdeckung: Sebastian Bull als Häftling mit millimeterkurzer Zündschnur strahlt physische und psychische Bedrohung aus, jeder Blick ist tödlich. VOGTER muss man weniger wegen seiner teils konstruiert wirkenden Handlung, sondern vor allem wegen seiner tollen Schauspieler gesehen haben.

INFOS ZUM FILM

Englischer Titel „Sons“
Dänemark / Schweden 2024
100 min
Regie Gustav Möller
Bild © Nikolaj Moeller

Wettbewerb

MÉ EL AïN

MÉ EL AÏN

Es ist Tag 8, die Müdigkeit groß, und als der Wecker klingelt, ist man schwer versucht, einfach liegen zu bleiben. Weiche Daunenkissen oder ein Film aus Tunesien? Fast wäre es passiert und man hätte ein kleines Highlight des Wettbewerbs verpasst. MÉ EL AÏN erzählt auf beeindruckende Art eine Geschichte von Mutterliebe, Verlust und Angst. Aïcha lebt auf einem Hof im Norden Tunesiens. Ihre ältesten Söhne Mehdi und Amine sind in den Krieg gezogen. Als Mehdi mit einer geheimnisvollen schwangeren Frau nach Hause zurückkehrt, senkt sich eine bedrohliche Dunkelheit über die Familie und bald das ganze Dorf.

Herausragende Kamera und Sounddesign machen Meryam Joobeurs eindringlichen Film vor allem handwerklich zu einem echten Bärenkandidaten. „Atmosphärisch dicht“, wenn irgendwann die oft benutzte Phrase gepasst hat, dann hier. Ein fieberhafter Traum, poetisch und beängstigend zugleich.

INFOS ZUM FILM

Englischer Titel „Who Do I Belong To“
Tunesien / Frankreich / Kanada / Norwegen / Katar / Saudi-Arabien 2024
117 min
Regie Meryam Joobeur
Bild © Tanit Films, Midi La Nuit, Instinct Bleu

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BERLINALE 2024 – TAG SIEBEN

BERLINALE 2024 – TAG SIEBEN

Siebter Berlinale-Tag. Der Kopf ist leer, der Körper geschwächt. Zeit für ein bisschen Sport: Mit Berlinale Meets Fußball nimmt das Filmfestival am Kulturprogramm zur Fußball-Europameisterschaft 2024 teil. „Fußball und Kino sind ein gutes Match, da an beiden Orten Menschen zusammen Spaß haben“, sagt Spaß-Experte Carlo Chatrian.

Wettbewerb

GLORIA !

GLORIA!

Scusate, di nuovo solo due punti. Non è colpa mia se la Berlinale presenta film così brutti. GLORIA! è una grande schmonzetta. Oder um es auf Deutsch zu sagen: GLORIA! ist riesengroßer Schmalz. Es würde niemanden wundern, wenn so was am Sonntagabend um 20.15 Uhr auf dem ZDF laufen würde – aber im Wettbewerb eines der renommiertesten Filmfestivals der Welt? 

Den Inhalt wiederzugeben ist ungefähr so müssig, wie eine Tiefenanalyse des neusten Rosamunde-Pilcher-Romans zu versuchen. In Kürze: Es geht um junge Frauen in einem italienischen Kloster im Jahre 1800. Die musikalisch Hochbegabten planen, dem neuen Papst ein unvergessliches Konzert zu geben. Einzig origineller Ansatz des Films: Die Frauenband spielt ganz unzeitgemäß moderne Musik, die so auch auf dem Schlagerfestival von San Remon laufen könnte. Da zücken die Anwälte von Sofia Coppola die Notizblöcke, denn die hat „History meets Popmusic“ schon 2006 um einiges besser in MARIE ANTOINETTE gemacht. Am Ende der Pressevorführung gab es verdientermaßen Buh-Rufe – überraschenderweise zum ersten Mal in diesem Jahr.

INFOS ZUM FILM

Italien / Schweiz 2024
100 min
Regie Margherita Vicario
Bild © tempesta srl

Wettbewerb

Black Tea

BLACK TEA

Einfach mal „Nein“ sagen, zum Beispiel auch zu diesem Film – oder zum Verlobten vor dem Traualtar. Weil ihr Zukünftiger einen Tag vor der Hochzeit fremdgeht (Originaldialog: „So sind die Männer, da sind wir Frauen machtlos“) beginnt die Afrikanerin Aya (Nina Mélo) ein neues Leben in Guangzhou, China. Dort wird sie von dem älteren Caï (Han Chang) in die zauberhafte Welt des Tees eingeführt. Töpfern oder Tee, Hauptsache irgendwas, bei dem der Mann von hinten mitgrabbeln kann.
Halb Afrika gehört mittlerweile den Chinesen, da ist es Zeit für ein bisschen Werbung in eigener Sache. Kein Smog, kein Dreck, keine spuckenden Einheimischen. Selten sah man China sauberer. Es könnte glatt eine Traumschiff-Episode sein, gleich biegt der Flori um die Ecke. Schöne Bilder von bestens gelaunten, immer gut frisierten Menschen in schöner Umgebung, die Belanglosigkeiten austauschen. Dazu perlen Gitarre und Klavier um die Wette. BLACK TEA ist purer Edelkitsch.

INFOS ZUM FILM

Frankreich / Mauretanien / Luxemburg / Taiwan / Côte d’Ivoire 2024
111 min
Regie Abderrahmane Sissako
Bild © Olivier Marceny

Berlinale Special Gala

SPACEMAN

SPACEMAN

Die Erwartungen an die Netflix-Produktion SPACEMAN sind hoch: Johan Renck ist Regisseur der sensationellen HBO-Serie CHERNOBYL. Max Richter hat die Musik komponiert. Und wenn es schon Adam Sandler sein muss, dann bitte in einer ernsten Rolle, so wie hier.

Jakub befindet sich auf einer monatelangen Weltraummission. Er ist einsam und spürt, dass sich seine auf der Erde zurückgelassene Frau von ihm entfremdet. Erst die philosophischen Gespräche mit der großen, haarigen Spinne Hanuš erinnern ihn daran, was wirklich wichtig ist im Leben. Klingt nach Horror, ist aber eine nicht ganz ernst zu nehmende Mischung aus INTERSTELLAR, 2001: ODYSSEE IM WELTRAUM und SOLARIS. Da das Ganze auf „Spaceman of Bohemia: Eine kurze Geschichte der böhmischen Raumfahrt“ von Jaroslav Kalfar basiert, wird es am Ende sogar noch märchenhaft: DREI HASELNÜSSE FÜR ASCHENBRÖDEL IM WELTRAUM sozusagen. Adam Sandler als trauriger Astronaut geht in Ordnung, auch wenn er mit den emotionalen Szenen etwas überfordert ist und man jede Sekunde einen zotigen Witz aus seinem Mund erwartet. Die simple Botschaft hat nach 106 Minuten wirklich jeder verstanden – das haben Rosenstolz seinerzeit in nur 3 Minuten kompakter zusammengefasst: Liebe ist alles.

INFOS ZUM FILM

USA 2024
106 min
Regie Johan Renck
Bild © 2023 Netflix, Inc.

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BERLINALE 2024 – TAG SECHS

BERLINALE 2024 – TAG SECHS

„Super!“, „Naja“ und „Scheisse“. Diese drei Antwortmöglichkeiten gibt es auf die montagmorgens gestellte Frage, wie man gestern den TATORT fand. Warum in dieser Woche die gleiche Frage am Mittwoch gestellt wird, steht weiter unten in der Besprechung zum Panorama-Beitrag VERBRANNTE ERDE.

Wettbewerb

Des Teufels Bad

DES TEUFELS BAD

Schlimmer geht immer. Wenn man sich mal so richtig die gute Laune verderben lassen will, dann ist DES TEUFELS BAD eine echte Empfehlung. Die auf historischen Gerichtsprotokollen basierende Geschichte, angesiedelt in einem Wald im Oberösterreich des 18. Jahrhunderts, handelt von Agnes. Die junge Frau fühlt sich nach der Hochzeit mit Wolf fehl am Platz, kein Wunder, steht ihr Mann doch eher auf Burschen. Die tief religiöse und hochsensible Frau zieht sich immer mehr zurück, versinkt in Melancholie.

Kotze, Blut, Dreck – es war ein unappetitliches Leben 1750. Der österreichische Wettbewerbsfilm ist eine Symphonie in grau und beige, hat aber wenigstens so etwas wie eine Geschichte. Man ist ja schon dankbar für die kleinen Dinge bei dieser Berlinale. Das Regieduo Veronika Franz und Severin Fiala legt mit DES TEUFELS BAD vielleicht einen authentischen, aber in großen Teilen drögen und schwer auszuhaltenden Film vor, der trotz aller Freudlosigkeit bisweilen hart an die folkloristische Kitschgrenze schrammt.

INFOS ZUM FILM

Englischer Titel „Devil’s Bath“
Österreich / Deutschland 2024
121 min
Regie Veronika Franz und Severin Fiala
Bild © Ulrich Seidl Filmproduktion / Heimatfil

Wettbewerb

Pepe

PEPE

Noch so ein Film, den man lieber verpasst hätte. Nelson Carlos De Los Santos Arias’ kaleidoskophafte Bildcollage (man könnte es auch eine unstrukturierte Materialsammlung nennen) erzählt die Geschichte von Pablo Escobars Nilpferden. Die Tiere wurden nach dem Tod des Drogenbarons auf dessen Anwesen gefunden. PEPE (der besser im künstlerisch anspruchsvollen Forum aufgehoben wäre) vereint inszenierte Spielsequenzen mit Zeichentrick, Dokfilm, viel Experimentellem und sehr oft simplem Schwarzbild – was sich bei den weichen Liegesesseln im CinemaxX-Kino als großes Problem erweist 💤 Irgendwie originell ist es ja trotzdem – oder wann erzählt einem schon ein Nilpferd auf Afrikaans seine philosophischen Gedanken zum Leben und Tod?

INFOS ZUM FILM

Dominikanische Republik / Namibia / Deutschland / Frankreich 2024
122 min
Regie Nelson Carlos De Los Santos Arias
Bild © Monte & Culebra

Panorama

VERBRANNTE ERDE

Dass Thomas Arslans solider Film wie ein Sonntagabendkrimi wirkt, der sich ins Kino verirrt hat, liegt vor allem am (neudeutsch ausgedrückt) „Look and Feel“, beziehungsweise an der sehr konventionellen, eben TV-gerechten Inszenierung. Mišel Matičević spielt den wortkargen Berufskriminellen Trojan. Der soll ein wertvolles Caspar-David-Friedrich-Bild klauen, doch der akribisch geplante Coup läuft aus dem Ruder.

Ein paar Dinge unterscheiden VERBRANNTE ERDE dann doch von einem echten Tatort: Der Film ist 11 Minuten zu lang (ein Problem, das sich durch Entfernen einiger unfreiwillig komischer Dialoge beheben ließe), es gibt kein Ermittlerteam und am Ende fehlt der Schnitt auf die blaue Tafel mit weißem Fadenkreuz. Daaa daaa daaa daaa ….

INFOS ZUM FILM

Englischer Titel „Scorched Earth“
Deutschland 2024
101 min
Regie Thomas Arslan
Bild © Reinhold Vorschneider / Schramm Film

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BERLINALE 2024 – TAG FÜNF

BERLINALE 2024 – TAG FÜNF

Zeit für Pressetext-Poesie. Diesmal der Forums-Beitrag LA HOJARASCA: „Drei Frauenleben ohne Versorger, körperlich erzählte Lebensstrategien, inszeniert-beobachtend-erinnernd. Ruhe stellt sich ein, im Hintergrund der Vulkan.“ Und weil’s so schön ist, hier noch RESONANCE SPIRAL: „Die Mediateca Onshore in Malafo, einem Dorf in Guinea-Bissau, ist Archiv und Klub agro-poetischer Praxen. Vom Tonband spricht Amílcar Cabral über Feminismus, das Regie-Duo in den Mangroven über die Widersprüche des Außenblicks auf die Gemeinschaft.“ Leider beide Filme verpasst…

Wettbewerb

Architecton

ARCHITECTON

Stein: der Mensch sprengt ihn, verarbeitet ihn zu Beton, baut Häuser damit, die er bald darauf mit Bomben oder Baggern zerstört. Die tote, kaputte Baumasse wird dann auf Schutthalden der Natur zurückgegeben. Über 40 Jahre nach KOYAANISQATSI beeindrucken Slow-Motion-Bilder mit dramatischer Musik noch immer. Dazwischen lässt sich ein alter Zausel einen Steinkreis im Garten legen. Am Ende werden die ganz großen Fragen gestellt: Warum hat die Menschheit vor tausenden von Jahren Gebäude erschaffen, die heute noch existieren, während wir in der Moderne Häuser bauen, die nur 40 Jahre halten? Da erhebt sich der Zeigefinger: Unsere Ressourcen sind begrenzt!

INFOS ZUM FILM

Deutschland / Frankreich / USA 2024
98 min
Regie Victor Kossakovsky
Bild © 2024 Ma.ja.de. Filmproduktions GmbH, Point du Jour, Les Films du Balibari

Wettbewerb

A Traveler's Needs

A TRAVELER’S NEED

Ein Film, für den man eine Betriebsanleitung braucht. Worum geht‘s? IMDb fasst es perfekt zusammen: „Eine Französin trinkt in Korea Makgeolli, nachdem sie ihre Einkommensquelle verloren hat, und unterrichtet dann zwei Koreanerinnen in Französisch.“ Genau. Die Französin wird von Isabelle Huppert gespielt. Der in langen, statischen Videobildern gedrehte Film (eine Spezialität des koreanischen Regisseurs Hong Sang-soo) ist nicht frei von Situationskomik, lässt aber den unkundigen Zuschauer komplett ratlos zurück (eine weitere Spezialität des Regisseurs).

Die Berlinale bringt Hong Sang-soo Glück: Seine letzten Filme „The Woman Who Ran“ (2020), „Introduction“ (2021) und „Die Schriftstellerin, ihr Film und ein glücklicher Zufall“ wurden allesamt mit dem Silbernen Bären ausgezeichnet.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Yeohaengjaui Pilyo“
Südkorea 2024
90 min
Regie Hong Sang-soo
Bild © 2024 Jeonwonsa Film Co.

Wettbewerb

LANGUE ÉTRANGÈRE

LANGUE ÉTRANGÈRE

Unbekannte Krankheiten, Teil 12: Fanny leidet an Pseudologia Phantastica, das heißt, sie ist eine notorische Geschichtenerfinderin. Oder weniger euphemistisch: Das Mädchen lügt. In der Schule wird sie nur noch „Blablabla“ genannt. Das ist Mobbing und deshalb leidet die 17-jährige Französin. Gut, dass sie als Austauschschülerin für ein paar Wochen nach Leipzig darf. Dort wohnt sie bei der gleichaltrigen, politisch engagierten Lena. Um sie zu beeindrucken, erfindet die fade Fanny eine Schwester, die bei Demos im schwarzen Block mitläuft. Natürlich verlieben sich die Mädchen – Keine Jugendgeschichte ohne LGBTQ-Element. Außerdem sind die Teens für Umweltschutz, die Antifa, gegen patriarchale Strukturen usw. usf. Gähn.

Claire Burgers Coming-of-age-Story funktioniert zwischendurch als zarte Liebesgeschichte und sogar in Maßen als Komödie. Ansonsten wäre die oberlehrerhafte mdr-Arte-Coproduktion besser in der Sektion Generation 14plus aufgehoben. Die aufregenderen Stars sind in den Mütterrollen zu sehen: Nina Hoss als leicht paranoide Deutsche und Chiara Mastroianni als von der eigenen Tochter genervte Französin. Einen Film mit den beiden in den Hauptrollen hätte man sich lieber angeschaut.

INFOS ZUM FILM

Frankreich / Deutschland / Belgien 2024
105 min
Regie Claire Burger
Bild © Les Films de Pierre

Panorama

BETWEEN THE TEMPLES

Ein Mann in der Krise: Chorleiter Ben (Jason Schwartzman) kämpft mit dem Verlust seiner Stimme und möglicherweise seines jüdischen Glaubens. Seine Welt wird vollends auf den Kopf gestellt, als seine Musiklehrerin aus Grundschulzeiten (Carol Kane) auftaucht, um seine Bat-Mizwa-Schülerin zu werden.

Mit improvisierten Dialogen und absurdem Humor erinnert BETWEEN THE TEMPLES stellenweise an Larry Sanders’ CURB YOUR ENTHUSIASM. Doch Silvers Komödie funktioniert nicht durchgehend und verstolpert sich öfters in einem Mischmasch aus Ideen und Stilexperimenten. Charmant wird es, wenn sich der Film auf die Beziehung von Ben und Carla konzentriert, vor allem dank der Chemie zwischen Schwartzman und Kane.

INFOS ZUM FILM

USA 2024
112 min
Regie Nathan Silver
Bild © Sean Price Williams

Generation 14plus

COMME LE FEU

COMME LE FEU läuft in der Reihe Generation 14plus und wendet sich somit an ein jugendliches Publikum. Der Film beginnt mit einer ungefähr zehnminütigen Szene, in der ein Auto durch die Landschaft fährt. Dazu hört man eine auf einem Ton gehaltene Musik. Viel interessanter wird es nicht. Die Geschichte von zwei Filmemachern, die sich mit ihren Familien in einer abgeschiedenen Blockhütte treffen, hat viel Dialog und wenig Handlung. Das Ganze dauert 155 Minuten und man fragt sich, welcher Teenager sich das freiwillig anschauen soll.

INFOS ZUM FILM

Englischer Titel „Who by Fire“
Kanada / Frankreich 2024
155 min
Regie Philippe Lesage
Bild © Balthazar Lab

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BERLINALE 2024 – TAG VIER

BERLINALE 2024 – TAG VIER

"Kunst kommt von Kopfschmerz" lautet auch in diesem Jahr das Berlinale-Motto. Selten war so viel Anstrengendes und Freudloses in den Sektionen vertreten. Da kann Panorama-Chef Michael Stütz bei der Vorstellung seines Programms noch so sehr betonen wie „großartig“ dieser Film, "großartig" diese Schauspielerin, "großartig" dieser Regisseur und "großartig" jenes Drehbuch seien - richtig großartig ist in diesem Jahr enttäuschend wenig. Die Ausnahme bestätigt die Regel: Matthias Glasners STERBEN im Wettbewerb und das schräge Berlinale-Comeback von Kristen Stewart in LOVE LIES BLEEDING.

Wettbewerb

Sterben

STERBEN

Matthias Glasner kehrt zum ersten Mal seit 2006 in den Berlinale Wettbewerb zurück. Sein grandioses Familienepos STERBEN handelt natürlich genau vom Gegenteil, nämlich dem Leben in all seinen furchtbaren und furchtbar schönen Facetten. Die über dreistündige Drama-Komödie erforscht die Intensität des Lebens angesichts des Todes mit einer Mischung aus Zartheit, Brutalität, absurder Komik und trauriger Schönheit, die die Grenzen zwischen bitter und lustig verschwimmen lässt.

Im Fokus der Handlung steht Familie Lunnies: Lissy (Corinna Harfouch) ist Mitte 70 und froh, dass ihr dementer Mann endlich im Heim ist. Ihr Sohn Tom (Lars Eidinger), ein Dirigent, arbeitet zusammen mit seinem depressiven Freund Bernard an der Komposition „Sterben“. Toms Schwester Ellen (Lilith Stangenberg) hat ein Alkoholproblem und beginnt eine wilde Liebesgeschichte mit dem verheirateten Zahnarzt Sebastian (Ronald Zehrfeld).

Die in Kapitel gegliederte Geschichte hängt zwischendrin ein bisschen durch: Die Episode um Tochter Ellen ist die schwächste und fühlt sich an, als sei sie aus einem anderen Film. Ansonsten ist STERBEN voller guter Szenen – die vielleicht beste zeigt Lars Eidinger und Corinna Harfouch im schmerzhaft wahrsten Mutter-Kind-Gespräch der Kinogeschichte. Wahnsinnig komisch und todtraurig zugleich. Allein dafür lohnt es sich. Neben MY FAVORITE CAKE das bisherige Wettbewerbs-Highlight.

INFOS ZUM FILM

Englischer Titel „Dying“
Deutschland 2024
183 min
Regie Matthias Glasner
Bild © Jakub Bejnarowicz / Port au Prince, Schwarzweiss, Senator

Wettbewerb

L'Empire

L'EMPIRE

In einem kleinen französischen Dorf geschehen seltsame Dinge. Die Menschen verneigen sich vor einem allmächtigen Baby und Köpfe werden mit Laserschwertern abgetrennt. Kein Wunder, haben sich doch Außerirdische in die Körper der Dorfbewohner eingenistet. Die ultimative Schlacht zwischen zwei verfeindeten Alien-Spezies steht kurz bevor.

Wie belieben? Na gut, es ist eine Berlinale in der Carlo-Chatrian-Ära, aber trotzdem. Der obskure Mix aus französischem Arthouse, STAR WARS und Pseudo-Lars von Trier ist für ungefähr 5 Minuten unterhaltsam. Bruno Dumonts Science-Fiction-Parodie ist schwer verdauliche Kost und weird im unguten Sinn. Mehr WTF als das wird es hoffentlich nicht mehr.

INFOS ZUM FILM

Englischer Titel „The Empire“
Frankreich / Italien / Deutschland / Belgien / Portugal 2024
110 min
Regie Bruno Dumont
Bild © Tessalit Productions

Wettbewerb

DAHOMEY

DAHOMEY

Das Thema ist hochaktuell: Im November 2021 verließen 26 Kunstschätze Paris und kehrten in ihr Herkunftsland Dahomey, das heutige Benin, zurück. 1892 wurden sie dort von französischen Kolonialtruppen geraubt. Doch wie geht man mit den Objekten um in einem Land, das sich während ihrer Abwesenheit stark verändert hat?

Als „Mesmerisieren” wird das in den Bann ziehen bzw. Hypnotisieren bezeichnet. Ein Archaismus, der heute kaum noch Anwendung findet. Außer in einer Berlinale-Pressekonferenz 2024. „Thank you for this mesmerizing experience“, bedankt sich ein Journalist bei Regisseur Mati Diop. Na gut, ins Deutsche übersetzt heißt „mesmerizing“ schlicht „faszinierend“. Und als Kurzfilm wäre DAHOMEY das auch. Scheinbar musste aber auf Teufel komm raus die Minimallänge eines Spielfilms erreicht werden. Und so arbeiten sich die Filmemacher mühsam mit vielen langen Auf- und Abblenden auf knappe 67 Minuten. Ein weiterer Trend neben „dieser Film sollte besser in einem Museum gezeigt werden“ scheint das Unterlegen von Dingen (hier Statuen) und Tieren (bei PEPE ein Nilpferd) mit dröhnenden, tiefen Stimmen zu sein. Wird garantiert irgendeinen Preis gewinnen.

INFOS ZUM FILM

Frankreich / Senegal / Benin 2024
67 min
Regie Mati Diop
Bild © Les Films du Bal – Fanta Sy

Berlinale Special Gala

Love lies bleeding

LOVE LIES BLEEDING

Kristen Stewart is back with a vengeance. Die Berlinale-Jurypräsidentin 2023 präsentiert mit LOVE LIES BLEEDING ihren sehr speziellen Beitrag zum Thema Girlpower.

Die junge Liebe zwischen Fitnessstudioleiterin Lou und Bodybuilderin Jackie steht unter keinem guten Stern, denn Lous Familie ist ein Haufen gewalttätiger Verbrecher. LOVE LIES BLEEDING hat von allem sehr viel: lesbischen Sex, Muskeln, Blut und heftige Chemie zwischen Kristen Stewart und Katy O’Brian. Regisseurin Rose Glass provoziert ihr Publikum, wo sie nur kann – das ist zwar alles andere als subtil, bereitet aber bis zur letzten Szene großen Spaß.

INFOS ZUM FILM

USA / GB 2023
104 min
Regie Rose Glass
Bild © Anna Kooris

Panorama

LES PARADIS DE DIANE

Endlich mal was Fröhliches. Aus postnataler Depression wird bei Diane eine PNF, eine postnatale Flucht. Kaum hat sie ihr Kind in Zürich zur Welt gebracht, macht sie sich vom Acker. Sie taucht in Spanien unter, trifft auf die ältere Rose. Auch die hat ein Mutter-Kind-Problem. „Wenn Du eine Landschaft wärst, was für eine wäre das?“ Ja, genau, es ist einer dieser Filme. Dazu ein Score, der klingt, als hätte die Alarmanlage eines Autos als Inspirationsquelle gedient. Was kommt als nächstes? PBS – Post Berlinale Depression?

INFOS ZUM FILM

Englischer Titel „Paradises of Diane“
Schweiz 2024
97 min
Regie Carmen Jaquier und Jan Gassmann
Bild © 2:1 Film

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BERLINALE 2022 – FINALE

BERLINALE 2022 – FINALE

WETTBEWERB

LEONORA ADDIO

2/5

Da geht man ins Kino, weiß nichts über das, was man gleich zu sehen bekommt und denkt nach kurzer Zeit: Das wirkt wie ein Film von einem sehr alten Mann gemacht. Und siehe da: Regisseur Paolo Taviani zählt schon 90 Jahre. Aber schützt Alter vor Kritik?

„Leonora Addio“ erzählt zwei Geschichten: Die erste handelt von Luigi Pirandellos Asche und ihrer Reise. Der berühmte Schriftsteller wurde 1936 in Rom kremiert und beigesetzt. Entgegen seinem letzten Willen, denn lieber wollte er in „einem rohen Felsen“ auf Sizilien seine letzte Ruhe finden. Und so beginnt nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs die abenteuerliche Fahrt einer Urne quer durch Italien. „Leonora Addio“ ist schon fast vorbei, da folgt noch die Verfilmung von Pirandellos Kurzgeschichte Il chiodo (dt.: „Der Nagel“). Darin tötet ein italienischer Junge in New York ein kleines Mädchen mit einem Nagel.

„Leonora Addio“ ist ein überinszenierter, in Kunst erstarrter Film. Die Schauspieler scheinen vom Regisseur jeden Lidschlag vorgeschrieben bekommen zu haben, so unnatürlich steif wirkt das oft. Der Wettbewerbsbeitrag sieht gut aus, aber seine beiden Geschichten sind enttäuschend schwach. Was das alles soll, erschließt sich bis zum Ende nicht.

Italien 2021
90 min
Regie Paolo Taviani

WETTBEWERB

THE NOVELIST'S FILM

2.5/5

Zufallsbegegnungen – der Film. Die Schriftstellerin Jun-hee besucht die Buchhandlung einer früheren Freundin, zu der sie den Kontakt verloren hatte. Bei einem Ausflug trifft sie einen Filmregisseur, der einmal eines ihrer Bücher verfilmen wollte. Später lernt sie bei einem Spaziergang im Park eine berühmte Schauspielerin kennen und schlägt ihr ein gemeinsames Kurzfilmprojekt vor. Nach einem Mittagessen kehren Jun-hee und die Schauspielerin in den Buchladen zurück. Oder wie es einer der Protagonisten sagt: „Eine Geschichte ohne Story ist keine Geschichte“

So spannend wie das klingt, ist es auch. Es passiert nicht viel in „The Novelist’s Film“. Hong Sang-soos Inszenierungsstil könnte man als „spontan“ bezeichnen, der Film wirkt wie beiläufig mitgedreht. In sehr langen Einstellungen wird sehr viel geredet. Manchmal ist das sogar einigermaßen amüsant. Nach zwei Silbernen Bären (2020 „The Woman Who Ran“ und 2021 „Introduction“) ist der neue Film des koreanischen Regisseurs eher eine federleichte Fingerübung.

Originaltitel „So-seol-ga-ui yeong-hwa“
Republik Korea 2021
92 min
Regie Hong Sang-soo

DIE GEWINNER 2022

BERLINALE 2022 – TAG 5

BERLINALE 2022 – TAG 5

Nach einer kleinen Arbeitsunterbrechung (und wo könnte man die besser verbringen als im wunderschönen Hannover?) gibt es heute und morgen noch einen Nachschlag Berlinale 2022.

WETTBEWERB

DRII WINTER

4/5

Marco ist ein eisteetrinkender Flachländer, Anna eine alleinerziehende Mutter vom Dorf. Dass die beiden zusammenpassen, daran gibt es große Zweifel. Und trotzdem. Marco wird bald der „Daddy“ von Annas Tochter Julia. Ein kleines Familienglück. Doch dann wird bei dem bulligen Stoiker ein Hirntumor diagnostiziert und alles gerät aus den Fugen. 
Was haben ein Alpenfilm aus der Schweiz und eine griechische Tragödie gemeinsam? In beiden wird das Drama von einem Chor kommentiert. Klingt wie ein Fremdkörper, funktioniert aber überraschend gut. „Drii Winter“ wurde mit Laiendarstellern gedreht. Michael Koch nimmt sich für seine atmosphärische Liebesgeschichte in den Bergen reichlich Zeit. Mit 136 Minuten etwas zu lang geraten und zwischendurch auch recht schweizerisch gemächlich erzählt. Einen Bären bekam der Kritikerfavorit nicht, aber immerhin eine „lobende Erwähnung“ der Jury.

Originaltitel „Drii Winter“
Schweiz / Deutschland 2022
136 min
Regie Michael Koch

WETTBEWERB

ONE YEAR, ONE NIGHT

3.5/5

Der Morgen des 14. Novembers 2015: Ramón Gonzalez bekommt keine Luft, hat Panikattacken. Etwas Schreckliches ist am Abend zuvor passiert: Er und seine Freundin Céline waren im Bataclan und haben nur mit großem Glück den Terroranschlag überlebt.
„Un año, una noche“ erzählt, wie Ramón und Céline nach dem Blutbad versuchen, zurück ins „normale“ Leben zu finden. Geht das überhaupt? Während sich Céline wieder in ihren Alltag stürzt, steckt Ramón in der Vergangenheit fest.
Der bewegende, intime Film von Isaki Lacuesta ist eine bittersüße Meditation über die Auswirkungen eines Traumas und den Wunsch, sich nicht unterkriegen zu lassen.

Originaltitel „Un año, una noche“
Spanien / Frankreich 2021
130 min
Regie Isaki Lacuesta

PERSPEKTIVE DEUTSCHES KINO

ECHO

1.5/5

Das käme wohl dabei heraus, wenn der Volkshochschulkurs Video einen Piloten für das ARD-Regionalprogramm drehen würde. Die durch ein Bombenattentat in Afghanistan traumatisierte Polizistin Saskia Harder wird in die friedländische Provinz versetzt. Dort nimmt sie die Ermittlungen um die Identität einer Moorleiche auf…
Der Inhalt liest sich weitaus interessanter, als es das Ergebnis ist: Unbeholfen und unfreiwillig komisch.

Deutschland 2022
98 min
Regie Mareike Wegener

BERLINALE 2022 – TAG 4

BERLINALE 2022 – TAG 4

Die alte philosophische Frage: Wenn ein Baum im Wald fällt und niemand ist da, um es zu hören, macht der Baum dann ein Geräusch? Oder anders gefragt: Wenn die Berlinale seit ein paar Tagen läuft und fast keiner ist da, findet sie dann trotzdem statt? Selten gab es ein leereres Festival. In den Kinos verteilt es sich vielleicht deshalb so gut, weil die Filme gleichzeitig auf bis zu 9 Screens gezeigt werden. Aber auch draußen ist wenig los. Die Schlangen vor den Testbussen: überschaubar. Der Andrang am Kimchistand: nicht der Rede wert. Die Mall nebenan ist sowieso seit gefühlt 5 Jahren wegen Umbaus geschlossen. Zum Glück hat man vor lauter Ausweise und Testbändchen vorzeigen eh keine Zeit für irgendwas. Also schnell zurück ins Dunkel…

BERLINALE SPECIAL GALA

DER PASSFÄLSCHER

3.5/5

Eine Frage an den künstlerischen Leiter der Berlinale: Lieber Carlo Chatrian, sind Filme, wie zum Beispiel „Beautiful Beings“ oder „Der Passfälscher“ zu gut, um es in den Wettbewerb zu schaffen? Stattdessen mediokre Kost („Call Jane“) oder quälende Kunst („Everything will be ok“). Schon im vergangenen Jahr folgte das Wettbewerbsprogramm mehr dem Kopf und weniger dem Herzen.

Das kann man Cioma Schönhaus dagegen nicht vorhalten: Der junge Mann ist ein wahrer Herzensmensch und läuft mit bester Laune durchs Leben. Obwohl er als Jude in Nazideutschland allen Grund zur Verzweiflung hätte. Vom 3. Reich lässt er sich die Laune nicht verderben. „Der Passfälscher“ erzählt die wahre Geschichte vom – der Titel legt es nahe – Dokumentenfälscher Cioma, der dank seiner Fähigkeiten wiederholt der Gestapo entkommt und gerade noch rechtzeitig den Nazis in die Schweiz entfliehen kann.

Mit ausgezeichneter Besetzung (Luna Wedler, Louis Hofmann und Jonathan Berlin) hat Regisseurin Maggie Peren einen oft vergnüglichen, im besten Sinne leichten Film über Chuzpe und Hoffnung in düsteren Zeiten gedreht. Nicht die Neuerfindung des Kinos, aber sehenswert.

Deutschland / Luxemburg 2022
116 min
Regie Maggie Peren

WETTBEWERB

THE PASSANGERS OF THE NIGHT

3/5

Das können nur die Franzosen: Die große Beiläufigkeit als Film. „Les passagers de la nuit“ ist wie das Leben, Menschen kommen und gehen, es passiert etwas – als geübter Hollywood-Zuschauer erwartet man stets das Schlimmste – doch dann löst sich das Drama wieder ins Nichts. La vie continue.

Paris, 1981. Elisabeth (Charlotte Gainsbourg) wurde von ihrem Ehemann verlassen, sie und ihre Teenager-Kinder müssen die Dinge selbst in die Hand nehmen.

Mikhaël Hers entwickelt aus seinem sensiblen Blick auf die 1980er-Jahre und die scheinbar alltäglichen Momente des Familienlebens eine Art cineastisches Tagebuch. Die Passagiere der Nacht verlangen zu Anfang ein wenig Geduld, doch man sollte sich auf den Rhythmus des poetischen Films einlassen, es lohnt sich.

Originaltitel „Les passagers de la nuit“
Frankreichn 2022
111 min
Regie Mikhaël Hers

WETTBEWERB

A E I O U - DAS SCHNELLE ALPHABET DER LIEBE

1.5/5

Die 60-jährige Schauspielerin Anna verliebt sich in ihren 17-jährigen Schüler Adrian. „Die Reifeprüfung“ lässt grüßen.

Niemand kann rational beweisen, dass ein bestimmtes Geschmacksempfinden das richtige ist: Dem einen gefällt Helene Fischer, der andere mag Toast Hawaii. Auf die Qualität des deutschen Wettbewerbsbeitrags „A E I O U“ kann man sich hingegen problemlos einigen: Der ist einfach schlecht, keine Frage. Oder? Abgesehen von einem wirren Drehbuch, das nur eine halbe Handvoll guter Momente hat, war wohl selten ein talentfreierer Jungschauspieler als Milan Herms in einer Hauptrolle zu sehen. Nö, das kann nicht mal Sophie Rois retten. Nach der Premiere gabs trotzdem tosenden Applaus. Vielleicht kann man sich über Geschmack ja doch streiten…

Deutschland / Frankreich 2022
104 min
Regie Nicolette Krebitz

GENERATION 14plus

MILLIE LIES LOW

2.5/5

Du liebe Zeit: Millie nimmt unfassbar viel Mühe auf sich, um zu verhindern, dass irgendwer von ihrer Panikattacke im Flugzeug erfährt. Genau deshalb musste sie kurz vor Start von Bord gehen. Aber statt Freunde und Familie zu informieren, sitzt sie nun mittel- und obdachlos in ihrer Heimatstadt Wellington fest, obwohl sie doch eigentlich auf dem Weg nach New York zu ihrem Edel-Praktikum sein sollte.

Regisseurin Michelle Savill erzählt in ihrem Debütfilm eine aberwitzige Geschichte, die bei genauerer Betrachtung ganz schön konstruiert wirkt. Warum Millie überhaupt lügt, erschließt sich auch nach 100 Minuten nicht. Natürlich ist der Wunsch nachvollziehbar, heimlich das eigene Leben zu besuchen und zuzuhören, was die anderen über einen lästern, kaum dass man (vermeintlich) weg ist. Aber diese Drehbuchidee taugt inhaltlich eher für einen Kurzfilm.

Neuseeland 2021
100 min
Regie Michelle Savill

BERLINALE 2022 – TAG 3

BERLINALE 2022 – TAG 3

Die neue Kulturstaatsministerin Claudia Roth ist sauer auf Corona: „Wir dürfen nicht zulassen, dass die Pandemie unsere vielfältige Kultur kaputt macht!“ Blöder Virus, unsere schöne Kultur! Voll gemein. Eine Berlinale als Präsenzveranstaltung ist nicht unumstritten, denn dem Virus ist die Meinung einer Politikerin in der Regel egal. Daher ein Danke an die Veranstalter: das ist bis auf die anfangs holprige Sitzplatz-Zuteilung schon alles sehr gut organisiert und die halbleeren (oder halbvollen?) Kinos mit Maskenpflicht geben ein einigermaßen sicheres Gefühl. Sollte uns die Pandemie noch weiter erhalten bleiben, könnte man bei der neunten Welle im nächsten Jahr vielleicht über eine zusätzliche Online-Sichtung nachdenken, das würde die Besucherströme weiter entzerren.

Me talk pretty one day: Hier zur Erheiterung ein Auszug aus der Gewinnerliste 2021:

Babardeală cu bucluc sau porno balamuc
Guzen to sozo
Természetes fény
Rengeteg – mindenhol látlak
Inteurodeoksyeon

Echter Leserservice: in diesem Jahr gibt es die englischen Verleihtitel in der Überschrift.

WETTBEWERB

RABIYE KURNAZ GEGEN GEORGE W. BUSH

3.5/5

Wer oder was ist Rabiye Kurnaz? Rabiye Kurnaz ist eine Frau aus Bremen, die vor dem obersten Gerichtshof der USA die Vereinigten Staaten von Amerika verklagt hat. Sie wollte damit ihren Sohn aus Guantánamo befreien. Nach den Anschlägen von 9/11 und der damaligen politischen Stimmung im Land ein eigentlich aussichtsloses Unterfangen.

Eine wahre  Geschichte: Murat Kurnaz wurde ohne Anklage 5 Jahre lang in dem berüchtigten Gefangenenlager auf Kuba festgehalten. Dass er entlassen wurde, hat er seiner Mutter und vor allem dem Menschenrechtsanwalt Bernhard Docke zu verdanken. Der mahnt bis heute an, dass sich die damals politisch Verantwortlichen von der rot-grünen Bundesregierung nie für ihre Versäumnisse entschuldigt oder Murat gar eine Entschädigung gezahlt haben.

Kann man ein so schweres Thema in eine Komödie verpacken? Zwischendurch setzt Regisseur Andreas Dresen zu sehr auf harmlosen Ulk. Das sei gewollt, denn der Film erzähle schließlich aus der Perspektive der Mutter. Und die scheint im wahren Leben einen ausgeprägten Sinn für Humor zu haben. Alexander Scheer stand zuletzt in „Gundermann“ für den Regisseur vor der Kamera. In „Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush“ glänzt das Chamäleon unter Deutschlands Schauspielern nun als norddeutscher Menschenrechtsanwalt Docke (kurzer Phrasencheck: warum „glänzen“ Schauspieler eigentlich immer? Sind doch keine frisch geputzten Silberlöffel). Die Kölner Komödiantin und Moderatorin Meltem Kaptan geht mit viel Herz und emotionaler Intelligenz in ihrer Rolle als Muttertier auf. Gerüchteweise wird sie schon als Silberner-Bär-Kandidatin gehandelt…

Deutschland / Frankreich 2022
119 min
Regie Andreas Dresen

WETTBEWERB

CALL JANE

2.5/5

Joy ist schwanger. Doch etwas stimmt nicht. Immer wieder wird ihr schwindlig, verliert sie das Bewusstsein. Der Arzt rät zu einem Schwangerschaftsabbruch, da sonst Lebensgefahr bestehe. Das Problem: Ende der 60er-Jahre waren Abtreibungen in den USA verboten und der rein männlich besetzte Klinikvorstand lehnt den Eingriff ab. Die Lage scheint aussichtslos, bis Joy auf eine illegale Gruppe trifft, die Frauen dabei hilft, ungewollte Schwangerschaften zu beenden. Joy befreundet sich mit den „Janes“ und bietet sogar tatkräftige Unterstützung an.

Phyllis Nagy, die schon das Drehbuch zu Todd Haynes „Carol“ geschrieben hat, interessiert sich in ihrem Langfilm-Regiedebüt überraschend wenig für die aufkommende Frauen- und Hippiebewegung in den USA. Ihr – trotz des Themas – erstaunlich konventioneller Film fokussiert sich hauptsächlich auf die Frage: Finden Joys Ehemann und Tochter heraus, dass sich Mutti mit gesetzlosen neuen Freundinnen umgibt? „Call Jane“ ist solide gemachte, gut gespielte, aber letztendlich biedere US-Ware. Im Wettbewerb? Really?

USA 2022
121 min
Regie Phyllis Nagy

WETTBEWERB

RETURN TO DUST

2.5/5

So, jetzt beruhigen wir uns alle erst mal. Einatmen, ausatmen – ruuuuuhig. Jede Berlinale hat ihren Ooom-Film: 2022 heißt der „Yin Ru Chen Yan“

Die behinderte, inkontinente Guiying und der Bauer Ma werden in einer arrangierten Ehe zusammengeführt. Nach und nach finden sie ein gemeinsames Glück. Zur trauten Zweisamkeit gehört ein Haus. Und das bauen sie selbst. Und zwar komplett selbst: sie flechten die Dachabdeckung, mischen den Lehm für die handgemachten Ziegel, trocknen die Ziegel unter der Sonne, transportieren den Mörtel mithilfe ihres treuen Esels … und so weiter. Zeit spielt in Li Ruijuns 131-Minuten-Film nur eine untergeordnete Rolle.

Eine cineastische Entschleuinigung, die ganz nebenbei, ohne erhobenen Zeigefinger ernste Themen berührt.

Originaltitel „Yin Ru Chen Yan“
Volksrepublik China 2022
131 min
Regie Li Ruijun

GENERATION 14plus

GIRL PICTURE

4/5

Aus Finnland, dem Land mit der lustigen Sprache (Originaltitel: Tytöt tytöt tytöt), kommen oft erstaunlich gute Filme. So auch diese kleine Perle, die im Generation 14plus-Programm versteckt wird. Die wilde Mimmi verliebt sich in die schöne Eiskunstläuferin Emma. Und Rönkkö macht sich mit verschiedenen Jungs auf die Suche nach ihrem G-Punkt.
Unverkrampft erzählte Coming-of-Age-Geschichte über Freundschaft, Sex und Liebe. Kiva elokuva.

Originaltitel „Tytöt tytöt tytöt“
Finnland 2022
101 min
Regie Alli Haapasalo

BERLINALE 2022 – TAG 2

BERLINALE 2022 – TAG 2

Ach nö! Der perfekte Plan geht doch nicht auf. Für die Pressescreenings braucht es neben Boosterimpfung einen negativen Coronatest. Da die erste Vorstellung bereits zu unmenschlich früher Stunde stattfindet (9 Uhr!!), entstand die geniale Idee, sich abends, NACH dem letzten Film, also um 23 Uhr testen zu lassen, um dann am nächsten Morgen mit Negativbescheid ins Kino zu spazieren. Vorbei, denn ab sofort gilt: Es muss ein tagesaktueller Test vorliegen. 🙄 Naja, wenn es der Sicherheit dient… 

Nachtrag zum wütenden Aktivisten von gestern: Der hatte heute einen weiteren Auftritt im Berlinale Palast, man solle „der Festivalleitung schreiben und seinen Unmut über die automatisch zugewiesenen Plätze“ kundtun. Doch die Stimmung hat sich gedreht. Buhrufe aus dem Publikum. Eine Journalistin aus Reihe 12 ruft: „Even if they hang us from the ceiling to watch the films, you should be thankful to even be here!“

WETTBEWERB

BOTH SIDES OF THE BLADE

2.5/5

Sara und Jean sind glücklich. Verliebt wie am ersten Tag. Doch eines Tages tritt François in das perfekte Leben der beiden. Sara war früher mit François zusammen, Jean ist sein ehemals bester Freund. Eine komplizierte Verwirrung der Gefühle beginnt.

Szenen einer Ehe die Hundertste. Das komplizierte Beziehungsleben erwachsener Großstädter wurde in der Geschichte des Kinos schon oft erzählt. Claire Denis französisches Drama hat dem nicht viel Neues beizufügen. Sehenswert sind die Streitereien und Liebkosungen dank der fabelhaften Darsteller: Juliette Binoche und Vincent Lindon spielen mit großem Können die ganze Klaviatur der Emotionen.

Oroginaltitel „Avec amour et acharnement“
Frankreich 2021
116 min
Regie Claire Denis

WETTBEWERB

EVERYTHING WILL BE OK

1.5/5

Charlton Heston brauchte seinerzeit noch etwas länger, bis er am Ende vom „Planet der Affen“ begriff, dass er sich die ganze Zeit auf der Erde befunden hatte. In Rithy Panhs Figurenfilm „Everything will be ok“ ist von Anfang an klar: Die Tiere haben die Macht übernommen. Endlich, möchte man sagen. Was kann schon schiefgehen, wenn milde Lämmer und sanfte Schweine die Zukunft der Erde bestimmen? Jede Menge! Denn die Tiere haben in Geschichte nicht aufgepasst und begehen die gleichen Fehler wie die Menschen.

Wo hört Kino auf und wo fängt ein Diavortrag an? „Everything will be ok“ ist (leider) kein Animationsfilm, sondern ein Abschwenken von Szenenbildern bzw. „Dioramen“. Unbewegte Holzfiguren starren auf Bildschirme, die ein Best of menschlicher Gräueltaten zeigen. Ist das nun lazy filmmaking oder eine neue Kunstform? Im Museum würden die erstarrten Figuren die Aufmerksamkeit des Betrachters für ungefähr 5 Minuten halten, im Kino auf 98 Minuten gedehnt ist die Qual groß.

Frankreich / Kambodscha 2021
98 min
Regie Rithy Panh

WETTBEWERB

THE LINE

3/5

Diesmal ist Margaret zu weit gegangen. Nachdem sie ihrer Mutter ins Gesicht geschlagen hat, wird sie zu einem mehrmonatigen Kontaktverbot verurteilt. Der 100-Meter-Bannkreis, von der kleinen Schwester Margarets mit blauer Farbe um das Haus der Mutter gemalt, ist die titelgebende Linie, die nicht überschritten werden darf. Doch der erzwungene Abstand lässt in Margart die Sehnsucht nach ihrer Familie nur wachsen.

Für die Eröffnungsszene, in der eine in Zeitlupe gefilmte Margaret vollkommen außer sich wie ein wildes Tier um sich schlägt und die Einrichtung des mütterlichen Wohnzimmers zerlegt, hat der Film 5 Sterne verdient. Nach und nach deckt Regisseurin Ursula Meier die Schichten der seelischen Grausamkeit auf. Mutter Christina entpuppt sich als egozentrisches Scheusal, labil und infantiler als ihre 12-jährige Tochter. Die Wut der ältesten Tochter Margaret kommt also nicht von ungefähr, doch fällt es schwer, Sympathien zu entwickeln. Denn sowohl die Mutter als auch ihre drei Töchter sind wenig liebenswerte Wesen.
Lustspiel oder Drama? „La ligne“ wechselt immer wieder die Stimmung und springt ohne Vorwarnung zwischen Komödie und Tragödie hin und her. Großartiger als der Film: Valeria Bruni Tedeschi und Stéphanie Blanchoud als in tiefer Hassliebe verbundenes Mutter-Tochter-Gespann.

Originaltitel „La ligne“
Schweiz / Frankreich / Belgien 2022
101 min
Regie Ursula Meier

BERLINALE SPECIAL GALA

GOOD LUCK TO YOU, LEO GRANDE

4/5

Peter Rühmkorf dichtete 1971 auf der legendären Kinderplatte Warum ist die Banane krumm?: „Licht aus, Licht aus, Mutter zieht sich nackend aus, Vater holt den Dicken raus, einmal rein, einmal raus, fertig ist der kleine Klaus.“ Das dürfte Nancy Stokes aus der Seele sprechen. Die Lehrerin im Ruhestand hatte mit ihrem mittlerweile verstorbenen Ehemann nur stinklangweiligen Blümchensex. Einen Orgasmus hatte sie dabei nie. Beziehungsweise hatte sie überhaupt noch nie einen. Das soll sich jetzt mithilfe des jungen Sexarbeiters Leo Grande ändern.

Manchmal kann der intellektuelle Kunst-Overkill der Berlinale auch anstrengend sein. Wie gut, dass sich in den Nebenprogrammen immer wieder Erfrischungen verstecken, die auch das etwas mainstreamigere Filmherz erfreuen. Sophie Hydes Film schafft mit Leichtigkeit, was Karoline Herfurth gerade mit ihrem Klischeefest „Wunderschön“ versucht hat: eine lockere, komische, berührende und gleichzeitig ernste Auseinandersetzung mit der eigenen Körperlichkeit und missverstandenem Beautywahn.

Applaus für die Darsteller: Daryl McCormack spielt den niedlichen Sexworker mit jeder Menge lässigem Charme und Emma Thompson (sowieso immer gut) präsentiert sich am Ende des Films selbstbewusst ganz ohne Filter full frontal. Ein durchweg befriedigender Film.

GB 2022
97 min
Regie Sophie Hyde

BERLINALE 2022 – TAG 1

BERLINALE 2022 – TAG 1

Dieses Jahr wird das Leben wild und gefährlich, denn die Berlinale findet wieder live in den Kinos statt. Die eigentlich geniale Aufteilung von digitalem Event für die Filmindustrie und Outdoor-Sommerfestspielen für das Publikum war eine einmalige Sache, nun heißt es: geimpft, geboostert, getestet plus Maske und halbe Besetzung: 2G+++.

Noch bevor es richtig losgeht, hat die Berlinale ihr erstes Skandälchen: Das neue System verlangt, auch Presse-Akkreditierte müssen sich vorher online Platzkarten sichern. Die Sitze im Kinosaal werden vom System per Zufall vergeben, und dass Computer nicht besonders schlau sind, ist bekannt. So kommt es, dass die hinteren Reihen A bis F gut gefüllt sind, während die restlichen 14 Reihen nach vorne komplett leer bleiben. Grotesk. Vor Beginn des Eröffnungsfilms erhebt sich plötzlich ein Zuschauer und ruft wutentbrannt: „This is crazy! Don’t let them treat you like this! Ignore the rules! Choose your own seat! There is nothing they can do if we all stick together. Let’s fight this!“ Außer einer jungen Frau, die Bravo rufend nach vorne stolpert, bewegt sich niemand von seinem Platz. Denn es droht der Saalverweis. Kein Thursday for Future. Aber recht hat der tapfere Demonstrant natürlich (scheinbar hatte er in Cannes schon einen ähnlichen Auftritt), leider bellt er den falschen Baum an. Vielleicht sollte er lieber bei der Festivalleitung zur Revolution aufrufen…

WETTBEWERB

PETER VON KANT

3.5/5

François Ozon liebt Rainer Werner Fassbinder. Nach der kongenialen Verfilmung des Fassbinder-Theaterstücks „Tropfen auf heiße Steine“ (2000) feiert nun sein Remake des 1972 entstandenen Films „Die bitteren Tränen der Petra von Kant“ Premiere in Berlin.

Peter von Kant, ein erfolgreicher Filmregisseur, ist ein echtes Scheusal. Seinen stummen Diener und Assistenten Karl behandelt er wie Dreck. Eines Tages lernt er den jungen Amir kennen. Peter verliebt sich unsterblich in den sexy 24-Jährigen. Er will Amir eine Karriere im Filmgeschäft ermöglichen, lädt ihn ein, bei sich zu wohnen. Neun Monate später ist aus dem schüchternen Jungen ein manipulativer, launischer Star geworden, der sich bald darauf von Peter trennt. 

Das lieb gewonnene Vorurteil, Eröffnungsfilme der Berlinale wären immer schlecht, wird dieses Jahr nicht bestätigt: „Peter von Kant“ ist ein echter Ozon – stilsicher, artifiziell und ungewöhnlich. Anders als in Fassbinders Film ist hier die Titelrolle männlich besetzt. Das beschert der Geschichte vom cholerischen Filmregisseur eine neue Ebene, denn Peter von Kant ist ganz offensichtlich dem echten Fassbinder nachempfunden. Die Titelrolle spielt Denis Ménochet, der bereits zweimal für Ozon vor der Kamera stand. Der Eröffnungsfilm ist ein etwas zu wortreiches (weniger euphemistisch: geschwätziges) aber ausgezeichnet gespieltes Kammerspiel.

Frankreich 2021
84 min
Regie François Ozon

WETTBEWERB

RIMINI

3/5

Rex Gildo und Werner Böhm können davon ein Lied singen: Wenn sich Schlagerstars nicht gerade totsaufen oder aus Badezimmerfenstern springen, dann enden sie entweder im Möbelmarkt oder am Ballermann. Nicht viel besser ist das Schicksal von Richie Bravo, der verdient sein Geld in Rimini.

Die besten Jahre liegen hinter ihm – das Jackett passt nur noch mit Mieder und sein Repertoire gibt er mittlerweile in Hotelhallen zum Besten. Doch Richie weiß, was Fans (und Frauen) wünschen: viel öligen Charme und noch mehr körperliche Zuwendung. Eines Tages steht seine erwachsene Tochter vor ihm und verlangt Geld, denn Papa hat sich seit 18 Jahren nicht gemeldet, geschweige denn Unterhalt gezahlt.

Was ist der Superlativ von deprimierend? Rimini im Winter. Eine Stimmung, die der österreichische Film von Ulrich Seidl perfekt einfängt. Trauriger Ort, trauriger Typ: Richie Bravo ist ein Wrack, er säuft und raucht Kette. Von den bemitleidenswerten Auftritten vor greisem Publikum wechselt die Geschichte immer wieder zu wenig erbaulichen Sexszenen mit Richie und älteren Damen. Fanservice der besonderen Art. Daneben erzählt der Regisseur die Geschichte von Richies dementem Vater, der in einem Pflegeheim dahinvegetiert und alte Nazilieder singt. Tragisch und lustig zugleich.

Österreich / Frankreich / Deutschland 2022
114 min
Regie Ulrich Seidl

BERLINALE SPECIAL GALA

INCREDIBLE BUT TRUE

2/5

Unglaublich, aber wahr: Im Keller von Maries und Alans Haus verbirgt sich etwas Rätselhaftes. Wenn man doch nur darüber reden könnte! Doch Marie will das Geheimnis für sich behalten, besonders vor Alans Chef. Der hat sich in Japan einen iPenis einpflanzen lassen. Klingt seltsam? Ist es auch.

In der Fernsehserie „Black Mirror“ würde Quentin Dupieuxs satirische Zeitreisegeschichte nur als mittelmäßige Folge durchgehen. Achtung, SPOILER: Im Keller des Hauses befindet sich eine Luke zu einem Schacht. Steigt man den hinab, landet man wieder im Obergeschoss des Hauses. So weit, so seltsam. Klettert man dann wieder zurück, so sind 12 Stunden vergangen, gleichzeitig ist man aber 3 Tage jünger geworden. Marie beschließt, die skalpellfreie Verjüngungskur umfassend zu nutzen.

Bleibt die Frage: Was soll das? Als Satire auf den Beautywahn ist der Film nicht scharf genug, als Fantasygeschichte zu lahm und als Komödie zu unlustig. Ein paar Szenen funktionieren –  besonders zu Beginn, als der Makler dem Paar das Haus präsentiert und in höchster Umständlichkeit das Kellergeheimnis erklären will. Doch je länger die Geschichte läuft, desto uninteressanter wird sie. Zum Schluss gibt es einen minutenlangen Zusammenschnitt, dialoglos auf Musik, fast so, als hätten die Macher nicht mehr gewusst, was sie mit dem restlichen Material anfangen sollen. Trotz seiner kurzen 74 Minuten ist das unglaubliche, aber wahre Geheimnis vor allem gegen Ende erstaunlich zäh.

Originaltitel „Incroyable mais vrai“
Frankreich / Belgien 2021
74 min
Regie Quentin Dupieux

PANORAMA

BEAUTIFUL BEINGS

4/5

Für den 14-jährigen Balli läuft es denkbar schlecht: Er lebt in einem runtergekommenen Haus bei seiner drogenabhängigen Mutter, ein Auge wurde ihm „versehentlich“ vom Stiefvater weggeschossen, in der Schule wird er regelmäßig gemobbt. Kein schönes Leben. Als Balli die gleichaltrigen Addi, Konni und Siggi kennenlernt, entwickelt sich langsam eine Freundschaft zwischen den vier Jungs.

Der Film des isländischen Regisseurs wirkt wie eine zeitgemäße Interpretation von „Stand By Me“. Nur um einiges rougher und näher an der Wirklichkeit. Der Kontrast könnte nicht größer sein: Zu Hause dominieren die Väter, allesamt Looser – vom Trinker bis zum brutalen Schläger ist alles dabei. Auf der anderen Seite steht die oft (typisch pubertär) Grenzen austestende Freundschaft zwischen den Jungs, die immer wieder überraschend zärtliche Momente hat.
Regisseur Guðmundsson ist ein bewegendes, in stimmungsvollen Bildern gedrehtes Coming-Of-Age-Drama geglückt mit vier tollen Newcomern.

Originaltitel „Berdreymi“
Island / Dänemark / Schweden / Niederlande / Tschechische Republik 2022
123 min
Regie Guðmundur Arnar Guðmundsson

PANORAMA

NOBODY'S HERO

3.5/5

In französischen Clermont-Ferrand verliebt sich der ungelenke Médéric in Isadora, eine 50-jährige Prostituierte. Als das Städtchen Schauplatz eines Terroranschlags wird, flüchtet sich der junge Obdachlose Selim in Médérics Gebäude und löst damit eine kollektive Paranoia unter den Hausbewohnern aus. Ist das der gesuchte Islamist? Médéric ist hin- und hergerissen zwischen seinem Mitgefühl für Selim und dem Wunsch, die Affäre mit Isadora fortzusetzen.
Figuren, Konstruktion und Stimmung erinnern an einen Roman von Michel Houellebecq. Eine Geschichte, wie aus dem Leben: so grotesk, dass sie sehr wahrscheinlich ist.

Originaltitel „Viens je t’emmène“
Frankreich 2022

100 min
Regie Aliaksei Paluyan

JE SUIS KARL

JE SUIS KARL

Genau so könnte es in nicht allzu ferner Zukunft kommen: Die junge Generation hat es gründlich satt und tut sich zusammen, um ein “neues Europa” zu gründen. Dass das scheinbar nur mit rechtspopulistischen Parolen geht, ist die Kehrseite der Medaille.

Maxi ist nach einem Terroranschlag, bei dem ihre Mutter und ihre beiden Brüder ums Leben kommen, traumatisiert. Als sie auf den gutaussehenden Karl trifft, ahnt sie noch nicht, mit wem sie sich da einlässt. Karl hat große Pläne, will ganz Europa verändern. “Was wäre für dich das Schlimmste?”, fragt sie ihn. “Sinnlos zu sterben”, antwortet er. “Und das Beste?” “Sinnvoll”. Maxi verliebt sich Hals über Kopf in den charismatischen Neonazi und folgt ihm blind auf seiner Tour durch Europa.

Das neue Unheil verbirgt sich hinter hübschen Gesichtern und ist im Social Network präsent.
Christian Schochow zeigt, wie die next generation der rechten Szene ihre Follower verführt: Konzerte, Influencer-Liveberichte, aufwiegelnde Reden und ein paar free T-Shirts unters Volk geschmissen. Baby-Hitler ist ein Rockstar.
“Je Suis Karl” erzählt eine interessante, doch ein bisschen zu gehetzt abgespulte Geschichte. Vor allem Maxis Radikalisierung findet im Zeitraffertempo statt. Der Stoff hätte locker für eine Miniserie gereicht. Gegen Ende sind Drehbuchautor Thomas Wendrich dann die Pferde durchgegangen – die Zufälle häufen sich, die Handlung wirkt zusehends konstruierter. Wirklich toll sind die Schauspieler: Jannis Niewöhner kauft man das manipulative Neonazi-Arschloch voll und ganz ab. Die Schweizerin Luna Wedler hat mit ihren 21 Jahren schon mehrfach mittelmäßige Filme aufgewertet. Und es ist schön, den unterschätzten Milan Peschel endlich mal nicht in einer Klamotte zu sehen.

INFOS ZUM FILM

Deutschland / Tschechische Republik 2021
126 min
Regie Christian Schwochow
Kinostart 16. September 2021

alle Bilder © Pandora Film

DER MENSCHLICHE FAKTOR

Fünf bis sechs Filme am Tag sind eben doch zu viel. Deshalb hier ein kleiner Berlinale-Nachklapp: der sehenswerte PANORAMA-Beitrag „Der menschliche Faktor“ von Ronny Trocker.
Jan und Nina leiten eine Werbeagentur in Hamburg. Die Geschäfte könnten besser laufen, deshalb nimmt Jan, ohne es mit seiner Frau abzusprechen, einen Neukunden an. Doppelt schlimm: Er missachtet nicht nur die „no politics“-Regel der Agentur, es handelt sich auch noch um eine populistische Partei – die AfD lässt grüßen. Nina ist sauer. Um die Wogen zu glätten, fahren die beiden mit ihren Kindern übers Wochenende in ihr Ferienhaus an der belgischen Küste. Doch mit der Erholung ist es schnell vorbei, als ein mysteriöser Einbruch das Familiengefüge empfindlich stört. Keiner kann eine genaue Täterbeschreibung geben – die Kinder haben nichts gesehen, Jan war einkaufen und Nina hat nur Schritte gehört.

„Der menschliche Faktor“ ist ein subtiler Psychothriller, der seine Figuren langsam in ein feines Netz aus Manipulation, wachsendem Misstrauen und subjektiver Wahrnehmung spinnt. Klingt verkopft, ist aber spannend. Der Einbruch wird aus verschiedenen ineinanderfließenden Perspektiven gezeigt. Was gerade noch klar schien, ist durch die Sicht eines anderen Familienmitglieds plötzlich wieder infrage gestellt. So behauptet der achtjährige Sohn Max, der Vater habe sich während des Vorfalls versteckt. Und die vagen Aussagen von Nina lassen bei der Polizei Zweifel aufkommen, ob es den Einbruch überhaupt gegeben hat.

Ronny Trocker ist ein fesselndes Familiendrama mit hervorragender Besetzung gelungen: Mark Waschke (immer gut) überzeugt als verunsichertes Alphatier Jan und die wunderbare Schweizerin Sabine Timoteo als Nina möchte man sowieso gerne öfters sehen. Falls sich auch irgendwer fragt: Woher kenne ich Sabine Timoteo noch mal? Die hat in der Andreas Steinhöfel-Romanverfilmung „Die Mitte der Welt“ die Mutter gespielt.

FAZIT

„Der menschliche Faktor“ feierte im Sommer 2020 seine Premiere beim Sundance Film Festival. Da es sich um eine Koproduktion des „Kleines Fernsehspiel“ handelt, stehen die Chancen gut, dass er demnächst im ZDF zu sehen sein wird. Wahrscheinlich um 23.30 Uhr – für einen 20.15 Uhr-Sendeplatz ist er einfach zu gut.

INFOS ZUM FILM

Deutschland / Italien / Dänemark 2021
102 min
Regie Ronny Trocker
Demnächst im Kino oder Fernsehen

alle Bilder © Klemens Hufnagl / zischlermann filmproduktion

FUTUR DREI

Parvis, der Sohn iranischer Einwanderer, lebt am Nabel der Provinz: Hildesheim, Niedersachsen. Er verbummelt sein Leben zwischen Tanzen gehen, jobben und anonymen Grindr-Dates (dem Gay-Equivalent zu Tinder). Als er in einem Flüchtlingsheim Sozialstunden ableisten muss, verliebt er sich in Amon, der mit seiner Schwester aus dem Iran geflüchtet ist. Die drei verbindet bald eine intensive Freundschaft und Beziehung.

Faraz Shariat, Jahrgang 1994, erzählt in seinem Regiedebut „Futur Drei“ von Heimat und Ausgrenzung. Obwohl Parvis’ Familie seit vielen Jahren in Deutschland lebt, hat sie sich nie wirklich integriert. Parvis dagegen fühlt sich deutsch und nicht als Iraner – ein interessanter Zwiespalt. 

Die ersten zwei Drittel des Films sind spannend und geben einen unklischeeigen Einblick in das Leben des jungen Schwulen. Gegen Ende hat der Regisseur beschlossen, dass es „künstlerisch“ werden muss. Die eher wahllos eingestreuten Vignetten hätten für sich genommen ambitionierte Kurzfilme ergeben, doch das zu gewollt Experimentelle fügt sich nicht in die bis dahin präzise und geradlinige Erzählung.

FAZIT

4 Sterne für die Story plus 2 Sterne für die künstlerische Ambition, geteilt durch zwei  = 3 Sterne für „Futur Drei“. No pun intended.

Deutschland 2020
92 min
Regie Faraz Shariat
Kinostart 24. September 2020