BERLINALE SUMMER SPECIAL – TEIL 1

BERLINALE SUMMER SPECIAL – TEIL 1

Die Berlinale in zwei Stufen:
Nach dem Industry Event im März geht es jetzt mit viel Sonne und niedrigen Inzidenzwerten in die zweite Runde:
Das Summer Special für das öffentliche Publikum findet vom 9. bis zum 20. Juni als Open Air-Veranstaltung in Berlin statt.

Heute Teil 1 mit dem Programm vom 09. bis 12. Juni

FORUM

ANMAßUNG

Eine echte ANMAßUNG: Großbuchstaben mit einem ß gemischt!

Stefan S., ein zurückhaltender, höflicher Mann, verziert in seiner Freizeit gerne Grußkarten mit zarter Fadenstickerei. Stefan S. ist außerdem ein brutaler Frauenmörder. Vier Jahre vor seiner Haftentlassung starten die beiden Filmemacher Wright und Kolbe eine Dokumentation über den Sexualstraftäter. Der lässt sich nur widerwillig auf den Film ein. Er möchte nicht erkannt werden. Also greifen Wright und Kolbe zu einem ungewöhnlichen Kunstgriff: Stefan S. wird von einer Kinderpuppe gespielt. Die creepy Puppenszenen sind nur ein Teil des Projekts, „Anmaßung“ rekonstruiert den Weg vom unscheinbaren Bürger zum Gewaltverbrecher.

Ein weiteres Feel-Bad-Movie auf der Berlinale. Obwohl das Thema hochgradig deprimierend ist: Man kann sich der unheimlichen Sogkraft der Geschichte nicht entziehen.

Deutschland 2021
111 min
Regie Chris Wright und Stefan Kolbe
Sommer-Berlinale ab 09. Juni

PANORAMA

GLÜCK

Alltag in einem Berliner Bordell. Im Stundenrhythmus müssen die Frauen mit Männern schlafen, zu zweit, zu dritt, ganz wie es der Kunde wünscht. Sascha arbeitet hier schon seit Jahren als Prostituierte. Der Umgang mit den Kolleginnen und der Chefin ist liebevoll entspannt. Als eine Neue anfängt, fühlt sich Sascha sofort von ihr angezogen. Maria ist Italienerin, tätowiert und unangepasst. Die beiden ungleichen Frauen verlieben sich ineinander.

Regisseurin Henrika Kull hat jahrelang in Bordellen recherchiert, das merkt man ihrem zarten Liebesfilm an. Ohne zu moralisieren, schafft „Glück“ eine Begegnung auf Augenhöhe mit den Sexarbeiterinnen. Prostitution wird als Job dargestellt, als Service, als eine Möglichkeit, Geld zu verdienen. Die „Arbeitsszenen“ wirken deshalb so glaubhaft und authentisch, weil sie bei laufendem Betrieb in einem echten Bordell gedreht wurden.

Englischer Titel “Bliss“
Deutschland 2021
90 min
Regie Henrika Kull
Sommer-Berlinale ab 09. Juni

PANORAMA

GENDERATION

Sind Sie ein Mann oder eine Frau? Ja.

Transsexualität verwirrt immer noch viele Menschen, Diskriminierung und Anfeindung sind die Folgen. 23 Jahre nach „Gendernauts“ besucht Monika Treut erneut die Protagonisten ihres vielfach preisgekrönten Dokumentarfilms. Der Zusammenhalt in der Trans-Gemeinde in San Francisco erodiert, white money hat die Stadt fest im Griff. Wohnraum ist kaum noch bezahlbar, wer nicht vorgesorgt hat, kann sich das Leben in der Bayarea nicht mehr leisten. Vier schlimme Jahre Trump-Regierung haben mehr Schaden verursacht als so manches Erdbeben. Gelder wurden gekürzt oder gestrichen, die Kulturszene kämpft ums Überleben.

Die 90er-Jahre sind noch gar nicht so lange her, und trotzdem hat sich die Welt seitdem von links auf rechts gedreht. Vieles ist glatter, professioneller, gleichzeitig unsolidarischer und kälter geworden. Monika Treut verklärt nicht, wird nicht unnötig nostalgisch. „Genderation“ ist ein freundschaftlicher Besuch im Leben der Frauen, die zu Männern wurden und der Männer, die zu Frauen wurden.

Deutschland 2021
88 min
Regie Monika Treut
Sommer-Berlinale ab 10. Juni

Toupierte Kurzhaarperücke, Ausnahmestimme und ein Tanzstil, den sich Mick Jagger bei ihr abgeschaut hat: Tina Turner – der Überstar der 1980er und 90er-Jahre. 

Klassisch, vielleicht etwas zu brav strukturiert, erzählt „Tina“ anhand von Archivaufnahmen und Interviews die außergewöhnliche Story vom Aufstieg Anna Mae Bullocks zum Weltstar mit bis heute über 180 Millionen verkauften Platten.

In der öffentlichen Wahrnehmung wird sie lange auf ihre Zeit mit Ike Turner reduziert. Kein Talkshow-Auftritt, bei dem sie nicht früher oder später nach ihrem gewalttätigen Ex-Mann befragt wird. 

Beste Entscheidung ihrer Karriere: Nach der Scheidung besteht sie darauf, den Künstlernamen „Tina Turner“ weiter führen zu dürfen. Mit bemerkenswerter Ehrlichkeit versucht sie zunächst in einem Interview mit dem People Magazine, später in einer Autobiografie (ein Bestseller) ihre Version der Geschichte darzulegen. Erst mit dem Einsetzen ihres großen Erfolgs als Solokünstlerin kann sie sich befreien. Sehenswerter Film über eine Frau, von der man schon alles zu wissen glaubte.

USA 2020
118 min
Regie Daniel Lindsay und T.J. Martin
Sommer-Berlinale ab 10. Juni

BERLINALE SPECIAL

COURAGE

„Courage“ erzählt vom Sommer 2020 während der Präsidentschaftswahlen in Weißrussland. Regisseur Aliaksei Paluyan begleitet die drei Schauspieler:innen Maryna, Pavel und Denis mit der Kamera. Familienmanagement, gemeinsame Theaterproben und der andauernde Kampf um das Recht auf Meinungsfreiheit und Demokratie bestimmen ihren Alltag. Belarus steht am Rande eines Bürgerkriegs. Immer wieder werden die friedlichen Massenproteste vom Sicherheitsapparat des Regimes brutal niedergeschlagen. Deprimierend, denn das Land ist kein weit entfernter Schurkenstaat, sondern Teil Europas. Erst vor Kurzem hat der belarussische Präsident Alexander Lukaschenko mit der erzwungenen Landung eines Flugzeugs der Welt gezeigt, was er von Demokratie hält – wenig bis gar nichts. 

Deutschland 2021
90 min
Regie Aliaksei Paluyan
Sommer-Berlinale ab 11. Juni

PERSPEKTIVE DEUTSCHES KINO

IN BEWEGUNG BLEIBEN

DDR, Januar 1988: Das Tanzstück „Keith“ von Birgit Scherzer (mit der Musik vom berühmten Köln Concert) wird an der Komischen Oper in Berlin uraufgeführt. Knapp ein Jahr später haben vier der sieben Tänzer mit der Choreografin die DDR verlassen.

Regisseur Salar Ghazi besucht für seinen Dokumentarfilm „In Bewegung bleiben“ die „Republikflüchtlinge“ 30 Jahre später. Die Erinnerungen an ihre Ausbildung, unterschnitten mit privaten VHS-Aufnahmen, geben einen interessanten und teils sentimentalen Einblick in das Lebensgefühl in Ostdeutschland vor der Wende.

Deutschland 2021
140 min
Regie Salar Ghazi
Sommer-Berlinale ab 12. Juni

DAS LÄUFT SONST NOCH VOM 09. BIS 12. JUNI

THE MAURITANIAN

Berlinale Special Gala

ALBATROS

Wettbewerb

INTRODUCTION

Wettbewerb - Silberner Bär: Bestes Drehbuch

DIE SAAT

Perspektive Deutsches Kino

MEMORY BOX

Wettbewerb

ICH BIN DEIN MENSCH

Wettbewerb - Silberner Bär Beste Hauptrolle Maren Eggert

UNA PELICULA DE POLICIAS

Wettbewerb - Silberner Bär Herausragende künstlerische Leistung

RENGETEG – MINDENHOL LÁTLAK

Wettbewerb - Silberner Bär Beste Nebenrolle Lilla Kizlinger

Vị

Encounters

INDUSTRY EVENT ZUM NACHLESEN

BERLINALE 2021 – TAG 2

Alles anders – diesmal gibt es (zum ersten Mal) keine einzige US-amerikanische Produktion im Wettbewerb. Dafür einen Film mit den Worten „Sau“ und „Porno“ im Titel, das ist Entschädigung genug.

WETTBEWERB

TERMÉSZETES FÉNY

Der ungarische Regisseur Dénes Nagy erzählt eine winterliche Geschichte aus dem Zweiten Weltkrieg. „Natural Light“ ist ein filmisches Gemälde, schlammfarben, fahl und stimmungsvoll. Ein Film über wortkarge Soldaten im Wald, die von einem moralischen Dilemma ins nächste geraten. Schwere Kost für die Sichtung am heimischen Computer, so was gehört ins dunkle Kino auf die große Leinwand. Meanwhile wächst die Sehnsucht nach leichter Unterhaltung.

Englischer Titel „Natural Light“
Ungarn / Lettland / Frankreich / Deutschland 2020
103 min
Regie Dénes Nagy

WETTBEWERB

BABARDEALĂ CU BUCLUC SAU PORNO BALAMUC

„Schlampe!“, die Empörungswelle der Eltern schlägt hoch. Ein Video, das eine junge Lehrerin beim Sex mit ihrem Ehemann zeigt, ist viral gegangen. Kein echter Skandal, eher eine private Peinlichkeit. Doch schon Dirty Harry wusste: Meinungen sind wie Arschlöcher, jedermann hat eins. Das trifft in einer von Social-Media verzerrten Welt umso mehr zu. Jeder kann alles sagen, posten und kommentieren, die nächste große Verschwörungstheorie lauert schon um die Ecke.
„Bad Luck Banging or Loony Porn“, so der englische Titel, zeichnet ein düsteres Bild von unserer modernen, übersexualisierten Gesellschaft.  In drei Kapiteln – deprimierend und lustig zugleich – hält Regisseur Jude seinen rumänischen Mitbürgern gnadenlos den Spiegel vors Gesicht.

Englischer Titel „Bad Luck Banging or Loony Porn“
Rumänien / Luxemburg / Kroatien / Tschechische Republik 2021
106 min
Regie Radu Jude

WETTBEWERB

ALBATROS

Étretat, eine malerische Gemeinde in der Normandie: Laurent (ausgezeichnet: Jérémie Renier) ist Vorgesetzter einer Polizeieinheit und hat täglich vom Versicherungsbetrug über Kindesmissbrauch bis zum Mopedfahren ohne Helm mit einem bunten Programm an Delikten zu tun. Als er einen verzweifelten Landwirt vom Selbstmord abhalten will, kommt es zur Katastrophe.

Gleich zu Beginn gibt es eine Szene, die als Omen für das Schicksal von Laurent gedeutet werden kann: Ein lebensmüder Mann springt vom Felsplateau und kracht in eine gerade am Strand stattfindende Fotosession. Gerade noch banale Normalität, die urplötzlich zerstört wird. So stark die erste Hälfte mit den Alltagsbeschreibungen der Polizisten, so einschläfernd die zweite. Nachdem die Tragödie geschehen ist, switcht der Film in eine seltsam melancholische „Der Mann und das Meer“-Studie, die in einem schalen Happy End ausfranst.

Englischer Titel „Drift Away“
Frankreich 2020
115 min
Regie Xavier Beauvois

WETTBEWERB

INTEURODEOKSYEON

Da setzt der erste Kopfschmerz ein: Der neue Film von Hong Sang-soo sieht aus, als wäre er auf U-Matic Lowband mit einer Kamera gedreht worden, bei der das Auflagemaß nicht richtig eingestellt ist. Zu sehen sind Koreaner, die viel rauchen – in Korea und an Berlins hässlichstem Ort, dem Potsdamer Platz. Ist schwarz/weiß und nur 66 Minuten lang – muss Kunst sein.

Englischer Titel „Introduction“
Republik Korea 2020
66 min
Regie Hong Sang-soo

ENCOUNTERS

THE SCARY OF SIXTY-FIRST

Über Verstorbene soll man nichts Schlechtes sagen – eine Empfehlung, die Regisseurin Dasha Nekrasova herzlich wenig juckt. Das Debüt der Podcast-Moderatorin ist eine Abrechnung mit dem Milliardär Jeffrey Epstein – und gleichzeitig eine Reminiszenz an die grobkörnigen Psycho-Horror-Filme der 1970er-Jahre. „The Scary of Sixty-First“ besticht durch seinen handgemachten (um nicht zu sagen amateurhaften) Independent-Look. Krude, wirr und trotzdem einigermaßen unterhaltsam.

USA 2020
81 min
Regie Dasha Nekrasova

PANORAMA

LE MONDE APRÈS NOUS

Die Welt nach uns – nein, das ist keine apokalyptische Zukunftsvision, sondern der Titel von Labidis Erstlingsroman. Als sich der bitterarme Jung-Schriftsteller in die niedliche Schauspielschülerin Elisa verliebt, träumt er von der großen Liebe. Sehr entspannt erzählt Louda Ben Salah-Cazanas in seinem Spielfilmdebüt von einer jungen Migranten-Generation in Frankreich, hin- und hergerissen zwischen dem Kampf ums banale Überleben und der großen Sehnsucht nach mehr. Lieben, leben, rauchen – très français.

Englischer Titel “ The World After Us“
Frankreich 2021
85 min
Regie Louda Ben Salah-Cazanas

PERSPEKTIVE DEUTSCHES KINO

DIE SAAT

Rainer ist Bauarbeiter und muss mit seiner Familie aufs Land ziehen, die Stadt ist zu teuer geworden. Seine 13-jährige Tochter Doreen lernt dort Mara kennen, die keinen guten Einfluss ausübt und ihre neue Freundin sogar zum Diebstahl verführt. Auch bei Rainer auf der Arbeit läuft es zunehmend  schlechter. Als sein neuer Vorgesetzter einen älteren Mitarbeiter feuert, brennen bei Rainer die Sicherungen durch. Eine Familie unter Druck: Hanno Koffler, Anna Blomeier und Dora Zygouri spielen die Kleinfamilie im zweiten Spielfilm von Mia Maariel Meyer. Das Drehbuch zu diesem intensiven und sehenswerten Familiendrama hat die Regisseurin gemeinsam mit Hauptdarsteller Hanno Koffler geschrieben.

Englischer Titel “ The Seed“
Deutschland 2021
100 min
Regie Mia Maariel Meyer