Spiders

SPIDERS

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SPIDERS

Die Gemeinschaft der Arachnophobiker attestiert: SPIDERS ist der furchterregendste Spinnenfilm seit Jahren.

Ab 21. November 2024 im Kino

Bei der Angst vor Spinnen greift die sogenannte „Preparedness-Theorie“, erklärt Prof. Dr. Markus Heinrichs, Dekan der Verhaltenswissenschaftlichen Fakultät Uni Freiburg. Diese besagt, dass der Mensch „evolutionsbedingt auf potenziell gefährliche Reize sofort mit Angst reagiert.“ Apropos Freiburg: Da gibt es die Geschichte von der Putzfrau, die in einem seit Jahren ungenutzten Zimmer die Vorhänge ausklopfen wollte. Plötzlich seilte sich eine „handtellergroße“ (Zitat) Spinne aus der Vorhangschiene ab und krabbelte in den Gummihandschuh der armen Frau. Dort biss sie kräftig zu, sodass eine dicke, rote Schwellung zurückblieb. Eine wahre Geschichte. Nur Arachnophobiker können nachvollziehen, welchen Horror eine solche Begegnung auslösen kann.

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Spinnen – für manche nützliche, elegante Geschöpfe, für andere der reinste Albtraum: leise, schnell und manchmal sogar giftig. Regisseur Sébastien Vaniček entfesselt den Horror in einem heruntergekommenen Wohnkomplex in einer Pariser Banlieue. Schmutzige Apartments, dunkle Kellergänge, viele Ecken und Schächte – da freut sich der Achtbeiner.

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Es ist wohl ein Gesetzt des Genres, dass es mit Spinnen allein nicht getan ist. Bald müssen sich die Viecher vertausendfachen, dann auf Kalbsgröße heranwachsen. Je größer, desto schrecklicher – so die Fehleinschätzung der Filmemacher. Dabei ist doch gerade der in Ritzen lauernde, lautlose Schrecken viel effektiver. Wenn nur wenigstens die jugendlichen Protagonisten leise wären. Doch im Gegenteil: Der Kleindealer und Sammler exotischer Tiere Kaleb streitet sich nahezu den ganzen Film hindurch mit seiner Schwester und seinen Kumpels. Dauergebrüll – immer alle gleichzeitig und durcheinander. Das mag zwar authentisch sein, stört aber beim Angsthaben.

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Effektiv ist SPIDERS trotzdem. Schon bald juckt es am ganzen Körper, ständig hat man das Gefühl, es krabble etwas den Nacken hoch. Ein unangenehmes Begleitsymptom, das auch Tage nach dem Film noch anhält. Die gute Nachricht: Arachnophobie ist behandelbar. Die schlechte: nur durch direkte Konfrontation mit dem Objekt des Horrors. Filme wie SPIDERS könnten bei der Therapie helfen.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Vermines“
Frankreich 2023
105 min
Regie Sébastien Vaniček

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alle Bilder © PLAION PICTURES

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ADIEU CHÉRIE - TRENNUNG AUF FRANZÖSISCH

ADIEU CHÉRIE – TRENNUNG AUF FRANZÖSISCH

ADIEU CHÉRIE - TRENNUNG AUF FRANZÖSISCH

ADIEU CHÉRIE – TRENNUNG AUF FRANZÖSISCH

Ein Hauch von SEX AND THE CITY weht durch Paris. Très charmant.

Ab 22. August 2024 im Kino

Es ist ständig zu heiß, der Job in der Redaktion langweilig, in der Ehe ist die Luft raus. Diane (Karin Viard) steckt mitten in einer heftigen Midlife-Crisis – oder sind es die Hormone?

In der putzigen französischen Komödie ADIEU CHÉRIE (im Original: „Nouveau Départ“ – Neubeginn) versucht eine Mittfünfzigerin, durch eine erfundene Affäre mit ihrem jüngeren Chef neue Leidenschaft in ihr Leben zu bringen. Zunächst klappt das hervorragend: Plötzlich darf sie statt über dröge Haushaltsgeräte Artikel über Sextoys schreiben, ihre Kolleginnen und Kollegen sehen sie mit neuen Augen und laden sie sogar in die beliebte WhatsApp-Partygruppe ein. Doch ihr Ehemann Alain (Franck Dubosc), ein Berufspianist, ist verständlicherweise wenig begeistert. Denn er liebt seine Frau über alles; die Krise ist nur einseitig.

ADIEU CHÉRIE – TRENNUNG AUF FRANZÖSISCH

Die Irrungen und Wirrungen der Ü-50-Jährigen kennt man glattgefiltert aus AND JUST LIKE THAT (der missglückten Fortsetzung zu SEX AND THE CITY). Das können die Franzosen besser. Natürlich ist ADIEU CHÉRIE in erster Linie eine Komödie, da müssen Dinge vereinfacht und übertrieben werden, trotzdem atmet Philippe Lefebvres Film genau die richtige Portion Realismus, die die Figuren und ihre Probleme nahbar macht.

ADIEU CHÉRIE – TRENNUNG AUF FRANZÖSISCH

Ein französisches Paar, die Kinder aus dem Haus, ein Spaziergang an der Seine, ein Gläschen Weißwein, ein Kinobesuch: ADIEU CHÉRIE wäre genau der passende Film dazu. Leichte französische Kost mit charmanter Besetzung – perfekt für einen lauen Sommerabend.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Nouveau Départ“
Frankreich 2022
100 min
Regie Philippe Lefebvre

ADIEU CHÉRIE – TRENNUNG AUF FRANZÖSISCH

alle Bilder © Happy Entertainment

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More than strangers

MORE THAN STRANGERS

More than strangers

MORE THAN STRANGERS

Kammerspiel auf kleinstem Raum: Fünf Fremde unterschiedlicher Nationalitäten in einem Auto unterwegs von Berlin nach Paris.

Ab 22. August 2024 im Kino

Wer zu Mauerzeiten von Westdeutschland nach Berlin wollte oder umgekehrt und finanziell eingeschränkt war, nutzte bevorzugt die Mitfahrt in einem Pkw mit Fremden. Dazu gab es (passenderweise) in einem U-Bahnhof die sogenannte „Mitfahrzentrale“, die Älteren erinnern sich. In meist schrottigen Autos saß man dann viele Stunden zu dritt auf die Rückbank gequetscht und hoffte, dass der Herr bald Abend werden ließe.

Diese besondere Reiseform ist dank Deutschlandticket und Billigfliegern zwar aus der Mode gekommen, aber sie existiert noch, vor allem als Konzept in der Filmwelt. Denn die Kombination aus Roadmovie und Kammerspiel ist für Drehbuchautoren und Regisseure zu verlockend.

More than strangers

In MORE THAN STRANGERS geht die Fahrt von Berlin nach Paris in einer – die Zeiten ändern sich – brandneuen Audi-Elektro-Limousine. Das Ziel der Reise ist dabei von untergeordneter Bedeutung. Wichtiger ist, wie sich unterwegs die Dynamik innerhalb einer bunt zusammengewürfelten Zwangsgemeinschaft entwickelt.

More than strangers

Hier treffen fünf Charaktere unterschiedlicher Nationalitäten aufeinander: Die Griechin Sophia (Smaragda Karydi) will weg von ihrem Mann, Julia (Julie Kiefer) hat Stress im Job. Der Fahrer Patrick (Cyril Gueï) soll das Auto nach Paris überführen und versucht, rechtzeitig bei seiner hochschwangeren Freundin zu sein. George (Léo Daudin) ist ein DJ auf der Flucht vor der Polizei, der entspannte Kiffer Chris (Samuel Schneider) versucht die Gruppe mit seiner Sozialkompetenz zusammenzuhalten. Im beengten Wageninneren prallen die unterschiedlichsten Bedürfnisse und Meinungen aufeinander. Kein Wunder, dass die Harmonie nicht lange hält. 

More than strangers

Das Interessanteste an Sylvie Michels zweitem Langfilm ist der Sprachmix der verschiedenen Nationen; die Konflikte und Missverständnisse der Protagonisten sind dagegen weniger aufregend oder allzu interessant. Dazu kommt ein anstrengender Soundtrack, der die Ohren quält – man wünscht sich, der Fahrer möge den Sender wechseln. So hat MORE THAN STRANGERS vor allem eins mit den Mitfahrgelegenheiten von früher gemein: Man ist froh, wenn die Reise endlich vorbei ist.

INFOS ZUM FILM

Deutschland / Griechenland 2023
100 min
Regie Sylvie Michel

More than strangers

alle Bilder © W-FILM

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ROSE – EINE UNVERGESSLICHE REISE NACH PARIS

ROSE – EINE UNVERGESSLICHE REISE NACH PARIS

Ab 28. September 2023 im Kino

Goodbye England’s Rose - Was eine schizophrene Dänin mit der verstorbenen Lady Di zu tun hat, verrät die herzerwärmende Dramödie ROSE.

„Wollen Sie mich ficken?“

„Ich würde Sie gerne erwürgen“

Inger (Sofie Gråbøl) trägt ihr Herz auf der Zunge. Sie kann nichts dafür, Inger ist schizophren. Nach Jahren in einer psychiatrischen Einrichtung geht die verschrobene Mittvierzigerin zusammen mit ihrer Schwester Ellen (Lene Maria Christensen) und deren Mann Vagn (Anders W. Berthelsen) auf eine sentimental journey nach Frankreich. Denn es gab mal ein Leben vor der Krankheit, da lebte Inger in Paris, war verliebt und glücklich. Doch der verheiratete Mann, mit dem sie eine Affäre hatte, brach nicht nur mit ihr, sondern ihr Herz gleich mit. Kurz darauf übernahmen die Stimmen in Ingers Kopf das Kommando.

Mit perfektem Timing inszenierte Dramödie

Eine Busreise mit einer geistig verwirrten Frau – gar nicht so einfach. Vor allem wenn sich unter den Mitreisenden ein echter Stinkstiefel befindet (überzeugt als verklemmter Spießer: Søren Malling). Aber die Mühe lohnt sich – denn der Roadtrip ist nicht nur eine Fahrt von A nach B, sondern auch eine Reise ins Innere, mit Auswirkungen auf das gesamte Familiengefüge.

ROSE – EINE UNVERGESSLICHE REISE NACH PARIS ist ein zärtlicher Blick auf das Leben einer Frau jenseits der Norm. Der deutsche Verleihtitel klingt zwar nach Lore-Roman, doch Niels Arden Oplevs Dramödie ist mit perfektem Timing inszeniert, beinah kitschfrei und oft überraschend komisch. Der Regisseur und Autor erzählt eine Geschichte aus seiner eigenen Familie, ROSE basiert auf dem Leben seiner Schwester. Dabei weiß er genau, wann es zu viel wird, wälzt keine Szene unnötig aus oder drückt künstlich auf die Tränendrüse. Dass der Film zudem gut aussieht (Kamera: Rasmus Videbæk) und einen wunderbar emotionalen Soundtrack (Henrik Skram) hat, macht ihn zu einem kleinen Juwel. Die Schauspieler sind sowieso toll, besonders Sofie Gråbøl, die die verwirrte Inger oscarwürdig überzeugend spielt.

Weil gerade Skandinavische Woche bei Framerate ist, gibt es morgen die Kritik zu einem weiteren Film aus dem Land mit der putzigen Sprache: SPEAK NO EVIL – ein düsterer, sehr empfehlenswerter Horrorfilm, ebenfalls aus Dänemark.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Rose“
Dänemark 2022
106 min
Regie Niels Arden Oplev 

alle Bilder © mindjazz pictures

VERLORENE ILLUSIONEN

VERLORENE ILLUSIONEN

Kinostart 22. Dezember 2022

Klassische Musik erklingt, Lucien (Benjamin Voison) liegt verträumt im Gras und schreibt Gedichte. Seine geheime Affäre mit einer adligen Dame löst Getuschel im Dorf aus. Vor Liebe blind, nimmt die Mäzenin ihren Toyboy mit nach Paris, um ihn dort in die Gesellschaft einzuführen. Skandal! Denn der junge Mann ist nicht von edlem Geblüt. So weit, so wenig aufregend. „Verlorene Illusionen“ schickt sich in der ersten halben Stunde an, ein typischer Kostümschinken zu werden. Denkt man. Doch wer mit dem Roman von Honoré de Balzac vertraut ist, weiß, da kommt noch mehr. Denn die zweihundert Jahre alte Geschichte ist hochaktuell.

Trolle und Fake News gab es schon im 19. Jahrhundert

In Paris lässt Lucien seine Ambitionen, einen Roman zu schreiben, rasch hinter sich. So ändern sich die Zeiten: Mit Journalismus kann man damals noch gutes und schnelles Geld verdienen. Aus dem Idealisten wird ein bestechlicher und wegen seiner spitzen Feder gefürchteter Schreiber. Die Mechanismen der Macht funktionieren 1821 wie heute: Profit, Schein und Fake News.

Dass es schon im 19. Jahrhundert Trolle gibt, ist eine von vielen lehrreichen Erkenntnissen der intelligenten Dramödie von Xavier Giannoli. Einer dieser bösartigen Meinungsmacher ist Singali. Der wird bei Theaterpremieren als analoger Influencer engagiert. Wie ein Dirigent weist er eine Schar gekaufter Zuschauer an, zu buhen oder begeistert zu klatschen. Statt faulem Obst kann es dann auch Blumen auf die Bühne regnen. Je nachdem, wer ihn bezahlt. Die Qualität der Aufführung spielt dabei keine Rolle.

Trotz einer Laufzeit von zweieinhalb Stunden beeindruckt „Verlorene Illusionen“ durch seine erzählerische Dichte, die von einem hochkarätigen Schauspielerensemble getragen wird. Man weiß gar nicht, wo man mit dem Loben anfangen soll. Vincent Lacoste als manipulativer, windiger Chefredakteur? Großartig. Oder Salomé Dewaels als die mit allen Wassern gewaschene Geliebte Luciens? Ebenso. Von Xavier Dolan in der Rolle eines ambivalenten Autors – Ist er Freund? Ist er Feind? – ganz zu schweigen. Allen voran aber Hauptdarsteller Benjamin Voisin, der zuletzt in François Ozons „Sommer 85“ beeindruckt hat. Man kann die Augen gar nicht von ihm nehmen. Der Spagat zwischen liebenswertem Jungen und unsympathischem Aufsteiger gelingt ihm mühelos. Fabuleux!

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Illusions perdues“
Frankreich 2022
150 min
Regie Xavier Giannoli

alle Bilder © CINEMIEN

MRS. HARRIS UND EIN KLEID VON DIOR

Kinostart 10. November 2022

von Anja Besch

Im London der späten 50er fristet die ältliche Kriegerwitwe Ada Harris mit verschiedenen Putzjobs ein bescheidenes Dasein, dessen einzige Ausschweifungen gelegentliche Pub-Besuche sind – bis sie eines Tages ausgerechnet durch die Haute-Couture-Robe einer Kundin aus ihrer pragmatischen Genügsamkeit gerissen wird. Dank eiserner Sparsamkeit und eines ebenso unverhofften Geldsegens läppert sich zwar die nötige Anschaffungssumme zusammen, doch noch befindet sich der Stoff, aus dem ihre Träume sind, im Atelier des großen Couturiers Christian Dior. Endlich in der Hauptstadt der Mode angekommen, schafft es Mrs. Harris nicht nur, ins Allerheiligste vorzudringen, sondern – um aus dem Nähkästchen zu spoilern – eine griesgrämige Direktrice, einen charmanten Grafen, ein existenzialistisches Pärchen und eigentlich tout Paris zu bezaubern.

Wem diese Geschichte vage bekannt vorkommt, der musste vielleicht 1982 die betuliche Fernsehadaption mit Inge Meysel ertragen. Vierzig Jahre später wird Anthony Fabians Kinoversion „Mrs. Harris und ein Kleid von Dior“ endlich Paul Gallicos Literaturklassiker gerecht. Buchstäblich old-fashioned, voller britischem Humor und berührend statt nur rührselig.

Kleider machen Leute und Leute machen Kleider gilt eben auch fürs Filmgeschäft – insbesondere den Cast: Die wunderbare (Oscar®- und BAFTA-nominierte) Lesley Manville in der Titelrolle schart höchstkarätige Co-Darsteller um sich wie Isabelle Huppert, Lambert Wilson oder Jason Isaacs sowie die Jungstars Alba Baptista und Lucas Bravo.

Wenn die Heizungen im Winter auf Sparflamme bleiben, wird es einem mit diesem Film wenigstens richtig warm ums Herz.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Mrs. Harris Goes to Paris“
Großbritannien / Ungarn 2021
116 min
Regie Anthony Fabian

alle Bilder © Universal Picture International Germany

IN DEN BESTEN HÄNDEN

Kinostart 21. April 2022

„Julie! JULIE!“ Raphaela fällt vor Wut aus ihrem Krankenhausbett. Die Comiczeichnerin hat sich bei einem Sturz den Ellbogen gebrochen, liegt nun in einer Pariser Notaufnahme und brüllt nach ihrer Freundin. Die beiden sind seit zehn Jahren ein Paar, doch in den letzten Monaten gab es viel Streit, ihre Beziehung scheint am Ende. Derweil tobt draußen auf den Straßen das Chaos. Bei einer Demonstration der Gelbwesten geht die Polizei mit äußerster Brutalität vor. Die diensthabenden Ärzte und Schwestern sind am Limit. Unterbesetzt, zu wenig Material und dann auch noch ein nicht abreißender Strom an Verletzten. Als der angeschossene LKW-Fahrer Yann zu Raphaela ins Zimmer verlegt wird, prallen Vorurteile und Wutbürgertum aufeinander.

Catherine Corsini legt den Finger in die Wunde und das soll bekanntermaßen wehtun. „In den besten Händen“, im Original passender La Fracture – erzählt nicht nur vom gebrochenen Ellbogen, sondern vom Bruch, der die Gesellschaft spaltet. Pflegenotstand, soziale Ungerechtigkeit, Klassen-Ressentiments –  Corsini packt brennende Themen in ihre Geschichte und scheut sich nicht, ihre Figuren ganz lebensecht, auch mal enervierend und unsympathisch sein zu lassen. Dabei wechselt sie gekonnt zwischen komödiantischem und dramatischem Ton.

Mit Valeria Bruni Tedeschi und Marina Foïs, sowie Aissatou Diallo Sagna, die auch im wirklichen Leben als Krankenschwester arbeitet, ist „In den besten Händen“ ein anstrengendes, aber berührendes Drama geworden. Der französische Film ist für 6 Césars nominiert und gewann bei den Filmfestspielen in Cannes 2021 die „Queer Palm“.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „La Fracture“
Frankreich 2021
98 min
Regie Catherine Corsini

alle Bilder © Alamode Film

HAUTE COUTURE

DIE SCHÖNHEIT DER GESTE

Kinostart 21. April 2022

Ein französischer Film mit der großartigen Nathalie Baye in der Hauptrolle, der hinter die Kulissen der Pariser Modewelt blickt – was kann da schon schief gehen, fragen Sie? Leider einiges. Drehbuchautoren aufgepasst, so konstruiert man zum Beispiel keine gute Geschichte: Esther leitet im Modehaus Dior ein Atelier für die Haute-Couture-Kollektion. Durch ihre Hände gleiten die erlesensten Stoffe, sie sorgt dafür, dass die Entwürfe der Designer als perfekt genähte Unikate auf dem Laufsteg gezeigt werden können. So weit, so interessant. Eines schönen Tages wird ihr in der Metro die Handtasche geklaut. Die Diebin ist Jade, ein Mädchen mit Migrationshintergrund. Da die junge Araberin ihre Tat zwar nicht bereut, aber von ihrer Komplizin auf einen guilt trip geschickt wird (Geld klauen ist ok, aber eine goldene Kette mit Davidstern – das geht gar nicht!), bringt sie die Tasche samt Inhalt der Bestohlenen zurück. Die ist darüber so empört, dass sie die Diebin in ein Restaurant einlädt (?) und ihr ein Praktikum in ihrer erlauchten Nähstube anbietet (??). Dort wird Jade von den Kolleginnen teils herzlich, teils mit Verachtung in Empfang genommen.

Muss noch erwähnt werden, dass sich Jade, obwohl sie nicht einmal weiß, was eine Stecknadel ist („Sind das die mit den Köpfen?“) als Wunderkind entpuppt, deren Hände wie geschaffen sind zum Nähen? Mal vom komplett unrealistischen Verhalten der Figuren abgesehen, benimmt sich die junge Frau in ihrer Ausbildungszeit dermaßen zickig und unverschämt, dass sie in der wahren Welt schon nach 2 Minuten des Hauses verwiesen worden wäre. Hier allerdings folgt eine neue Chance auf die nächste, bald versteht man gar nicht mehr, warum sich nach dem letzten großen Streit plötzlich alle schon wieder lieb haben.

Wie es der Drehbuchzufall so will, hat Esther ein gestörtes Verhältnis zu ihrer eigenen Tochter, während Jades Mutter seit Jahren depressiv zu Hause rumsitzt. Neben der Glucke-Küken-Annäherung geht es in erster Linie wieder mal um einen gebildeten (weißen) Mentor, der einen ungeschliffenen Rohdiamanten unter seine Fittiche nimmt.

Mit einem besseren Autoren und einem Regisseur mit einer klareren Vision hätte „Haute Couture“ ein wunderbarer Film werden können. Denn die Story und das Setting haben Potenzial, die Charaktere sind interessant, die Szenen, die die Herstellung der Edelroben zeigen, sind toll. Aber es gelingt nicht, den Figuren trotz der grandiosen Besetzung echtes Leben einzuhauchen. Dem Film mangelt es an Struktur, einzelne Handlungsfragmente wirken verloren, fügen sich nie zu einer harmonischen Geschichte zusammen. Und so schaffte es „Haute Couture“ über weite Strecken nicht, emotional zu berühren. Da nützt auch der wahllose Einsatz von Popsongs nichts. Schade drum.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Haute Couture – La Beauté du geste“
Frankreich 2021
101 min
Regie Sylvie Ohayon

alle Bilder © Happy Entertainment

WO IN PARIS DIE SONNE AUFGEHT

WO IN PARIS DIE SONNE AUFGEHT

Kinostart 07. April 2022

Oh lala, Paris – Stadt der Liebe: Eiffelturm, Champs-Élysées, Baguette und Rotwein. Dass Jacques Audiards Drama-Komödie mit diesen ausgelutschten Frankreich-Klischees nichts gemein hat, wird schon in der ersten Einstellung klar: Ein Flug über triste Fassaden – Paris kann auch anders: grau und anonym. „Les Olympiades“, so der Originaltitel, ist nach den im 13. Arrondissement erbauten Hochhäusern benannt.

Mittendrin: Vier Millennials und ihre Probleme mit der Liebe. Émilie ist zu schnell für diese Welt. Ihren Job im Callcenter verliert sie, weil sie ihre Zunge nicht im Zaum halten kann. Also braucht sie anderswoher Geld: Der Lehrer Camille zieht als Untermieter bei ihr ein. Jung, attraktiv und single, keine Überraschung, dass die beiden umgehend im Bett landen. Doch die kurze, stürmische Affäre ist nach ein paar Tagen schon wieder vorbei. Und dann ist da noch Nora: Die Jurastudentin hat das große Pech, dem Pornostar Amber Sweet zum Verwechseln ähnlich zu sehen. Das verleitet ihre Kommilitonen dazu, ihr obszöne Anträge zu machen. Nora findet ihre Doppelgängerin im Netz und verliebt sich in das selbstbewusste Cam-Girl.

Der in atmosphärischem Schwarz-Weiß gedrehte Film erinnert an eine zeitgemäße, sehr französische Version von Woody Allens „Manhattan“. Fast unglaublich, dass Regisseur Audiard schon 69 Jahre alt ist, so modern und frisch wirkt sein Film (was unter anderem an dem hervorragenden Elektroscore von Rone liegt).

„Wo in Paris die Sonne aufgeht“ ist eine raue, lebensnahe, großartige Komödie über die Liebes-Irrungen und Wirrungen junger Großstädter in all seinen Schattierungen. Cinquante nuances de Grey. Wer das fröhlich-bunte Paris aus den Reiseführern bevorzugt, sollte sich besser das Netflix-Klischeefest „Emily in Paris“ anschauen.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Les Olympiades“
Frankreich 2021
106 min
Regie Jacques Audiard

alle Bilder © Neue Visionen Filmverleih

EIFFEL IN LOVE

EIFFEL IN LOVE

Kleine Quizrunde für Senioren: Mit welchem Gebäude erlangte Gustave Eiffel im 19. Jahrhundert Weltruhm?

A) Kölner Dom
B) Berliner Fernsehturm
C) New Yorker Freiheitsstatue
D) Londoner Tower Bridge

Richtige Antwort: C. Neben der Erkenntnis, daß niemand Klugscheißer mag, ist das schon wieder eine geschlossene Wissenslücke. Eiffel hat Lady Liberty zwar nicht entworfen, sie aber dank ausgeklügelter Stahlkonstruktion auf Jahrhunderte standsicher gemacht.

Sein nächstes großes Ding ist der Tour Eiffel. 1889, pünktlich zur Pariser Weltausstellung, soll der 324 Meter hohe Turm fertig sein, um eigentlich zwei Jahre später wieder zurückgebaut zu werden. Streikende Bauarbeiter, Probleme mit der Finanzierung, wütende Anwohner – was wie der Bau des BER klingt, ist in Wahrheit die fast gescheiterte Geschichte eines der schönsten Architekturkunstwerke der Welt. Gustave Eiffel will die Weltbevölkerung ursprünglich mit seiner neugebauten Metro beeindrucken, erst die wiedererwachte Liebe zu einer Frau inspiriert ihn zu dem eleganten Phallus mitten in Paris. Weniger sexuell aufgeladen lässt sich in die Form des Eiffelturms auch ein großes A interpretieren, den Anfangsbuchstaben der Angebeteten Adrienne.

Regisseur Martin Bourboulon, sonst eher Spezialist für Komödien, erfindet mit „Eiffel in Love“ das Rad nicht neu: Ein bisschen erinnert das Liebesdrama an „Titanic“ – nur eben nicht zu Wasser, sondern an Land. Wirklichkeit und Fiktion decken sich auch hier nur teilweise: Als der 28-jährige Jungarchitekt in Bordeaux eine Brücke baut, haben Gustave und Adrienne tatsächlich eine leidenschaftliche Beziehung. Ob die Liebe zwischen den beiden allerdings Jahre später noch einmal erblüht und Monsieur Eiffel tatsächlich zum Turmbau inspiriert, ist eine unbewiesene Drehbuchidee.

Die Romanze ist mit Romain Duris und der aus „Sex Education“ bekannten Emma Mackey ausgezeichnet besetzt. Trotz der etwas konventionellen Erzählweise: „Eiffel in Love“ ist unterhaltsam, bildgewaltig und dazu noch romantisch, ohne in Kitsch abzudriften. Vive la France!

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Eiffel“
Frankreich 2021
109 min
Regie Martin Bourboulon
Kinostart 18. November 2021

alle Bilder © Constantin Film

DIE PERFEKTE EHEFRAU

DIE PERFEKTE EHEFRAU

„Eine gute Ehefrau erfüllt stets ihre täglichen Pflichten. Diese sind Kochen, Bügeln, Nähen, Hausarbeit und zwar immer in völliger Aufopferung und ohne sich zu beschweren.“ Nur einer von sieben Grundsätzen für die perfekte Ehefrau.

Während in Paris die Revolution auf den Straßen tobt, werden im provinziellen Elsass Ende der 60er-Jahre Großmutters Weisheiten gepredigt. In der Haushaltsschule Van der Beck ticken die Uhren noch im alten Takt. Nachdem der Leiter des Instituts an einem Kaninchenknochen erstickt ist, erfährt seine schockierte Frau Paulette, dass die Schule vor dem Ruin steht. Nur ihre Jugendliebe, der Banker Grundvald kann jetzt noch helfen. Paulette wird vor die Wahl gestellt: weiter so als brave Witwe – oder neues Glück wagen?

„Die perfekte Ehefrau“ ist eine französische Komödie, die leider nur in der ersten Hälfte für ein paar kleine Schmunzler taugt. An der Besetzung liegt es nicht: Juliette Binoche, Yolande Moreau, Noémie Lvovsky sowie eine Reihe bemerkenswerter Jungschauspielerinnen bemühen sich nach Kräften. Doch trotz der guten Darsteller büßt der Film schnell seinen Charme ein. Die wenig ausgearbeiteten Figuren geraten zu Karikaturen, der Humor wird alberner und platter. Perlende Klaviermusik, geflüsterte Liebesbekenntnisse und ein Hauch lesbischer Liebe zwischen den Schülerinnen – Regisseur Martin Provost bedient für seine Emanzipationskomödie biedere Klischees. Wenigstens passt der Look, ästhetisch erinnert „Die perfekte Ehefrau“ an staubiges 50er-Jahre-Kino.

FAZIT

Ganz nett, aber nie wirklich lustig oder bissig.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „La bonne épouse“
Frankreich / Belgien 2020
110 min
Regie Martin Provost 
Kinostart 05. August 2021

alle Bilder © One Film

AZNAVOUR BY CHARLES

AZNAVOUR BY CHARLES

Der absolute Albtraum für jeden Influencer: Jahrzehntelang Aufnahmen machen und dann sieht sie keiner. Bei heutigen Instagram-Stars wäre das nicht weiter tragisch, bilden sie doch entweder den schnöden Alltag ab, den man eh selbst erlebt, oder zeigen die immer gleichen Strand-, Body-, Party-, Food-Arrangements.

Ganz anders Charles Aznavour. Der armenisch-französische Schauspieler und Chansonnier hat wirklich was erlebt und war seiner Zeit weit voraus: Seit Ende der 1940er-Jahre führte er ein filmisches Tagebuch auf Schmalfilm und 16 mm. Der Legende nach bekam er seine erste Kamera von Édith Piaf geschenkt, deren Sekretär er damals war.

Aznavour entpuppt sich im Nachhinein nicht nur als fabelhafter Sänger und Schauspieler, sondern auch als talentierter Chronist. Beinahe hätte die Nachwelt von all dem nichts erfahren, denn bis kurz vor seinem Tod lagerten die Filmschätze in einer geheimen Kammer in Aznavours Haus. 2017 übergab er das bis dahin ungesichtete Material dem Filmemacher Marc di Domenico und gewährte ihm freie Hand.

Die über 40 Stunden gefilmtes Leben wurden geschnitten, mit Aznavours Musik und Auszügen aus seinen Memoiren unterlegt, gesprochen von Schauspieler Romain Duris. Das hat den Charme eines privaten Kinoabends, bei dem Opa von früher erzählt. Allerdings ein formidabler Opa mit einer aufregenden Vergangenheit.

Wie im wahren Leben hat der Blick zurück zwischendurch auch mal zähe Momente, vor allem wenn die Bilder zu artig aufs Wort geschnitten sind oder wenn sich der Begleittext in zu allgemeinen Lebensweisheiten ergeht.

Umso fesselnder sind die Bilder von unwiderruflich vergangenen Zeiten im Paris oder New York der 60er-Jahre und (natürlich) die sehr privaten Erinnerungen: Aznavour, ein Meister der Euphancolie (© Benedict Wells), analysiert seine Beziehungen zu den Frauen – den Weg vom ersten euphorischen Verliebtsein bis zum melancholischen Ende.

Aznavours Karriere war eine der beständigsten des 20. Jahrhunderts. Er stand in zahlreichen Filmen vor der Kamera, unter anderem für Truffaut und Schlöndorff. Bis heute verkaufte er fast 200 Millionen Platten und war Autor von über 1.000 Chansons. Sein letztes Konzert gab er 2018 in Japan, nur wenige Wochen vor seinem Tod.

FAZIT

„Aznavour by Charles“ – ein ungewöhnlich intimer Einblick in das Leben eines großen Entertainers.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Le regard de Charles“
Frankreich 2019
83 min
OmU
Regie Charles Aznavour und Marc di Domenico
Kinostart 17. Juni 2021

alle Bilder © Arsenal Filmverleih

GOTT, DU KANNST EIN ARSCH SEIN

Alles schnafte: Steffi ist 16, hat einen schnuckligen Freund, will demnächst ihre Ausbildung bei der Polizei beginnen. Doch dann erfährt sie, dass sie unheilbar an Krebs erkrankt ist und nur noch kurze Zeit zu leben hat. Bei solchen Nachrichten verschieben sich die Prioritäten. Eigentlich wollte sie auf der bevorstehenden Klassenfahrt nach Paris ihr erstes Mal erleben, aber die besorgten Eltern verbieten die Reise und drängen, besser gleich mit der Chemotherapie zu beginnen. Steffi weigert sich – die letzten Wochen ihres Lebens will sie selbst bestimmen und brennt kurzerhand mit dem coolen Zirkusjungen Steve durch. Bei ihrem tragikomischen Roadtrip nach Frankreich verlieben sich die beiden ineinander.

Boy meets girl, girl get’s sick, girl dies, boy is sad.
Keine neue Geschichte und seit „Love Story“ ein beliebtes Thema für Tearjerker-Filme. Der deutschen Produktion „Gott, Du kannst ein Arsch sein“ hätte es gutgetan, ein paar Kalendersprüche weniger ins Dialogbuch zu schreiben: „Der Weg ist das Ziel“ – wirklich? Ein seichter Mainstream-Pop-Soundtrack, der wie eine Dauerschleife aus dem Privatradio klingt, macht die Sache auch nicht erträglicher. Wenn dann noch Til Schweiger mitspielt, setzen instinktiv Fluchtreflexe ein. Ist so, kann man nix gegen machen. Auch Filme können ein Arsch sein.

Was die RTL-Produktion rettet, ist seine tolle weibliche Besetzung: Heike Makatsch als zwischen Trauer und Hoffnung hin- und her gerissener Mutter, Jasmin Gerat als herzenswarme Barfrau und vor allem Sinje Irslinger in der Hauptrolle – authentisch und mit jeder Menge Witz und Charme gibt sie dem Film die nötige Erdung und bewahrt „Gott, Du kannst ein Arsch sein“ davor, eine allzu glatte Teenie-Schmonzette zu werden.

Liest sich wie eine Bravo-Lovestory, doch Zynismus ist fehl am Platz: der Film basiert auf den Tagebucheinträgen der 15-jährigen Stefanie, die 296 Tage nach ihrer Krebs-Diagnose starb.

Deutschland 2020
97 min
Regie André Erkau
Kinostart 01. Oktober 2020

Weekly Update 03 – diesmal mit *unbezahlter Werbung

Im zweiten Stock übt das unbegabte Kind seit drei Stunden die Titelmelodie von „Der Herr der Ringe“ auf der Trompete. Wer wird heute zuerst einen Schreianfall bekommen, der Junge oder seine Mutter? Oben rollt die Psychologin Weinfässer durch die Wohnung. Das macht sie jeden Tag, oft bis 3 Uhr morgens. So laut, dass man kein Auge zu macht. „ZU“ ist übrigens das Un-Wort des Jahres. Alles ist zu, außer den Augen. Auch die Kinos sind weiterhin zu. Vielleicht muss Framerate bald „die 5 besten Science-Fiction-Filme auf Netflix“ oder kurz und knapp irgendwelche Serien besprechen. Bis es hoffentlich nie so weit ist, gibts erstmal weitere VoD Neuerscheinungen und Brot.

Brot? Ja KOMMA Brot! Das allerbeste Brot der Stadt kann man derzeit in „Die Weinerei“, einem charmanten Weinladen in der Veteranenstraße 17, Berlin-Mitte kaufen. Mehl, Salz, Hefe, Wasser und viel Liebe: Mehr Inhaltsstoffe braucht es nicht. Innen saftig weich, außen eine herrlich dunkle Kruste. Knurps, fünf Sterne! *

Zum Preis von etwas mehr als zwei Broten (9,99 €) kann man ab sofort den Berlinale Gewinner 2019 „Synonymes“ streamen und tut dabei auch noch Gutes: Grandfilm teilt den Gewinn 50/50 mit den wegen Corona geschlossenen Independent-Kinos, die bisher die Filme des Verleihers gezeigt haben. Und der bereits letzte Woche erwähnte Club Salzgeber erweitert ab 09. April sein Portfolio mit dem mexikanischen Film „This is not Berlin“. *

SYNONYMES

Schlechter kanns für Yoav kaum laufen: Die Wohnung, in der er unterkommen soll, ist komplett unmöbliert und leer. Weil es so kalt ist, nimmt er erst mal ein Bad. Kaum in der Wanne, werden ihm alle seine Sachen gestohlen. Tom Mercier spielt Yoav, einen unzufriedenen jungen Mann, der aus Tel Aviv nach Paris flieht, um dort ein neues Leben zu beginnen. Er will seine Wurzeln kappen, nichts soll ihn an seine Vergangenheit erinnern. Yoav weigert sich, auch nur ein einziges hebräisches Wort zu sprechen. Sein ständiger Begleiter ist ein französisches Wörterbuch. So kommuniziert er mit den verschiedenen Menschen, die seinen Weg kreuzen. Wie er mit seinem niedlich-debil-geilen Gesichtsausdruck, französische Vokabeln brabbelnd, durch die Straßen von Paris irrt, erinnert er fast ein bisschen an Trash-König Joey Heindle, der sich verlaufen hat. 

Ein Pluspunkt des Films ist sein trockener Humor. Nervig dagegen ist das unüberhörbare Rascheln der Drehbuchseiten. Das Verhalten der Figuren dient oft nur der Geschichte, wirkt dadurch artifiziell und zu gewollt. „Synonymes“ basiert auf den eigenen Erfahrungen von Autor und Regisseur Nadav Lapidist. Eine Aneinanderreihung von Momentaufnahmen, manche geglückt, manche weniger. 

FAZIT

Die Berlinale-Jury entschied, „Synonymes“ sei der beste Films des Festivals 2019 und verlieh ihm den Goldenen Bären.

Originaltitel „Synonyms“
Frankreich / Israel / Deutschland 2019
123 min
Regie Nadav Lapid 
Ab sofort als VoD auf Grandfilms für 9,99 €

THIS IS NOT BERLIN

Ein Junge mit langen Haaren steht verloren inmitten einer heftigen Massenschlägerei. Der Blick geht ins Leere, er fällt in Ohnmacht. 

Mexiko City, 1986. Ein Außenseiter in der Schule, zu Hause nervt seine in Depressionen versunkene Mutter: der 17-jährige Carlos gehört nirgendwo richtig dazu. Das mit dem in Ohnmacht fallen ist zwar uncool, dafür ist er am Lötkolben ein Held. Der kleine Daniel Düsentrieb bastelt in seiner Freizeit die verrücktesten Maschinen zusammen. Als er den Synthesizer einer Band repariert und damit deren Auftritt rettet, wird er zum Dank mit in den angesagten Klub „Azteca“ genommen. Während ganz Mexiko der WM entgegenfiebert, entdeckt Carlos dort zusammen mit seinem besten Freund Geza die Welt der Subkultur: Video-Art, Punk-Performance, sexuelle Ambivalenz und Drogen. 
Klingt wie ein gewöhnliches Abendprogramm im Berlin der 80er Jahre. But this is not Berlin, it’s Mexiko! Wer hätte gedacht, dass es da vor 35 Jahren genauso wild und künstlerisch aufregend zuging, wie in der damals noch geteilten Hauptstadt? Die Underground-Kultur der Zeit haben Regisseur Sama und sein Kameramann Altamirano perfekt wieder zum Leben erweckt. Sexuell freizügige Nacktkunst-Aktionen und Jeder-mit-jedem-Herumgeschlafe sind erfrischend offen und unverklemmt inszeniert.

„This is not Berlin“ mischt sehr viel – ein bisschen zu viel – schräge Kunst mit einer etwas generischen Coming-Of-Age-Story über einen Jungen, dem die Augen für eine neue Welt geöffnet werden. Am Ende verstolpert sich die Handlung zu sehr in Klischees von Eifersucht und betrogener Freundschaft, das hätte es gar nicht gebraucht. Bis dahin ist „This is not Berlin“ ein unkonventioneller Film über Selbstfindung, Freundschaft, Liebe und das Erwachsenwerden.

FAZIT

Interessante Zeitreise in die 80er – wurde bereits auf mehreren Festivals ausgezeichnet.

Originaltitel „Esto no es Berlín“
Mexiko 2019
109 min
Regie Hari Sama
Spanische OF mit deutschen UT
Ab 09. April als VoD auf Club Salzgeber für 4,90 €

ALS HITLER DAS ROSA KANINCHEN STAHL

Die fleißigste Regisseurin Deutschlands hat schon wieder eine Autobiografie verfilmt: Diesmal Judith Kerrs Kindheitserinnerungen „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“. Damit kommt nur ein Jahr nach „Der Junge muss an die frische Luft“ der nächste Film von Caroline Link zu Weihnachten in die Kinos.

Die neunjährige Anna Kemper muss 1933 mit ihrer Familie nach Zürich fliehen. Ihr Vater, ein berühmter Theaterkritiker (Oliver Masucci), ist der neuen nationalsozialistischen Regierung zu kritisch und als Jude ohnehin nicht mehr geduldet. Anna lässt in ihrer Heimatstadt Berlin alles zurück, auch ihr geliebtes rosa Stoffkaninchen. In der Fremde wartet ein neues Leben voller Herausforderungen auf die Familie.

Für Ausstattung und Besetzung hat die Regisseurin ein gewohnt gutes Händchen. Der Zeitkolorit Anfang der 30er Jahre in Berlin, der Schweiz und Paris ist gut eingefangen und vor allem die jungen Darsteller Riva Krymalowski und Marinus Hohmann als Geschwister Anna und Max machen ihre Sache ganz ausgezeichnet. 

Wieder liefert eine komplizierte Familiengeschichte die Vorlage. Caroline Link versucht mit viel Sinn für Tragik und Humor, die episodischen Geschehnisse einer Kindheit authentisch und wahrhaft zu inszenieren. In den Schweizer Bergen mit den pumperlgesunden, rotbackigen Einwohnern droht der Film allerdings in Heimatkitsch abzurutschen. Kamerafrau Bella Haben versucht, dem mit schnellen Zooms und Jumpcuts entgegenzuwirken, doch die moderne Bildsprache wirkt bemüht und stört den Erzählfluss. Das Drehbuch hangelt sich zu sehr an den Stationen der Flucht entlang. Trotz des echten Horrors des Naziregimes wird eine wirkliche Gefahr im Film immer nur behauptet und aus zweiter Hand berichtet. Es mag an der FSK-Freigabe von „0“ liegen, „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“ bleibt zu oberflächlich und wirkt trotz seiner lobenswert kurzen Laufzeit von nur 90 Minuten zäh und langatmig.

FAZIT

Ganz okay. Der nächste große Wurf ist Caroline Link nicht gelungen.

Deutschland / Schweiz 2019
90 min
Regie Caroline Link
Kinostart 25. Dezember 2019

EINSAM ZWEISAM

In Paris, nur wenige Schritte voneinander entfernt, leben die beiden Mittdreißiger Rémy (François Civil) und Mélanie (Ana Girardot) Tür an Tür, ohne etwas davon zu ahnen. Die zwei wären eigentlich das perfekte Paar, denn sie werden von ganz ähnlichen Problemen gequält: Er findet nachts keine Ruhe, sie ist immer müde. Gestörter Schlafrhythmus ist zwar zentrales Thema, doch zugleich nebensächlich – im Kern geht es in „Einsam Zweisam“ um zwei gebrochene, unglückliche Menschen und deren Versuch, ins Leben zurückzukehren.

Regisseur Cédric Klapisch („L’auberge espagnole“) erzählt in seinem liebenswert unaufgeregten Beziehungsdrama von unerfüllter Sehnsucht im Zeitalter der sozialen Medien. Die Wege von Rémy und Mélanie kreuzen sich im Laufe der Geschichte immer wieder – doch nichts geschieht. Einmal sitzen sie sogar ahnungslos in der U-Bahn direkt nebeneinander. Da möchte man fast eingreifen und dem Glück endlich auf die Sprünge helfen. Aber Klapisch hat keine Eile, nimmt sich viel Zeit, seine Charaktere auszuloten. Selbst in der Stadt der Liebe und im Zeitalter der unbegrenzten digitalen Möglichkeiten führt am Ende doch der Zufall zum Happy End.

FAZIT

„Einsam Zweisam“ ist ein melancholischer, entschleunigter Film mit zwei hervorragenden Hauptdarstellern.

Originaltitel „Deux Moi“
Frankreich / Belgien 2019
110 min
Regie Cédric Klapisch
Kinostart 19. Dezember 2019

NUREJEW – THE WHITE CROW

Paris, Anfang der 60er Jahre: Während des Kalten Krieges schickt die Sowjetunion ihre beste Tanzkompanie zu Propagandazwecken in den Westen. Das französische Publikum liebt vor allem den 23-jährigen Rudolf Nurejew. In seiner Freizeit streift der junge Tänzer durch die Museen und Jazz-Klubs der Stadt. Bald findet er Geschmack an der neuen Freiheit und beschließt, politisches Asyl zu beantragen.

„Nurejew – The White Crow“ erinnert an einen Tänzer, der das Rollenverständnis und die Choreografie des modernen Balletts revolutionierte. Rücksichtsloser Egoist, Genie, Choleriker – bisweilen ein richtiges Arschloch. Regisseur Ralph Fiennes zeigt auch die unschönen Seiten des 1993 an AIDS verstorbenen Künstlers. Der Film erzählt Nurejews Leben von der Geburt in der Transsibirischen Eisenbahn bis zu seiner Flucht im Juni 1961. 

In der Titelrolle brilliert angemessen unsympathisch ein Newcomer: Oleg Ivenko tanzt seit seinem 5. Lebensjahr professionell, macht also nicht nur als Schauspieler, sondern auch als Balletttänzer eine überzeugende Figur.

FAZIT

Vielschichtige Biografie – schön retro auf 16 mm gedreht.

Originaltitel „The White Crow“
GB / Frankreich / Serbien 2018
122 min
Regie Ralph Fiennes
Kinostart 26. September 2019

GLORIA – DAS LEBEN WARTET NICHT

Als sich Juliane Moore und Regisseur Sebastián Leila 2015 in Paris kennenlernen, ist es berufliche Liebe auf den ersten Blick. Sie versichert ihm, wie fantastisch sie seinen Film „Gloria“ findet (Berlinale Gewinner „Beste Hauptdarstellerin“ 2013) und er beteuert seine große Bewunderung für ihre Schauspielkunst. Die beiden beschließen, gemeinsam eine Neuversion von „Gloria“ zu machen.

Die zwei erwachsenen Kinder sind aus dem Haus und haben mit ihren eigenen Problemen zu kämpfen, der Job ist keine große Herausforderung. Gloria Bell (Julianne Moore) ist seit 12 Jahren geschieden und führt ein etwas einsames, aber glückliches Singledasein in Los Angeles. Um ein bisschen Spaß zu haben, taucht die attraktive Mittfünfzigerin in das Nachtleben von Los Angeles ab. In den Ü-40-Clubs kann sie zu 70er und 80er Jahre-Hits ausgelassen tanzen und lernt dabei nebenbei Männer kennen. Eines Abends trifft sie auf Arnold (John Turturro), einen Ex-Marine, ebenfalls geschieden. Die beiden beginnen eine leidenschaftliche Affäre.

Die Story in einem Satz: Das Porträt einer freigeistigen Frau, die sich in den falschen Kerl verliebt. „Gloria – Das Leben wartet nicht“ ist ein Film mit langem Titel und wenig Inhalt. In 102 Minuten passiert im Grunde nichts. Gloria ist nett, zu allen freundlich und hilfsbereit, während sich die egoistischen Männer um sie herum wie ungezogene Kleinkinder benehmen. Die Erkenntnis: Frauen sind die besseren Menschen, gütig, mild und weise. Amen. 

FAZIT

Der Film ist eine Liebeserklärung an Julianne Moore; die Schauspielerin beherrscht jede Szene, alles ist vollkommen auf sie fokussiert. Für so was werden Oscars vergeben. 

Originaltitel „Gloria Bell“
USA 2018
102 min
Regie Sebastián Lelio
Kinostart 22. August 2019

DAS ZWEITE LEBEN DES MONSIEUR ALAIN

Der Dieselskandal hat die Automobilbranche erschüttert, jetzt setzen die Hersteller auf Elektromobilität. Beim Genfer Autosalon soll das neue französische E-Auto LX2 vorgestellt werden. Manager Alain Wapler steht nach drei Jahren Entwicklungszeit unter Druck, im Konzern ist er ohnehin angezählt.

5 Uhr 50, der Radiowecker spielt die Börsennachrichten: Alains Arm fühlt sich seltsam taub an, im Büro geht sein Powernap nahtlos in eine Ohnmacht über und auf dem Weg zum nächsten Termin folgt plötzlich ein Gehirnschlag. So schnell kann’s gehen, der Workaholic mit dem übergroßen Ego ist außer Gefecht gesetzt. Sein Sprachzentrum ist schwer gestört, die Worte kommen nur noch drehvert aus dem Mund und mit dem Orientierungssinn steht es auch nicht zum besten.

„Das zweite Leben des Monsieur Alain“ basiert auf der Autobiografie des Ex-Airbus- und Peugeot-Konzernmanagers Christian Streiff. Dessen komisch-dramatischer Kampf zurück ins Leben und sein Versuch, das Herz seiner entfremdeten Tochter wiederzugewinnen, hätten für einen abendfüllenden Kinofilm ausgereicht. Aber zusätzlich wird in einer Parallelhandlung die zwar charmante, aber komplett überflüssige Liebes- und Adoptionsgeschichte der Logopädin Jeanne erzählt. Dann gibt’s noch einen „Ich bin dann mal weg“-Jakobsweg-Selbstfindungstrip auszuhalten, da wähnt man sich schon wieder in einem ganz anderen Film. Weniger wäre mehr. 

FAZIT

Gute Schauspieler, interessante Geschichte – stellenweise berührend und komisch – insgesamt aber zu unentschlossen umgesetzt. Vor allem im letzten Drittel zerfasert der Film komplett.

Originaltitel „Un homme pressé„
Frankreich 2018
100 min
Regie Hervé Mimran
Kinostart 22. August 2019

AUSGEFLOGEN

Ooooooh! Was Hundewelpen im Tierreich sind, ist „Ausgeflogen“ für Kinofilme. Weich, knuddelig und herzerwärmend. Héloïse ist geschieden, Mutter dreier Kinder und Besitzerin eines Restaurants. Die beiden Älteren sind aus dem Haus, nun ist die Jüngste kurz davor, zum Studium nach Kanada zu ziehen. Küken müssen das Nest verlassen – ein notwendiger Schritt, der bei Héloïse eine existenzielle Krise auslöst.

Ein wenig erinnert „Ausgeflogen“ an „Boyhood“. Wie in Linklaters Film geht es auch hier um Familiendynamik, Loslassen und Erwachsenwerden. Die Erzählung wechselt dabei mit Leichtigkeit zwischen zwei Zeitebenen: dem heutigen Paris und dreizehn Jahre in die Vergangenheit, kurz nach dem Scheitern von Héloïse‘ Ehe.

Regisseurin Lisa Azuelos hat schon mit „LOL“ (zunächst als französische, später als US-Version) eine ähnlich charismatische Komödie vorgelegt. Timing, Charakterzeichnung und Tempo sind perfekt, Hauptdarstellerin Sandrine Kiberlain ist als liebenswerte Mutter zugleich komisch und berührend. 

FAZIT

Es geht zwar im Grunde um nichts, aber dieses Nichts wird in angenehm kurzweiligen 87 Minuten sehr charmant beschrieben.

Originaltitel „Mon Bébé“
Frankreich 2019
87 min
Regie Lisa Azuelos 
Kinostart 18. Juli 2019

SPIDER-MAN: FAR FROM HOME

Zur Pressevorführung tritt eine Mitarbeiterin von Sony vors Publikum und bittet, „keinesfalls irgendwelche Spoiler zu veröffentlichen, damit jeder Zuschauer die Chance hat, den Film unvoreingenommen zu genießen.“ Das macht es nicht gerade leicht, eine halbwegs relevante Besprechung zu „Spider-Man: Far From Home“ zu schreiben, denn wo ist die Grenze? Schließlich knüpft der Film direkt an die Ereignisse von „Avengers: Endgame“ an. Wissen mittlerweile alle Zuschauer, dass 
ACHTUNG: SPOILER 
Iron Man, alias Tony Stark das Zeitliche gesegnet hat? Und dessen Zögling Peter Parker, nun alleingelassen, seinen Weg vom Teenager zum ausgewachsenen Superhelden finden muss?

Darf man wenigstens sagen, dass der neue Spider-Man-Film ein durchwachsenes Vergnügen ist?

Nach dem epischen und fabelhaften letzten Avengers-Film schaltet Marvel (verständlicherweise) ein paar Gänge zurück. Wie soll man das auch toppen? 

Spidey ist müde und urlaubsreif. Da trifft es sich gut, dass seine (finanziell offensichtlich sehr gut gestellte) Schule einen Ausflug plant: Venedig, Paris, London.
Während unsereins ins Schwarzwälder Luginsland und später mit viel Glück nach Prag (damals noch vom Tourismus unzerstört) reisen durfte, fliegen die feinen New York Kids von heute mal eben über den Atlantik in die Alte Welt. Das kennt man schon: Fällt den Autoren nichts Neues ein, wird die Handlung kurzerhand in ein exotisches Land oder – wie in diesem Fall – nach Europa verlegt. So entpuppt sich die Klassenreise auch als lahmer Drehbuchkniff, um dem Film durch neue Locations frisches Blut zu injizieren. Hilft nichts, schon der erste Kampf, kaum in Venedig angekommen, mit einem wenig beeindruckenden „Gezeiten“-Monster, ist in seiner Plastikhaftigkeit vergleichsweise unterwältigend. Aber ohne Avengers-level-große Bedrohungen geht’s halt nicht, denn Spiderman ist ein Marvel-Superheldenfilm und keine Coming-of-Age-Komödie.

Hinter den zerstörungswütigen Wasser-, Erd-, Feuer- und Luft-Monstren steckt natürlich ein Bösewicht, der nach Ruhm und Macht giert. Die Motivation des Schurken ist allerdings mehr als an den Haaren herbeigezogen und das Drehbuch entblödet sich nicht, ihn zwischendurch sein Anliegen und den ganzen Plot in einem langatmigen Monolog erklären zu lassen. Gutes Geschichtenerzählen sieht anders aus.

FAZIT

Zwiespältig. Der Aspekt der pubertären Verunsicherung und ersten Verliebtheit hat deutlich mehr Potenzial als die auf Dauer ermüdenden Actionszenen. Sehenswert machen den Film seine mitunter witzigen Dialoge und der Cast: Verlässlich wie immer gibt Samuel L. Jackson den knurrigen Nick Fury, als Neuzugang im MCU ist Jake Gyllenhaal dabei und der mittlerweile 23-jährige Tom Holland überzeugt immer noch als Teenage Spider-Man.

Originaltitel „Spider-Man: Far From Home“
USA 2019
129 min
Regie Jon Watts
Kinostart 04. Juli 2019

ZWISCHEN DEN ZEILEN

Macht das Internet dumm? Hören die Menschen bald ganz auf, Bücher zu lesen und starren nur noch zombifiziert in ihre Smartphones?

„Zwischen den Zeilen“ ist ein fein beobachtetes, hintergründiges Porträt des Pariser Literaturbetriebs. Es geht um verletzte Eitelkeiten, Affären und Geheimnisse, alte und neue Liebschaften, in allererster Linie aber um die vermeintlichen Gefahren der Digitalisierung. Im Kontrast zur virtuellen Welt, zeigt Olivier Assayas‘ Film hauptsächlich Menschen im Gespräch. Wobei „hauptsächlich“ noch untertrieben ist, denn es wird geredet und geredet, sehr viel geredet. Und wie das bei einer Diskussion so ist, manchmal ist sie lehrreich, bestenfalls hat sie Witz, zwischendurch kann sie aber auch anstrengend und penetrant werden. „Zwischen den Zeilen“ ist mit leichter Hand inszeniert und dank französischem Flair unterhaltsam anzusehen. Trotz Dauerlaberei.

FAZIT

Mit Juliette Binoche und Guillaume Canet ausgezeichnet besetzter, kluger Film.

Originaltitel „Doubles vies“
Frankreich 2019
107 min
Regie Olivier Assayas
Kinostart 06. Juni 2019

Varda par Agnès ● Elisa y Marcela ● Synonymes

Bester Platz im Berlinalekino am Potsdamer Platz: Reihe 17, Mitte rechts, viel Beinfreiheit.
Schlechtester Platz: Friedrichstadtpalast, egal wo. Folter.

Varda par Agnès (Varda by Agnès)

Spielfilmregisseurin, Dokumentarfilmerin, Fotografin, Künstlerin: Agnès Varda ist eine echte Lotte und wird oft als Schlüsselfigur des modernen Kinos bezeichnet. Dieses kurzweilige Portrait erlaubt tiefe Einblicke in ihr Schaffen und illustriert, wie sie zur Institution des französischen Kinos wurde. Von den analogen Zeiten der Nouvelle Vague bis zum digitalen Kino 2018 – die gebürtige Belgierin ist als Regisseurin schon seit 1954 im Geschäft. Varda par Agnès, die bewegenden Lebenserinnerungen einer faszinierenden und neugierig gebliebenen Frau, die sich immer mehr für andere als für sich selbst interessiert hat.

Frankreich 2018
115 min
Regie Agnès Varda 

Elisa y Marcela (Elisa und Marcela)

„Zärtliche Cousinen“ in schwarz-weiß. Die neue Netflix-Produktion Elisa y Marcela erregt gerade die Gemüter, weil der Streaming-Riese es mal wieder (nach „Roma“) gewagt hat, einen Kinofilm zu produzieren, der dann nicht im Kino läuft. Aber eben auf der Berlinale – und dann im Wettbewerb! Skandal!
„Mehrere Kinobetreiber haben den Ausschluss des Films aus dem Wettbewerb der Berlinale gefordert.“
(Tagesspiegel vom 11.02.2019)
Worum geht’s? Lesbische Liebe im erzkatholischen Spanien des angehenden 20. Jahrhunderts. Marcela (Greta Fernández) und Elisa (Natalia de Molina) feierten 1901 die erste gleichgeschlechtliche Heirat in Europa. Natürlich nicht einfach so als Braut und Braut – Marcela nahm die Identität eines Mannes an, um ihre Freundin zu heiraten. Auch dieser Film basiert auf einer wahren Geschichte.
Wenn Roma Kunst ist, dann ist Elisa y Marcela bestenfalls Kunsthandwerk. Die Bildkompositionen erinnern oft an kitschige Kalenderfotos. Und vieles, was ergreifend gemeint ist, wirkt unfreiwillig komisch. Das Pressepublikum kommentierte vor allem die softpornografischen Liebesszenen, bei denen ein toter Oktopus, Algen und natürlich die unvermeidliche, über den Körper rinnende Milch eine Rolle spielen, mit hämischem Gelächter. Bei all der Aufregung um Netflix vs. Kino hat es doch einen großen Vorteil, den Film online schauen zu können: Einfach vorspulen zur gelungeneren zweiten Hälfte von Elisa y Marcela.

Spanien 2018
113 min
Regie Isabel Coixet

Synonymes (Synonyme)

Dies ist die Geschichte eines jungen Israelis in Paris. Yoav will seine Wurzeln abschlagen, nichts soll mehr an seine Vergangenheit erinnern. Er weigert sich, auch nur ein einziges hebräisches Wort zu sprechen. Wie er mit seinem niedlich-debil-geilen Gesichtsausdruck, französische Vokabeln brabbelnd, durch die Straßen von Paris irrt, erinnert er fast ein bisschen an Joey Heindle, der den Weg zum Dschungeltelefon sucht. Synonymes ist einer der Filme, bei denen man sich zwischendurch fragt: Was genau soll das? Es ist mehr eine Aneinanderreihung von Begebenheiten, als ein strukturierter Film. Doch genau das hat einen schrägen Unterhaltungswert.

Frankreich / Israel / Deutschland 2019 
123 min
Regie Nadav Lapid

Colette

⭐️⭐️⭐️

Colette (Keira Knightley) heiratet den Lebemann Willy (Dominic West) und wird so aus ihrer beschaulichen Welt des ländlichen Frankreichs ins Pariser Großstadtleben katapultiert. Wegen finanzieller Schwierigkeiten, überredet der Schriftsteller seine Frau als Ghostwriterin für ihn zu arbeiten. Die von ihr verfassten semi-autobiografischen „Claudine“-Bücher feiern unter seinem Namen großen kommerziellen Erfolg, Colette und Willy steigen zum Powercouple der Pariser Künstlerszene auf.

Kanye West und Kim Kardeshian der Belle Époque – heutzutage wären die beiden wahrscheinlich Instagram-Stars. Das atmosphärisch dichte Biopic von Regisseur Westmorelands erzählt die Geschichte einer wehrhaften Frau in Zeiten des Umbruchs. Nebenbei entdeckt sie ihre lesbische Ader und stellt Geschlechterrollen infrage. Sie bricht mit alten Strukturen, wird zwischenzeitlich sogar Varietékünstlerin. Nach einer erfolgreichen Klage gegen ihren Ex-Mann erfährt sie noch zu Lebzeiten die verdiente Anerkennung.

Die echte Sidonie-Gabrielle Colette ist eine französische Legende, die nach ihrem Tod 1954 als erste Frau mit einem Staatsbegräbnis geehrt wurde.

FAZIT

Es beginnt wie ein typischer Keira Knightley-Film: schöne Bilder von jungen Damen in Korsetts. Dass sich die Geschichte dann aber ganz anders entwickelt, macht Colette zu einem ungewöhnlichen und überraschend zeitgemäßen Kostümfilm.

Wer mag, kann ein thematisches Double Feature genießen: Bald startet „Die Frau des Nobelpreisträgers“ in den Kinos – gleiches Thema, ganz anderer Film.

GB/USA, 2018
Regie Wash Westmoreland
111 min
Kinostart 03. Januar 2019